Dienstag, 8. Februar 2022

Berührung von etwas ganz Anderem: „Überfluss“ von Wisława Szymborska

Wann eine wissenschaftliche Erkenntnis Bedeutung für uns gewinnt, kann vorher nicht immer mit Gewissheit gesagt werden. Bei der Entwicklung eines Impstoffs ist die Bedeutung leicht zu erkennen, bei der Entdeckung eines neuen Sterns eventuell etwas weniger leicht.
Auch unsere Emotionen werden unterschiedlich berührt. Ob wir bewegt werden, hängt auch von uns selbst ab.

Dies vorausgeschickt, möchte ich heute ein Gedicht der verehrten Wisława Szymborska vorstellen, das in seiner Lakonie gerade gut zu meiner Stimmung passt. Es umkreist die Wirkung, die die Entdeckung eines neuen Sterns hat, es fragt nach unserer Aufmerksamkeit, nach unserem Interesse, nach unserer Bereitschaft, eine Neuigkeit zu hören.

Samstag, 5. Februar 2022

Mich noch einmal auswerfen? Gedanke zum Evangelium Lk 5,1-11.

Petrus hatte doch schon guten Willen bewiesen.
Er hatte getan, was Fischer zu tun pflegen und war die Nacht über bis in den frühen Morgen unterwegs auf Fischfang gewesen.
Doch gefangen hatte er nichts.
Dann hört er, wahrscheinlich frustriert und müde, dem neuen Prediger zu und unterstützt ihn sogar, indem er ihn ein Stück weit auf den See fährt.
Schließlich hört er die Aufforderung, es nach der Enttäuschung der Nacht noch einmal zu versuchen.

Ähnlich fühle ich mich manchmal:
Habe als Katholik und kirchlicher Mitarbeiter viel guten Willen bewiesen.

Montag, 31. Januar 2022

Austritt – Rückblick nach zehn Jahren

Vor genau zehn Jahren habe ich ein Auto beladen und bin mit meinen Sachen von St. Georgen in Frankfurt am Main nach Berlin gefahren.
Wegen einer Möbelspende, die abzuholen, und einem Mitfahrer, der abzuliefern war, führte der Weg über Bremen und Hamburg, was eine gewaltige Fahrt von knapp 900 km bedeutete.

Aber das war dann auch noch irgendwie zu schaffen. Nachdem ich so viel geschafft hatte.
Mich von so vielen Menschen, von so vielen möglichen Lebensperspektiven verabschiedet hatte und aus dem Jesuitenorden ausgetreten bin.
Am 01. Februar 2012 habe ich noch einmal neu angefangen.

Donnerstag, 27. Januar 2022

„Ohne Verbitterung, ohne Haß“ Etty Hillesum am Gedenktag der Opfer des NS

Die Verbrechen der Shoah und die enthemmten Grausamkeiten der Nationalsozialisten schreien zum Himmel. Und obwohl der heutige Tag lange schon als Gedenktag begangen wird, obwohl der Kampf gegen Antisemitismus und Menschenverachtung in Deutschland einen hohen Stellenwert haben, greifen doch Hass und Menschenfeindlichkeit immer neu um sich.

Wenn wir aber den Opfern der nationalsozialistischen Schrecken gerecht werden wollen, reicht es eben nicht aus, sich zu erinnern. Der Einsatz für Menschlichkeit und Toleranz ist Teil des Gedenkens.
Daran gemahnt auch ein Brief von Etty Hillesum aus dem Lager Westerbork bei Amsterdam vom 03.07.1943:

Montag, 24. Januar 2022

Solidarität mit der Initiative „Out In Church“

Heute zitiere ich mal mich selbst von meiner dienstlichen Website:


Mehr als 100 katholische LGBTQI*-Personen haben sich in einer gemeinsamen Initiative unter dem Motto „Out in Church“ geoutet und ihre sexuelle Identität öffentlich gemacht.

