Donnerstag, 30. Juni 2016

"Ich habe zu knien begonnen" – Ringen um den Glauben in "Gott braucht dich nicht"

Esther Maria Magnis erzählt ihre persönliche Geschichte mit und ohne und wieder mit Gott – und dabei wirft sie eine Unzahl philosophischer, existenzieller, theologischer Fragen auf, die sie in souverän eigener und eindringlicher Sprache präsentiert.
Kurz: ein Lesegenuss, der herausfordert und der, trotz mancher kleinen Längen, eine äußerst empfehlenswerte Lektüre für alle Glaubenden und mit Gott Ringenden ist. Formal handelt es sich dabei um einen Hybriden: neben essayistische Passagen treten Erinnerungen, neben Kommentaren zu grundsätzlichen Fragen stehen poetische oder romanhafte Passagen.

Alles Umschaufeln. Grünheide, 2016.
Die mittlerweile als studierte Religionswissenschaftlerin in Berlin lebende Autorin beschreibt zunächst die spießige Gläubigkeit rings um ihre Herkunftsfamilie, die in den deutschen Kirchen oft zu finden ist: viel Politik und viel Moral, viel musikalisches Pathos und in all dem wenig Gespür für den so unfassbar alles überragenden Gott.
Trotzdem scheint es, als würde sie schon als Kind und Jugendliche einen besonderen religiösen Sensus besitzen, der sie befähigt, wirklich zu beten.

Die Krebserkrankung und der Tod ihres Vaters wird für Magnis schließlich zum lebenserschütternden Bruch. Denn auf die Dauer hilft nichts gegen den nahenden Tod – kein Gebet, keine Behandlung, kein Hoffen, nichts.

"Ich hab es so sehr versucht. Ich hab's versucht, wie die aus der Bibel, ich hab versucht, nicht einer von den schlechten Zweiflern zu sein, ich hätte die Dächer abgedeckt und die Trage mit Papa hinuntergelassen, ich wär auf das Wasser gestiegen, ich hätte mich nicht umgewandt, ich wär auf dem Bauch durch die Menge gekrochen, nur sein Gewand zu berühren, ich wäre einem Stern gefolgt, ich hätte auf jeden bekackten Engel gehört, ich hätte das alles getan, ich wär bereit gewesen dazu, ich hab so gebetet, als hätt ich's schon empfangen, worum ich bat, und ich hab es wirklich geglaubt, das Gott ihn heilen kann. Und ER?"1

Gott tut nichts, er gibt kein Zeichen und zeigt nicht einmal, dass es ihn gibt. So erscheint es ja auch für den Großteil von Gläubigen und Ungläubigen auf dieser Welt.

Auf sein Schweigen hier aber folgt der Hass der Ich-Erzählerin:
"Ich habe ihm geschworen, dass ich nie wieder mit ihm sprechen werde, dass ich ihn den Rest meines Lebens hasse dafür.
Das Schlimme war ja, dass ich wusste, dass es ihn gab. Diese Gewissheit war ganz klar da, das gebot mir nach wie vor mein Intellekt. Also, was für ein Schwein ist das, das nicht mal meinen Glauben an seine Wunder will!"2

Damit ist die Autorin allerdings meilenweit von der religiösen Lebenswirklichkeit vieler Zeitgenossen entfernt. So viel Leidenschaft und Emotion steckt sicher in den wenigsten Menschen, die sich heute von Gott abwenden. Und dies hat vorrangig mit der religiösen Sozialisation in einer "konfessionsverbindenden" Ehe zu tun, die im Buch anschaulich geschildert wird.
Nichtsdestotrotz führt ihr Ekel vor der seichten Mainstreamkirche der 70er und 80er Jahre in Verbindung mit dem Gefühl des völligen Verlassenseins letztlich zum inneren Bruch. 

