Mittwoch, 27. Juli 2016

"Das sind Dinge, die ich rette!" Andere Logiken in "Die Kindheit Jesu" von J.M. Coetzee

Eines der anregendsten und spannendsten Bücher der letzten Jahre ist das!
Dank der Sprachkraft des Nobelpreisträgers J. M. Coetzee wird man bei der Lektüre in eine Geschichte voller Dramatik und existenzieller Fragestellungen gezogen, die das eigene Denken anregt und Erhellendes über Jesus und sein Selbstbewusstsein andeutet.
Zugleich bleibt die Erzählform seltsam nüchtern und gegenüber den eigenen Charakteren ambivalent. Augenscheinlich liegt Coetzee daran, eine gewisse Distanz aufrecht zu erhalten, wodurch das über die konkreten Begebenheiten hinausführende Nachdenken angeregt wird.

Worum geht es? Ein Mann und ein Junge gelangen durch Todesgefahren hindurch mit dem Schiff in ein neues Land, in dem andere Regeln zu gelten scheinen als sie es bisher gewohnt waren - eine klassische Flüchtlingserfahrung.
Es ist dies ein Land des Neuanfangs, in dem, wie es mehrfach heißt, "die Vergangenheit weggewaschen" ist. Doch der Mann und das Kind scheinen dort nicht hinzupassen. Mit ihren hochphilosophischen bis religiösen Fragen stoßen sie gegen Mauern des Verstehens derer, die dort zwar ebenfalls nur gestrandet sind, sich aber mit der neuen Lebensweise arrangiert haben.

Abgeschnittenes Wachstum. Rixdorf, Berlin, 2016.
Je mehr der Mann und das Kind eintauchen in den Alltag dieser neuen Welt, desto stärker tritt, für jeden einzeln und für beide zusammen, die Distanz zu den schon Anwesenden hervor – in der Volkshochschule werden keine weiteren Sprachkurse als das allgegenwärtige Spanisch angeboten, es gibt stets Obst und kein Fleisch, der Mann findet keine sinnvollere Arbeit, als immer nur Korn von Schiffen zu Fuß in übervolle Speicher zu entladen.
In einer Diskussion auf dem Amt kommt das zum Ausdruck: "Wir haben die ganze Zeit Hunger. Sie sagen mir, unser Hunger sei etwas Befremdliches, das wir mitgebracht haben und das nicht hierher gehört, dass wir ihn aushungern müssen. Wenn wir unseren Hunger vernichtet haben, haben wir bewiesen, dass wir uns anpassen können, sagen Sie, und wir können dann für immer glücklich sein. Aber ich will den Hungerhund nicht aushungern! Ich will ihn füttern! Du nicht auch?"1
Den inneren Hunger zuzulassen und dann zu stillen, ist eine andere Annäherung an das Leben als sich des Hungers entledigen zu wollen. Hier zeigt sich die Sehnsucht nach einer Ernsthaftigkeit, die im korrekt organisierten, aber blutarm bleibenden Neuland auf der Strecke bleibt.

An anderer Stelle bringt der Mann es auf den Punkt: "Die Dinge haben hier nicht ihr wahres Gewicht. ... Der Nahrung, die wir essen, unserer traurigen Brotdiät, fehlt Substanz – fehlt das Gehaltvolle von tierischem Fleisch, mit all dem Ernst des Blutvergießens und des Opferns dahinter."2
Was aber der Welt Gewicht verleiht, ist das Sich-Einlassen auf die Höhen und Tiefen des Menschseins. Während die Volkshochschulkurse nur über das Stuhlsein des Stuhles philosophieren und damit in akademisch abgehobenen Abstraktionen schwelgen, wünscht sich der Mann mehr.

Er lebt in einer anderen Logik, die Welt anzuschauen. Und das kennzeichnet auch den Jungen, der nicht sein Sohn ist, sondern nach seiner Mutter sucht. Hier beginnen die Parallelen zum Leben Jesu – ein Ziehvater und eine Frau, die Mutter sein soll, ohne dass sie ihn im üblichen sexuellen Sinne empfangen hat. Auf solchen Ebenen führt der Roman die beiden Protagonisten immer wieder auf biblische Spuren.

