Samstag, 18. November 2017

Seminar, Orden, Familie - Wo meine Talente schlummern

Wenn ich auf meine inneren und äußeren Lebensverläufe schaue, dann mache ich bezüglich der in den verschiedenen Phasen geweckten oder vergrabenen Talente und Stärken interessante Entdeckungen (vgl. das Sonntagsevangelium in Mt 25,14-30).
Alte Haare auf dem Hocker.
Berlin, 2016.
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Von 2002 bis 2007 war ich Priesterkandidat im Bistum Erfurt. Beim Studieren konnte ich eine Menge lesen und hören, reden und schreiben. Das war toll und kam meinen Neigungen sehr entgegen. Wissen anzuhäufen und Methoden der Wissensverwertung zu erlernen finde ich toll.

Das Seminarleben dagegen war für mich eine zwiespältige Erfahrung. Die ruhige und tendenziell geordnete Lebensweise hat ihre Vor- und Nachteile. Konzentration und innere Bodenhaftung in diesem Umfeld zu mehren ist gut möglich. Auch die regelmäßige Nahrungsaufnahme und die Möglichkeiten zum gemeinsamen Gebet halte ich für vorteilhaft. Der Rhytmus ist rückblickend sicher ein Anstoß, der in mir immer wieder geweckt werden will.

Allerdings braucht es neben dem Alltag mit seiner Ordnung auch das Fest mit dem Chaos. Und das fehlte in der Biederkeit des damaligen Priesterseminars nahezu völlig. Mir sind jedenfalls ein gewisser Muff und eine leise Tristesse hängengeblieben.

Auch das Leben in der Seminargemeinschaft, in der sich jeder auf einen Beruf als Einzelkämpfer vorbereitet habe ich, von Ausnahmen abgesehen nicht als intensive Bereicherung erlebt.
Glaubensfragen und Fragen des inneren geistlichen Lebens wurden nach meiner Erfahrung selten geteilt. Gesprächsinhalte in dieser Richtung sind Auseinandersetzungen um innerkirchliche und bisweilen um theologische Positionen gewesen.
Das Talent, sich in seinem eigenen Zimmerchen zu verziehen und alle Zweifel oder Glaubensimplosionen, aber auch Gebetserfahrungen und inneren Wachstumsprozesse nur mit sich selbst und dem lieben Gott auszumachen, wurde jedenfalls genährt. Auch das eine mir nicht unliebe, aber letztlich unsoziale Neigung. Wenn ich das positiv wende, dann ist es das Talent, meine Einsamkeit anzunehmen und zu umarmen, das ich hier intensiver vermehren konnte.

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Von 2007 bis 2012 war ich erst Novize, dann Scholastiker im Jesuitenorden. Schon in den ersten Monaten des Noviziats habe ich, so eine Notiz in meinem damaligen Tagebuch, mehr über mich selbst gelernt als in den Jahren des Studiums. Es war eine sehr reiche Zeit, in der vieles aufgeblüht ist, von dem ich heute noch zehre.
Vor allem die gemeinsame Sendung, das Ausrichten auf einen geteilten Lebensmittelpunkt, die

Die innere Beziehung zu Gott und das Feuer, das mich ins Seminar getrieben hatte, wurden neu entfacht. Mystische Erfahrung ist ein Augenblicksgeschenk, geistliche Arbeit ist der Alltag. Beides habe ich erfahren. Auch wenn es mir oft scherfiel, die tägliche Stunde Gebetszeit einzuhalten (manchmal sehr schwer), so war es doch eine Konstante, die mich nach und nach in die eigene Tiefe geführt hat.
Blick aufwärts.
Kunsthalle Hamburg, 2015.
Das Talent der Introspektion habe ich im Orden als religiöse Bereicherung erfahren und ausbauen können. Die eigenen Begrenzungen und Untiefen zu erleben und anzunehmen, gehörte ebenso dazu wie die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und Glaubensbiographie.

Gott zu entdecken mag nur zuteilen ein Talent sein, aber mich hat die ignatianische Spiritualität zum Wachsen in größere Entdeckungsbreite und -freude gebracht. Ein Zug von Weltmystik und das Engagement für die Kleinen und die Leidenden als Geschwister Christi haben mich sehr bereichert.

Auf der Ebene der Gemeinschaft habe ich hier einen ungeheuren Schub gemacht und viel Freude erlebt. Geistlicher Austausch und gemeinsame Reflexion, Große Exerzitien im Jahrgang, Ausflüge und auch Urlaub mit Mitbrüdern waren wirkliche Highlights.

