Samstag, 19. August 2017

Der Jesus des Koran – Barmherzigkeit, Diener, Wort

Die Frau im Evangelium des Sonntags (Mt 15,21-28) gehört eindeutig einer fremden Religion an. Das hindert sie aber nicht, sich bittend an Jesus zu wenden. Auf diese Weise drückt sie die enorme Bedeutung aus, die sie ihm zuspricht.
Das Evangelium macht mit dieser Episode nicht nur den Lernprozess Jesu deutlich, denn dieser wendet sich der Frau nach anfänglicher Ablehnung doch noch zu, sondern es zeigt auch die Attraktivität Jesu für Menschen außerhalb des engen Kreises derer, die sich explizit zu ihm bekennen.

Auch wenn die Terrorattacken dieser Tage etwas anderes zu insinuieren scheinen – das gilt besonders für den Islam: Wahrscheinlich gibt es "keine andere Religion neben dem Christentum, die in den normativen Grundlagen ihres eigenen Glaubens eine so tiefe Wertschätzung von Person und Werk Jesu von Nazaret vorfindet wie der Islam."1
Aus diesem Grund möchte ich den Evangelientext zum Anlass nehmen, um, angeleitet von Klaus von Stoschs Überlegungen, einige Blicke aus koranischer Perspektive auf Jesus zu werfen. Da ich selbst kein tiefer Kenner der Materie bin, halte ich mich an seine Ausführungen in "Herausforderung Islam. Christliche Annäherungen."2

Welcher Retter bitte?
Sowjetisches Ehrenmal,
Treptower Park, Berlin, 2017.
Wichtig ist, dass es beim Blick auf den koranischen Jesus nicht um die Suche nach einer Art interreligiösen Konsenses in christologischen Fragen gehen kann, sondern um das Anerkennen der Verschiedenheit der Standpunkte. Denn unstrittig dürfte sein, dass Koran und Neues Testament erhebliche Unterschiede im Jesusbild aufweisen. Es geht also "darum zu sondieren, ob diese bleibend verschiedenen Perspektiven als Bereicherung füreinander entdeckt werden können, ob also wechselseitige Lernprozesse eintreten können, ohne die Unterschiede zwischen beiden Religionen zu nivellieren."3
Genau diese interreligiösen Lernprozesse sind erklärtes Ziel der Komparativen Theologie, zu dessen Hauptvertretern in Deutschland von Stosch zählt.

Jesu Bild ist im Koran einigen Schwankungen unterworfen, weshalb von Stosch eine diachrone Schau vorschlägt, in der eine spätere kritische Sicht des Korans auf Jesus nicht von Beginn an als Schatten auf anderen, positiveren Bemerkungen liegt.

Die mittelmekkanischen Suren (um 615-618), zu denen auch die Sure Maryam (Sure 19) zählt, haben keine ausgewachsene Theologie von Jesus, benennen ihn aber mit verschiedenen bemerkenswerten Titeln, die für christliche Ohren zwar fremd, aber nicht falsch klingen.
Gott / ein Engel sagt in Sure 19 über Jesus: "Wir machen ihn zu einem Zeichen für die Menschen und zu Unserer Barmherzigkeit, und dies ist eine beschlossene Sache." (Q 19,21)
Das hebt Jesus schon einmal deutlich hervor und stellt ihn in die Nähe des im Koran am meisten gebrauchten Attributs Gottes – Barmherzigkeit.
Etwas später spricht Jesus dann selbst und bezeichnet sich dabei als "Diener Allahs" (Q 19,30). Damit wird nach von Stosch auf die Gottesknechtslieder des Jesaja (Jes 52,13-53,12) angespielt. Zwar wird Dienersein in der muslimischen Anthropologie von allen Menschen erwartet. Darum zeigt die Aussage vom Dienersein "Jesus als paradigmatischen Menschen ... Allerdings wird nur Jesus im Koran so eingeführt, dass er von sich sagt, er sei der Diener Gottes und damit der Gottesknecht."4
Dieser christologische Hoheitstitel wird vom Koran jedoch nicht in der christlichen und biblischen Weise interpretiert, dass also der hier "naheliegende Gedanke des stellvertretenden Sühneleidens mit dem Titel verbunden wird."5
Vielmehr bleibt es bei einer Akzentuierung Jesu als maßgeblicher und Gott nahe stehender Person, ohne dass die spezifisch christliche Deutung seitens des Koran eingebracht wird.