Verlassener Garten. Rostock, 2015.
Doch auch der kommt nicht unvermittelt – und mindestens in der Rückschau beweist die Autorin eine Fähigkeit zu scharfer Kritik an der gesellschaftlich akzeptierten Alternative: Kein Weiterleben nach dem Tod.
Die Kommentare Nichtgläubiger zu diesem Thema werden ihr zur intellektuellen Zumutung:
"Ich hielt das nicht aus. Dass solche Dinge als Weltanschauung gesagt wurden, mit intellektuellem Gestus, und nicht in totaler Verzweiflung. ... Wo war deren Traurigkeit? Warum wirkten die so souverän? Sie hatten keinen Grund dazu. Sie waren Wurmfutter, nach eigener Meinung. ... Diese Menschen können nicht glauben, was sie da sagen, dachte ich, und wenn doch, dann müssen sie eine Kraft haben, die übermenschlich ist, oder sie lieben niemanden, nicht einmal sich selbst, aber dafür lächelten sie zu viel."3

Die ratonal überegen wirkende Leichtfertigkeit, mit der solche Aussagen getroffen werden, stimmt nicht überein mit nichtreligiösen Lebensentwürfen. Denn die Drastik dieser Überzeugung führt sich niemand wirklich vor Augen. Diese Inkonsequenz dramatisch hervorzuheben und anzugreifen ist ein großes Verdienst dieses Buches.
Was Magnis schließlich zur wirklichen Abkehr von Gott hilft, ist ein radikaler Nihilismus, den sie zwar nicht auslebt, der sich aber über alles legt, was sie tut. In stark literarischer Qualität tritt dies hervor, als sie beschreibt, wie im Herbst eine häusliche Lethargie um sich greift: "Wir räumten das nicht auf. Es fror in diesem Winter so ein."4

Auslösendes Moment ist die Erfahrung von innerer Freiheit während einer stark alkoholisierten Karsamstagnacht im Wald. Gelöst fühlt sie sich und von allen Kämpfen befreit – der Atheismus erscheint ihr als ein Loslassen und völliges Aufgeben, so dass sie formuliert:
"Wir Menschen sind frei, weil wir nichts wiegen. Das wurde mir klar. Niemand kann mich zwingen, zu glauben, dass wir eine Würde haben. Sollen sie ihre Mythen den Kindern erzählen, ich glaube nicht an unseren Wert. Ich glaube nicht an den Wert dieser Welt. Sie wird vorbeigehen. Das sagen sie alle selbst."5
Magnis wächst so hinein in eine ideologie- und hoffnungsfreie Weltsicht, in der die Desillusionierung durch den Blick "in the long run" siegt, der von der großen Stille nach dem Ende ausgeht: "Kein Gedanke wird siegen, Gut und Böse sind mit uns verschwunden, und dann ist das Universum erlöst vom Stöhnen der Menschen, vom Atmen und Keuchen. Vom Wimmern und Lachen. Vom Lärm, der hier war. Es wird Stille sein. ... Und aus dieser meinungslosen Stille, die nach der Welt kommen wird, empfing ich damals in der Nacht diese neue Form der Freiheit."6

Diese Art von Freiheit lockert den Druck, nach Sinn zu suchen und in einer sinnvollen Welt leben zu wollen. Zugleich aber versteht die Autorin mehr und mehr, dass dies auch heißt, alles ohne Sinn selbst aushalten zu müssen. Darin erlebt sie "zum ersten Mal die Verzweiflung, dass man sich selbst nicht auslöschen kann. ... Dass man seine Existenz ertragen muss. Dass sie eine Aufgabe ist, ungefragt bekommen."7 Alles, was das Leben dann ausmacht, ist der Takt des Lebens selbst, ein Takt, der ebensowenig Sinn macht wie das Leben, der keinen Abschluss bringt, keine wirklichen Entscheidungen. Der nur Takt bleibt, "ein ewiger Takt, der einen nicht erlösen kann und immer über den Nullpunkt hinwegfährt, und je länger man dem Metronom zuhört, je deutlicher es klingt, umso länger und leerer wird die Stelle in der Mitte, wenn es über null schwingt".8

Feuer unter Wasser. Grünheide, 2016.
Sicher wird die Sensibilität für eine solch tiefe Leere im eigenen Inneren nicht immer gleich stark sein, sicher wird Alltagsgeräusch vieles übertönen, aber wer die Stille zulässt, wird dies in einem Leben ohne höheren Sinn sicher auch irgendwann wahrnehmen können.
Magnis' erfährt diese Stille ohne Anrede an ein transzendentes Gegenüber radikal – und begreift nach und nach, dass auch diese Stille noch von Gott unterfangen ist: "In mir mag es in den Jahren nach dieser Nacht im Wald geschwiegen haben, ... es mag so gewesen sein, dass keine Frage mehr jammerte, kein Hass mehr flüsterte – Gott muss noch leiser gewesen sein als das. Seine Macht muss in der Stille liegen. Sein Schweigen scheint mir unerbittlich gegen das Schweigen der Welt. Seine Stille ist gnadenlos gegen den Tod. Sie bringt das Nichts zum Bersten."9