Es sind Zeugnisse, die mit großem Mut und bewegender Offenheit Hoffnung machen für eine Kirche, die offen ist für Vielfalt und Toleranz – anders als sie allzu oft erlebt wird.

Samstag, 22. Januar 2022

„… keine Kenntnis ...“ Viele Worte, trauriger Ertrag. Zum Münchener Gutachten vom 20.01.2022.

Ich hätte es gern anders gemacht und wollte zunächst mit einigen Worten von Betroffenen sexueller Übergriffe in der Kirche beginnen, ihrer Meinung exemplarisch Raum geben.
Aber ich habe gemerkt, dass ich mir nur ein Placebo gewünscht hätte, um mich besser zu fühlen, da ich mich im Folgenden doch auf die Täter fokussiere.
Das ist traurig, aber da ich keinen anderen Rat weiß, möchte ich es immerhin erwähnen.

Das Entsetzen und Erschrecken und der Zorn und Ärger über die Taten von Kirchenmännern sind – auch von Kirchenmännern – so oft geäußert, dass es schon kaum mehr zum Aushalten ist. Und viele haben das alles schon längst nicht mehr ausgehalten und sind gegangen.

Nun kommt die nächste Welle des Schreckens, dieses Mal aus München.

Samstag, 15. Januar 2022

Dein Wasser reicht gegen den Frust. Predigt zum Weinwunder in Kana (Joh 2,1-11)

Ich kann die Angst vor der Unzufriedenheit der Gäste förmlich spüren. Da sind das ganze Dorf und viele auswärtige Gäste zusammengekommen und wollen feiern. Sie wollen den tristen Alltag endlich mal für ein paar Stunden (oder Tage!) verlassen und es sich richtig gut gehen lassen.
Und dann ist der Wein alle. Das heißt, die Party wird bald vorbei sein.
Was muss das für ein Ärger für die Einladenden sein, wenn sogar schon bis zu den Gästen durchdringt, dass nicht mehr weitergefeiert werden kann! Was für eine Enttäuschung, was für ein Frust.

Aber wozu bei der biblischen Geschichte stehenbleiben?

Sonntag, 9. Januar 2022

„...während er betete, öffnete sich der Himmel…“ Taufe des Herrn als Hoffnungsbild

Jesus lässt sich taufen und wird von oben bestätigt. Als er betet, tut der Himmel sich auf, der Geist kommt herab, eine Stimme ertönt (Lk 3,15-16.21-22).

Wie oft wünschte ich mir eine solche Vergewisserung, während ich bete! Eine Stärkung im Glauben. Einen Kraftakt Gottes, der mir zeigt, wie es um mich steht, was er wirklich will und dass er an meiner Seite ist.
Aber so etwas gibt es selten oder gar nicht.
Wir normalen Christ*innen sind zwar auch getauft, aber die Bestätigung bleibt oftmals aus. Wenn wir beten, fühlt es sich oft an, als würden wir ins Leere sprechen. Was unser Gebet wirklich bringt – und ob es etwas bringt, bleibt unklar. Ich selbst fühle mich unwohl mit manchen vorgeprägten Formulierungen. Wenn ich selbst formuliere, bleibe ich hinter meinen Erwartungen zurück oder fühle gar nicht, was ich eigentlich meinte.

Mittwoch, 5. Januar 2022

Sie brauchen einander! Provokation der Drei Könige

So unglaublich es klingt: Der böse König Herodes und die Weisen aus dem Morgenland brauchen einander.

Als die Besucher aus dem Osten in Jerusalem auftauchen, fragen sie: „Wo ist der neugeborene König der Juden?“ (Mt 2,2)
Nachdem Israels Schriftgelehrte auf Geheiß des entsetzten Königs Herodes in der Bibel recherchiert und Betlehem als Ort der Geburt des Gegen-Königs identifiziert hatten, ließ sich Herodes von den Weisen heimlich „sagen, wann der Stern erschienen war“ (v7).