Letztlich hat mich auch das Charisma der Einfachheit sehr angesprochen. Neben Diskussionen über den eigenen Lebensstil während des Noviziats habe ich schätzen gelernt, dass die Annehmlichkeiten der dauernden Kaufauswahl nicht selbstverständlich sind. Meine heutige Wohnung ist schon wieder viel zu voll!

Dass die Realität in den Kommunitäten bei der Frage der Gemeinschaft im Alltag oder des gemeinsamen Gebets oder auch in der Einfachheit oft anders aussieht als in diesem positiv gestimmten Rückblick, trübt das Bild zwar, aber eben nicht zur Gänze.
Viele meiner Talente konnten sich entwickeln und aufblühen.
Bis, ja bis...

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Die entscheidende Frage, die sich mir ab 2011 nach einigen Erlebnissen mit meiner jetzigen Frau verstärkt stellte, war, wo ich mehr ein liebender Mensch werden kann – im Orden oder in einer Beziehung. Und das meine ich ganz ernst.
Nun bin ich Ehemann (seit 2014) und zweifacher Vater (2014/2017), was ich als großes Geschenk empfinde. Auch wenn sich viele meiner erstgenannten Stärken, Motivationen, Anregungen und Talente nicht mehr in gleichem Maße entwickeln können wie zuvor.
Der menschliche und geistliche Austausch ist ein völlig anderer. Die Gebetszeit ist, mit Verlaub, äußerst reduziert, unter der Woche in die Messe zu gehen, passiert nur noch an wichtigen Feiertagen. 
Das ist unbefriedigend - schlechter auch?

Mehr Liebe!
Graffito, Neukölln, Berlin, 2012.
Aber eine persönliche Sendung habe ich gefunden. Gefängnisseelsorge ist DER Beruf.
Da wird Liebe konkret. Und ich freue mich an jedem Arbeitstag auf die Begegnungen mit Gewaltstraftätern, Geldstrafern, Betrügern, Einbrechern, Junkies, Obdachlosen, Alkoholikern...! Christus ist mitten unter ihnen.
Und ich kann ihnen, ich kann ihm dienen. Hören. Mitleiden. Weinen lassen. Festhalten. Einen Boden zeigen. Lächeln. Kaffee servieren. Scherzen. Aufrütteln. Reibefläche bieten. Beten.

Und als Ehemann und Vater lerne ich noch viel mehr, was es heißt, mich in Liebe zu üben. Notfalls auch dadurch, dass ich wieder und wieder an die eigenen Grenzen gestoßen werde. Mich in Geduld übe und in Nachsicht und in Vergebungsbereitschaft und in Barmherzigkeit und in Streiten.
Zeit mit den beiden Kindern verbringen, auch wenn ich mich lieber zurückziehen würde und lesen oder schreiben.
Aber zu merken, dass man selbst ein geliebter Mensch ist, ist wertvoller als viele Bücher. Klingt nach Binse, muss aber auch erlernt werden. (Mehr dazu demnächst mal.)

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Es mag seltsam klingen, die folgenden Schlagworte als Zusammenfassung von Gaben, Talenten oder Stärken zu verstehen, aber genau das scheinen sie in meinem Fall zu sein:
Lernen, Rhythmus, Chaos, Einsamkeit, Selbsterkenntnis, Sendung, Gottesliebe, Gemeinschaft, Einfachheit, Väterlichkeit, Hören, Lieben.

Diese meine gewundenen Lebenswege sollen nun nicht als vorbildhaft dargestellt werden. Das zu betonen ist mir wichtig, denn Anderen gehen die eigenen Talente vielleicht viel eher innerhalb einer einzigen Lebensform auf.

Und natürlich neigt man (und so auch ich hier) dazu, aus der Masse der Ereignisse auszuwählen sowie Gewichtungen und Deutungen vorzunehmen, die anderen (und auch mir selbst vor Tagen noch) nicht in den Sinn kämen.
Aber das ist nicht schlimm. Ich behaupte nicht, den einen roten Faden gefunden zu haben. Das hier Geschriebene ist ein Schlaglicht, ein roter Faden unter vielen roten Fäden.
Vielleicht sind es so viele, dass ich irgendwann, wenn ich mein Leben innerlich immer wieder durchschritten habe, den roten Teppich bemerke, den Gott mir da geschenkt hat.

Dank sei ihm!

Alte Steine, frisches Grün.
Schlaubetal, 2017.