Als sie eine Frau treffen, in der der Mann des Jungen Mutter zu erkennen glaubt, nimmt sie, Inés ("die Erwählte"), sich des Jungen an. Er, der den Namen David erhalten hat, wird zur Schule geschickt, wo seine außergewöhnliche Art zunächst verblüfft und im Verlauf für immer größeren Ärger sorgt. Sein Verhältnis zu Zahlen ist ein eher emotionales, er jongliert mit erfundenen Wörtern und als einziges lesenswertes Buch dient ihm der Don Quichotte. 
In diesem Ritter von der traurigen Gestalt scheint er sein eigenes Schicksal zu erkennen. Wo der Ritter ungeheure Riesen sieht, kann seine Umwelt nur Windmühlen entdecken – wo der Junge die Abgründe zwischen den Zahlen überbrücken möchte, sieht sein Lehrer nur die Abneigung gegen das Lernen.

Neue Kombinationen.
Kleistpark, Schöneberg, Berlin, 2015.
Der Junge lebt in einer kindlichen Logik des Umsonst, die keiner um ihn herum zu teilen vermag: wer Hunger hat, geht in den Laden – woher die Lebensmittel dorthin kommen sollen, wenn sie nicht für Geld gekauft werden, ist ihm egal. Gleiches bei der Lohnauszahlung: wer Geld will, bekommt vom Zahlmeister, so viel er will – eine Anspielung auf das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, die so ungleich-gleich bezahlt werden (vgl. Mt 20,1-16).

Vor dieser Logik nun kapituliert selbst der Mann. Warnend weist er ihn auf zu erwartende Ablehnung hin, wenn er sich nicht an die anderen Kinder anpasst und will auch Inés hindern, dass sie dem Jungen beibringt, "sich als höheres Wesen zu betrachten. Andere Kinder werden sich gegen ihn zusammenrotten."3
Erschwerend kommt hinzu, dass der Junge Zauberkünstler oder Rettungsschwimmer werden will, verwandeln und retten sieht er als sein Ziel – die Anklänge an Jesus werden überdeutlich. Als der Mann in einer Kiste ein Sammelsurium an Fundstücken von der Straße (vgl. Mt 22,9) entdeckt und ihn dazu bewegen will, es fortzuwerfen, wehrt der sich gegen die Einschätzung seiner Schätze als Gerümpel: "Das sind Dinge, die ich rette."4 – für ihn haben sie individuellen Wert: "Er sagt, die alten Dinge tun ihm leid."5 Die Zuwendung Jesu zu den Zerbrochenen, die für den Großteil seiner Zeitgenossen nur als Reste der Gesellschaft wahrnehmbar sind, steht wohl im Hintergrund solcher Sätze, die eine Art "Restspiritualität" beweisen: "Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken." (Mt 9,12)

Dem eigensinnigen Widerstand des Jungen gegen die Konventionen will der Mann durch Relativierung entgegentreten: "Wir möchten gern glauben, dass wir etwas Besonderes sind, mein Junge, jeder von uns. Aber genau genommen kann das nicht sein. Wenn wir alle etwas Besonderes wären, würde nichts Besonderes übrig bleiben. Doch wir glauben weiter an uns."6

Aber diese Belehrung hilft nichts – und ist an dieser Stelle ja auch ganz fehl am Platze.
Es geht nämlich tatächlich etwas Besonderes von dem Jungen aus, das keine der handelnden Figuren genau bestimmen kann und das doch so klar hervortritt, dass es evident ist.
Wäre das nicht auch eine geeignete Anfangsdefinition für den religiösen Glaubensprozess?

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass "Die Kindheit Jesu" eine faszinierende Lektüre war, die zwar nie eindeutige Zuschreibungen zulässt, aber immer wieder Spielräume für religiöses Denken öffnet. Wäre nicht der Titel, müsste niemand es so lesen – mit dem Titel aber drängen sich viele der oben referierten Assoziationen nur so auf.

Neues säen. Berlin-Moabit, 2016.
1   J.M. Coetzee, Die Kindheit Jesu. Frankfurt a.M. 2013, 44.
2   Ebd., 86.
3   Ebd. 241.
4   Ebd., 214.
5   Ebd., 215.
6   Ebd., 67.