Gleich im Anschluss aber gibt es einen Einschub, in dem klargestellt wird, dass Gott keinen Sohn haben kann: "Es geziemt Allah nicht, Sich einen Sohn zu nehmen. Gepriesen sei Er!" (Q 19,35)
Von Stosch weist darauf hin, dass hier "Missverständnisse paganer Araber"6 im Fokus stehen, die zu jener Zeit noch Maria und Jesus als Götter in der Kaaba verehrten. Der Unterschied zu diesen liegt im Wortgebrauch, der zeigt, dass Jesus nach koranischer wie christlicher Auffassung eben kein von Gott geschlechtlich gezeugter Sohn (walad) wäre (wie anscheinend die damaligen paganen Gruppen glaubten), sondern der "Sohn von..." (ibn), ein Wort, das auf intime Nähe und eine tiefe Beziehung zu jemandem hinweist.7
Auch der in den synoptischen Evangelien bezeugte Jesus wehrte bestimmte Unterstellungen und religiöse Vorstellungen konsequent ab. Klar gestellt wird im Koran aber zugleich, dass Jesus unter Gott steht. 

Viel Offenheit nach oben.
S-Bahnhof Schöneweide, Berlin, 2016.
Wer das noch zu schwammig findet, sei darauf hingewiesen, dass der Koran in den späteren, medinensischen Suren noch weiter geht – in der Hochachtung vor Jesus wie auch in der Abgrenzung von bestimmten Vorstellungen.
In der Sure Al Imran (Sure 3) wird Jesus "als Wort Gottes verkündigt und erstmals wird sein Name Christus und damit der Messiastitel verwendet."8
Außerdem wird wiederholt, dass Jesus Gott im Dieseits und im Jenseits nahestehen werde. Nach von Stosch liegt es nahe, "aus dieser besonderen Vertrautheit und Nähe Jesu zu Gott auch den Grund abzuleiten, warum er als Wort Gottes bezeichnet wird. Denn diese Kennzeichnung finden wir ebenfalls im Koran für keinen anderen Propheten".9
Von Stosch sieht in der Sure, die auch Jesu Wunder und seine Himmelfahrt berichtet und betont, dass Jesus "im Blick auf seine Erschaffung dem Adam gleicht" vor allem "den Wunsch nach Ausbildung eines monotheistischen Common Sense, der die Hingabe an den einen Gott in den Mittelpunkt stellt, dabei aber unterschiedliche Wege zu ihm erlaubt und in diesem Kontext Ambiguitätstoleranz im Rahmen des gemeinsamen monotheistischen Glaubens einübt."10

Das Augenmerk von Stoschs ist oft auf die unpolemischen Stellen gerichtet. Gleichzeitig werden im Koran aber immer wieder Grenzen gesetzt, wenn von Jesus die Rede ist – höchste Würdigung und Kritik an christlichen Vorstellungen stehen oft nebeneinander. So auch in der Sure An-Nisaa (Sure 4), wo es an die Christen gerichtet heißt: "O Leute der Schrift, übertreibt es nicht in eurem Glauben und sagt von Allah nichts als die Wahrheit. Wahrlich, der Messias, Jesus, Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Allahs und Sein Wort, das Er Maria entboten hat, und von Seinem Geist." (Q 4,171)

