Freitag, 1. November 2013

Überwachung und Unterwerfung

Aus gegebenem Anlass habe ich dieser Tage noch einmal George Orwells Klassiker "1984" gelesen - mit großem Gewinn. Psychologisch hellsichtig und politologisch scharfzüngig analysiert er die Voraussetzungen von Macht und Unterdrückung, die Kriegsführung mit äußeren Gegnern um des Machterhalts nach innen willen und zeigt die Unterwerfung und ihre Folgen anhand des dissidentisch weil individuell fühlenden Winston Smith unter die Ansprüche der Partei.

Durch die angestrebte Kontrolle über Vergangenheit, Sprache, Alltag soll im Roman das gesamte Denken unter den Zugriff der Machthaber kommen. 

Die politisch initiierte Überwachung Orwells ist in unserer Realität einstweilen zweigeteilt: in mehr oder weniger legal datensammelnde Unternehmen, kamera- und internetgestützte Spielkonsolenhersteller und Soziale Netzwerke einerseits und in die allerlei Daten illegal zum "Schutz vor Terror" abgreifende bzw. das anderweitig Gesammelte nochmals bündelnde NSA usw. andererseits.
Beide zusammen erfüllen die Aufgabe der Orwellschen "Gedankenpolizei", die im Roman das bestehende System des „Großen Bruders“ und seiner Partei durch Überwachung zu erhalten hat.

Ob als Bürger, Konsumenten oder Spaziergänger im öffentlichen (städtischen) Raum – sehr passend für uns Heutige schien mir der folgende Textausschnitt über die "Parteimitglieder" Ozeaniens:

Botschaftsschule, Berlin
Ein Parteimitglied lebt von der Geburt bis zum Tod unter den Augen der Gedankenpolizei. Sogar wenn es allein ist, kann es nicht sicher sein, dass es wirklich allein ist. Wo es auch sein mag, ob es schläft oder wacht, arbeitet oder ausruht, im Bad oder im Bett liegt, es kann ohne Vorwarnung und ohne sein Wissen überwacht werden. Nachts, was es tut, ist gleichgültig. Seine Freundschaften, seine Zerstreuungen, sein Verhalten gegenüber Frau und Kindern, sein Gesichtsausdruck, wenn es allein ist, die Worte, die es im Schlaf murmelt, sogar seine typischen Körperbewegungen, alles wird misstrauisch geprüft. Nicht nur jedes tatsächliche Vergehen, sondern jede noch so kleine Exzentrizität, jede Änderung der Gewohnheiten, jede nervöse Manieriertheit, die möglicherweise das Symptom eines inneren Kampfes sein könnte, wird unweigerlich entdeckt.“1

Diese ständige Überwachung führt im Roman schließlich zur Einkerkerung und Folter des Protagonisten Smith. Nach seinem Zerbrechen durch den endgültigen Verrat an der geliebten Frau kommt die Neuformung der Partei zum Zuge.
Deren Höhepunkt bilden die letzten Sätze des Romans ab:

Er blickte zu dem gewaltigen Gesicht [des Großen Bruders] empor. Vierzig Jahre hatte er gebraucht, um herauszufinden, was für ein Lächeln sich unter dem dunklen Schnurrbart verbarg. O grausames, unnötiges Missverständnis! O störrische, eigensinnige Verbannung von der liebenden Brust! Zwei gingeschwängerte Tränen rollten ihm über die Nasenflügel. Aber jetzt war es gut, es war alles in Ordnung, der Kampf war zu Ende. Er hatte sich selbst überwunden. Er liebte den Großen Bruder.“2

Den Schritt von der Opposition zur Unterwerfung haben wir partiell bereits vollzogen – wir nutzen weiterhin Soziale Netzwerke, kaufen bequem im Internet ein, gehen nicht auf die Straße gegen die Überwachungspraxis der Geheimdienste. Was könnten wir auch ausrichten als kleinerer Bruder...?
Bleibt zu hoffen, dass unsere "Liebe" zu Größeren Brüdern nicht größer wird als das Streben nach Autonomie und Widerständigkeit.


1  G. Orwell, 1984. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 1991, 211.
2  Ebd., 299.