Donnerstag, 26. Mai 2016

Ich und Wir und all die Anderen - Katholikentagsimpressionen

Unbeabsichtigt hat sich in meine Erlebnisse beim Katholikentag in Leipzig ein Thema eingeschlichen: ich. Und wir. Und ER. Und schließlich alle.
Nicht nur, dass ich, mal mehr, mal weniger zufällig, viele alte Freunde, Bekannte und Weggefährten getroffen habe, die mich an meine verschiedenen Leben erinnerten und beim Weitergehen ermutigten.
Auch die Veranstaltungen, die ich besucht habe, gingen in diese Richtung. Einige Eindrücke. 

Alter Markt beim Katholikentag, Leipzig, 2016.
1
Sich selbst in der Meditation zu begegnen (Zentrierung) und darin in eine Ent-bindung von sich selbst (also Dezentrierung) zu gelangen, soll eben zur Tat, ins Leben - und eben wieder zu Anderen (Überzentrierung) führen.
Das Üben des Zen ist, genauso wie christliches Gebet, eben nicht nur Nabelschau und Konzentration aufs Innere, sondern weit mehr. 
Der Schweizer Jesuit Niklaus Brantschen, der zugleich Zen-Lehrer ist, stellte die Frage, was der Mensch sei, in ihrer Konkretheit für die einzelne Person: Wer bin ich? In seinem Vortrag "Zen - weil wir Menschen sind" wies er darauf hin, dass diese Übung des stillen Sitzens zur Achtsamkeit für die Gegenwart führen soll. Das Zentrieren und Sammeln ist aber nur der erste Schritt - es geht auch um das Dezentrieren und, wie Brantschen es nennt, Überzentrieren. Entgegen manchen Vorurteilen gegenüber Zen wird eben nicht die Innerlichkeit um ihrer selbst willen und als letztes Ziel angestrebt. Vielmehr nennt es Brantschen die Zen-Krankheit, wenn jemand in der Innerlichkeit stecken bleibt und nicht wieder auf den Marktplatz hinaus geht. Hier stehen sich das sozial orientierte Christentum und die kontemplative Praxis der Buddhisten äußerst nah.

Zelte und Menschen am
Wilhelm-Leuschner-Platz.
Leipzig, 2016.
2
Ähnlich, wenig überraschend, aber eben nicht von mir erwartet, das Statement von Altbischof Joachim Wanke bei der Gemeinsamen christlich-jüdischen Feier unter dem Thema "Was ist das Menschlein, dass du sein gedenkst" (Ps 8,5 in der Übersetzung Martin Bubers).
Die Ich-Verfallenheit, so Wanke in seiner Ansprache, definiert den Menschen eben nicht im Letzten. Denn nach dem Psalmisten stehen nicht Sünde und Schuld im Mittelpunkt des Blickes auf den Menschen, sondern seine Würde, wie sie auch das Grundgesetz voraussetzt. Die Bibel bietet sogar noch eine Begründung dieser in Psalm 8 ausgesagten Würdezuschreibung: Gottes barmherzige Zuwendung zum Menschen.
Auch hier also: der Rückzug aufs Eigene und die Reduktion auf das Ich reichen nicht aus, weder zum Selbstverständnis des Menschen, noch um ihn in Dialog mit anderen stellen zu können. 

3
So schließlich drückte es auch der Hauptzelebrant der zentralen Messfeier zum Hochfest Fronleichnam, Erzbischof Heiner Koch aus Berlin, am Vormittag auf dem Augustusplatz in seiner Predigt aus, als er mit Bezug auf das Motto des Katholikentages "Seht, da ist der Mensch" bestätigte: der Mensch mit seinem Hunger nach Mehr greift aus nach Gott. Noch nie habe ich eine Predigt gehört, die sich in so langen Passagen einladend an die Nichtgläubigen unter den potenziellen Zuhörern, hier die Leipziger, wandte.
Kochs sicher auch aus Berlin geschulte Zuwendung ruft in Erinnerung: Auch ein säkulares Ich sucht Erfüllung und kann sie finden in einer gelingenden Gemeinschaft, und wo wäre diese nicht auch zu finden, wenn nicht bei dem Gott selbst, der Mensch geworden ist. Seitdem heißt "Seht, da ist der Mensch" auch: " Seht, da ist Gott."

In diesem Sinne: Ich. Wir. Katholikentag. Alle. Gott. 

Neue Propsteikirche und Neues Rathaus. Leipzig, 2016.