In solchen auch kritischen Passagen erkennt von Stosch dementsprechend eher "eine Kritik an übertriebenen Zuspitzungen"11 oder an sektiererisch-häretischen Auswüchsen, die heutige Christen oftmals gar nicht mehr treffen. Oder aber es kann eine heilsame Kritik an Frömmigkeit und Theologie sein, die Jesus und Gott vorschnell auf eine Stufe stellen und
Diesen Ausführungen muss man im Einzelnen nicht immer vollständig folgen, aber das Ausloten neuer Spielräume "durch eine differenzierte Relecture der islamischen wie der christlichen Tradition und mit Hilfe neuerer Verstehensansätze"12 ist durchaus spannend und kann, insbesondere bei weiterer und vertiefender Beschäftigung viele neue Anregungen bieten.
Summierend hält von Stosch darum in differenzierter Weise fest: "Der Koran macht also deutlich: Indem ich auf Jesus höre und mich ihm anvertraue, kann ich lernen, mit ihm von ihm weg zu schauen und Gott in den Mittelpunkt meines Lebens zu stellen. Christlicherseits wird man an dieser Stelle sicher bleibend Bedenken anmelden, weil das Blicken auf Jesus für Christen ja gerade den Weg zum Vater eröffnet. Von daher betont der Koran Unterschiede, die christlicherseits so nicht zu akzeptieren sind."13
Darum betont der Autor abschließend auch, dass ihm (wie mir auch) der "lehrende Christus", wie ihn der Koran vornehmlich darstellt, "alleine zu wenig" ist, "und ich weiß nicht, wie ich seinem richtenden Wort standhalten soll, wenn er nicht immer schon solidarisch und helfend an meiner Seite steht."14 Und das tut er vor allem als leidender und in äußerster Verlassenheit sterbender Gekreuzigter, als der er "unsere letzten Abgründe noch einmal zu Gott zu führen vermag."15 

Trotz dieser Divergenzen bleibt die Kunst (und dazu fordert von Stosch immer wieder auf), gerade in interreligiös und politisch hoch emotional aufgeladenen Zeiten, die Unterschiede wahr und die koranische Kritik an manchen Frömmigkeitsauswüchsen von uns Christen ernst zu nehmen, aber die Verschiedenheit zugleich fruchtbar zu machen, um die menschliche Seite Jesu oder seine besondere Nähe zu Gott vom Koran inspiriert neu in den Blick zu nehmen.

Auf diese Weise jedenfalls wird jedenfalls eher ein Dialog ermöglicht als durch das ewige Insistieren auf den Unterschieden.
Der heidnischen Frau im Evangelium hat, so die fromme christliche Folgerung, ihre Zuwendung zu Jesus jedenfalls nicht geschadet. Und auch sie hatte sicher nicht das rechtgläubige Ideal heutiger Kirchenlenker im Kopf.

Der Skandal des Kreuzes gehört dazu. Alt-Buchhorst, 2016.

1   K. v. Stosch, M. Khorchide (Hg.), Streit um Jesus. Muslimische und christliche Annäherungen. Paderborn 2016, 7.
2   K. v. Stosch, Herausforderung Islam. Christliche Annäherungen. Paderborn 2016, 154-169. 
Dort werden im abschließenden Kapitel Stoschs Analysen aus seinem Aufsatz im Tagungsband "Streit um Jesus. Muslimische und christliche Annäherungen." zusammengefasst (Siehe Fußnote 1).
Die vorausgehende Expertentagung fand vom 20. bis 22.08. 2014 an der Katholischen Akademie Schwerte statt und stand unter dem Thema "Christologie – Die Besonderheit Jesu Christi in Islam und Christentum".
Ehrlicherweise muss hinzugefügt werden, dass laut Vorwort (Leseprobe hier erhältlich: https://www.schoeningh.de/uploads/tx_mbooks/9783506782564_leseprobe_01.pdf) von anderen Teilnehmern der Tagung eine Reihe von Kritikpunkten aus muslimisch-theologischer Sicht an Stoschs Ausführungen vorgebracht werden, die ich in Ermangelung vollständiger Lektüre hier nicht anbieten kann.
3   K. v. Stosch, M. Khorchide (Hg.), Streit. a.a.O., 8.
4   K. v. Stosch, Herausforderung. a.a.O., 156.

5   Ebd.
6   Ebd., 158.
8   K. v. Stosch, Herausforderung, a.a.O., 160.
9   Ebd.
10   Ebd., 162.
11   Ebd.., 165.
12   So U. Ruh in seiner Rezension zu K. v. Stosch, M. Khorchide (Hg.), Streit. a.a.O. in der Herder-Korrespondenz, die sich auch hier findet: https://www.herder-korrespondenz.de/heftarchiv/70-jahrgang-2016/heft-10-2016/buchbesprechung-klaus-von-stosch-und-mouhanad-khorchide-hg-streit-um-jesus.

13   K. v. Stosch, Herausforderung, a.a.O., 167.
14   Ebd., 177.
15   Ebd., 176.