Montag, 15. Juni 2015

Alles Umrechnen in Sinn – Über Katja Petrowskajas "Vielleicht Esther"

Die Frage, ob Raum und Zeit in Sinn umzurechnen seien, schien mir zuerst ein wenig spekulativ. Aber dann habe ich das unglaubliche Buch "Vielleicht Esther" von Katja Petrowskaja gelesen. In dieser autobiographischen Spurensuche feiert das eigentlich vormoderne Denken, nach dem sich im Namen Sinn verbirgt, seine sprachlich-sinngefüllte Auferstehung.

Umrechenaufgabe 1. St. Clara, Neukölln, Berlin, 2015.
Denn schon anhand ihres Nachnamens stellt die Autorin eindrücklich unter Beweis, wie sie Sinn versteht: weil ihr Großvater während der Revolution den Namen Petrowskij angenommen hatte, heißt sie selbst nun ebenso nach dem griechischen Wort für Stein und nicht so, wie noch des Großvaters Bruder als "ein Stern unter Steinen"1 strahlte. Dieser Judas Stern nämlich prägte die deutsch-russische Geschichte durch sein Attentat auf einen deutschen Diplomaten im Moskau der frühen Dreißiger. Zu ihrem Vater meint sie darum:
"Judas und Stern, wer, Papa, denkt nicht gleich an den gelben Stern, wenn ich diesen Namen ausspreche? ... Nur wenige Jahre später, da war unser Held schon tot, wurde der Stern in den Ghettos am Ärmel getragen, ein vorzeitiger Gedanke, wie die Wehen deiner Mutter, Papa."2
Diese wiederum gebar ihren Sohn, den Vater der Autorin, wegen einer Hausdurchsuchung im Gefolge des Attentats früher.

Mit solcherlei Verknüpfungen von Sternen, Steinen und Wehen erweitert sich die Sinnwahrnehmung der Leser enorm (ohne den Bogen aber zu überspannen). Die Geschehnisse leuchten neu auf durch die Fäden, die Katja Petrowskaja mit ihrer assoziativen Sprache zieht. "Du machst aber kühne Vergleiche, sagte mein Vater."3

Das stimmt – und die Vergleiche und Sprachbilder machen den eigentlichen Reiz des Buches aus. Sprach- und Sinnspiele durchziehen es von Anfang bis Ende. In der Warschauer Ulica Ciepła (der warmen Straße) ist der Autorin dauerhaft kalt, die Kiewer Ulica Florenzii ihrer Kindheit steht auch für alles Italienische, so dass sogar Briefe in die nicht existente Ulica Venezii dorthin zugestellt werden. Auch bei ihren Recherchen in Kalisz, die sie an die familiären Ursprünge führen sollen, stößt sie auf die keltischen und slawischen Wortwurzeln des Ortsnamens, die "Quelle" und "Sumpf"bedeuten, was natürlich der Suche äußerst angemessen erscheint.

Umrechenaufgabe 2. Salinenmuseum,
Halle / Saale, 2014.
Ebenso wird die ständig präsente Leidensgeschichte des jüdischen Volkes auf diese Weise neu vermessen: "Im Jahr 1939, als der Krieg begann, lebte eine Million Menschen in Warschau, neununddreißig Prozent davon Juden. Ich bin jedesmal erstaunt, dass die Mörder und diejenigen, die des Mordes gedenken, immer genau wissen, wie man zählt, diese Neununddreißig verändert für mich alles. Bei neununddreißig geht es nicht mehr um wir und die anderen, sondern um dich und deinen Nachbarn, dachte ich, um jeden zweiten oder dritten, um dich und mich. Im Jahre neununddreißig neununddreißig Prozent."4

Ja, viele wissen, wie man zählt, sowohl die Mörder als auch die heutigen Erinnerer, aber was die Zahlen in einem Menschen auslösen können, der sich vor Augen führt, was dieses Vernichtungswerk bedeutet, das kann auch Katja Petrowskaja nur mit Bildern andeuten: "Wenn man wie in Berlin für jeden Menschen einen Stolperstein der Erinnerung in den Bürgersteig einlassen würde, wären die Gassen und Straßen von Warschau mit goldenen Steinen gepflastert."5

Bilder dieser Art sind ein Versuch, sich dem Unvorstellbaren emotional zu nähern, ein anderer sind die absurd erscheinende Frage nach der Umrechenbarkeit im Lager von Mauthausen: "Wenn ein Mensch um so viel größer wäre als ein Atom, wie die Sonne größer ist als ein Mench, was wäre dann die Mitte zwischen dem Tod eines Einzelnen und dem Tod von Millionen? Wäre es eine Zahl oder der Ort, an dem ich mich nun befinde?6

Die Umrechnung in Namen, in Orte, in Zahlen, in Sinn schüttelt die Faktenwelt sozusagen neu auf und rückt sie probeweise hinter ein anderes Vorzeichen. Im Versuch, das existenzielle Fragen nach dem Schicksal der Familie in der Ukraine, in Polen und Russland, in Deutschland und Österreich mit Gedanken und Sprache zu fassen, wird es zugleich ästhetisiert und gebannt. So gelesen, erscheint der Sinnüberschuss der Welt derart glasklar, dass jede Reduktion auf bloß rational-technisches Weltlesen lächerlich wirken muss.

Ganz im Sinne der Autorin bin ich gebannt vom Nachvollziehen dieser Bannversuche und sehe, wie im Schreiben aus der Unberechenbarkeit eine Umrechenbarkeit der Welt wird, die mir Mut macht.
Eine herzliche Leseempfehlung!

Umrechenaufgabe 3. Westend, Berlin, 2015.

1   K. Petrowskaja, Vielleicht Esther. Geschichten. Berlin 2014, 142.
2   Ebd., 157.
3   Ebd.
4   Ebd., 105.
5   Ebd.

6   Ebd., 268.