Ich glaube, dass dies eine entscheidende Erfahrung in unserer säkularisierten Welt sein kann – dass keine Wut gegen Gott und kein aggressives Abwenden von ihm da ist, sondern nur Vergessensein der göttlichen Wirklichkeit. Und dass Gott genau darin wieder wirken kann.
Magnis erlebt einen cartesianischen Moment von neuem Ich-Bewusstsein: sanft und langsam bauen sich die Welt und ihr Ich neu auf, weil sie bemerkt, dass sie wirklich da ist: "Wer beginnt, 'Ich' zu sagen, der hat die unsichtbare Welt schon betreten, weil wir alle keine Beweise für uns haben. Weil wir uns alle still und heimlich darauf verlassen, wirklich zu sein. Weil wir im Respekt vor diesem unabweisbaren Geheimnis unserer Existenz sogar von einer Würde sprechen. Sichtbar ist die nicht. Es ist eine Annahme. Ein Glaube."10

Aus solcher lichten Tiefe beginnt ihr Durst nach Wirklichkeit und Wahrheit. Hier beginnt Gott als ein Neuer aufzutauchen. Nicht mehr der Gott eines Kindes, der Gott einer ethisch korrekten Kirche mit ihrer von diesem Gott existenziell weitgehend abgekoppelten Rede von weltweiter Gerechtigkeit – sondern es ist der stille Ernst eines Gottes, von dem nur aus mystischer Erfahrung voller Verlust und Nichts heraus gesprochen werden kann.

Das findet Magnis schließlich wieder in den biblischen Schriften. Hiob und Jesus, der ungebändigte Gott der Wüstenerfahrungen, ein Gott, vor dem nur Knien wirklich angemessen ist. Und der selbst voller Welt ist, als er in Jesus Mensch wurde. Die Bekenntnisse, die sich an diesen Stellen finden, sind ergreifend und geben Mut, mit dem ungewaschenen und flirrenden Gottesbild der Bibel und des Christentums ernst zu machen:
"Jede Religion, die Blut an den Händen hatte, und das nicht verdrängte, schein mir vertrauenswürdig. Denn mich interessierte keine blanke Idee, ich wollte die Wirklichkeit – mit Gott. Und überall, wo der Mensch versucht, mit dem Heiligen umzugehen, kann er nur scheitern. Dieses Buch hier, das ich schreibe, ist voll von Müll und halbfertigen Gedanken – und das, obwohl ich es wage, von Gott zu erzählen. Sobald der Mensch die Verantwortung für etwas Großes in die Hand bekommt, baut er Mist. Vielleicht bin ich deswegen heute katholisch. Ich liebe die Gründungsgeschichte: Petrus bekommt das Amt von Gott, und das Erste, was er macht, ist – Scheiße bauen, ihn verleugnen, und das wird bis heute erzählt. Das wurde nicht rausgestrichen aus der Bibel."11

Man sieht: ein hartes Buch, ein Buch, das versucht, der Welt und dem Leben auf den Grund zu gehen – um dann wieder aufzutauchen. Ein Buch auch mit pathetischem Ernst, aber insgesamt voll Lockerheit und zugleich mit einer ehrlichen Sprache, die versucht, Gott als den Fels, an dem man sich ein Leben lang abarbeiten muss, nicht kleinzureden.
Von all dem zeugt auch mein Lieblingssatz, der vieles von dem Gesagten zusammenfasst: 

"Ich habe zu knien begonnen."12

Mit Gott allein. Bank am Seddiner See, 2016.


1   E.M. Magnis, Gott braucht dich nicht. Eine Bekehrung. Reinbek bei Hamburg 2014, 106.
2   Ebd., 108.
3   Ebd., 120.
4   Ebd., 137.
5   Ebd., 157.
6   Ebd., 158.
7   Ebd., 164.
8   Ebd., 170.
9   Ebd., 173.
10   Ebd., 182.
11   Ebd., 204.
12   Ebd., 196.