Samstag, 1. Januar 2022

Mehr Ruhe. Gedanke zu Neujahr.

Gefroren am Meer. Ostsee, 2021.
"Das ist eigentlich unsere einzige moralische Aufgabe: In sich selbst große Flächen urbar zu machen für die Ruhe, für immer mehr Ruhe, so daß man diese Ruhe wieder auf andere ausstrahlen kann. Und je mehr Ruhe in den Menschen ist, desto ruhiger wird es auch in dieser aufgeregten Welt sein."

Etty Hillesum hat diese Sätze geschrieben im Angesicht der europaweiten Vernichtung von Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten. Sie schöpfte aus der eigenen inneren Ruhe, in der sie sich auch mit Gott verbunden fühlte. Ihr Wunsch nach einer friedvolleren und weniger „aufgeregten Welt“ hat sich allerdings nicht unmittelbar bewahrheitet. Aber manchmal taucht sie schon auf, diese große Ruhe. 

Das wünsche ich euch im beginnenden Jahr 2022: Dass ihr im Angesicht von viel Leid und Angst und Verschlossenheit und Aggression trotzdem eine hoffnungsvolle und friedliche Ruhe in euch bewahren könnt. Und dass diese Ruhe auf eure Umgebung ausstrahlt.

Ergo: Ein gutes, ein in tiefer Ruhe starkes Jahr wünsche ich!


(J.G. Gaarlandt (Hg.), Das denkende Herz. Die Tagebücher der Etty Hillesum 1941-1943. Reinbek bei Hamburg 1985, 192; Eintrag vom 29.09.1943.)

Donnerstag, 30. Dezember 2021

Persönliche Zusammenfassung des Jahres 2021

1.
Aus Berlin wird Frankfurt. 
Aus Gefängnis wird Hochschule.


2.

Bücher von Frauen (Elena Ferrante, Simone Weil, Etty Hillesum, Nastassja Martin, Bernardine Evaristo, Isabelle Bogdan…) haben mich in diesem Jahr tendenziell mehr überzeugt als die von Männern (Larry Trambley, Raymond Queneau, vor allem aber Pascal Mercier, was war das denn für ein komischer Nachtzug?). 


3.

Positive Ausnahmen gibt es natürlich auch (Henning Mankell, James Martin, Navid Kermani…). 

Negative ebenso (Dorota Maslowska und Ulrike Almuth Sandig konnten mich nicht so recht erreichen).

Samstag, 25. Dezember 2021

Brücken-Gott?! – Eine Weihnachtsbetrachtung


Die Geburt des heiligen Kindes im Stall von Betlehem ist ein Brückenschlag. Denn seit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus existiert eine Brücke zwischen den beiden Seiten, zwischen Menschen und Gott.

Dieses Sprachbild jedenfalls passt gut in eine landläufige Vorstellung des Gott-Welt-Verhältnisses. Gott auf der einen, die Welt mit den Menschen auf der anderen Seite eines großen Grabens, metaphysisch getrennt durch den Spalt von Schöpfer und Schöpfung, Geist und Materie, Grenzenlosigkeit und Begrenztheit.

Donnerstag, 23. Dezember 2021

Erlöst er uns? Maria kurz vor der Niederkunft

„Jetzt wird’s langsam wirklich eng. Ich habe das Gefühl, mein Bauch könnte jeden Moment platzen.

Immerhin haben wir es schon nach Jerusalem geschafft.
Aber diese Stadt ist echt anstrengend – zum Glück müssen wir nicht hier zur Zählung aufs Amt.
Allein die hohen Häuser sind ja eine Zumutung! Und dann die Leute! Ohne Rücksicht rennen die hier durch und rempeln sich durch den Tag!

Sonntag, 19. Dezember 2021

Begegnung mit dem Heiligen. Etty Hillesum zum 4. Adventssonntag

 Der Besuch Marias bei Elisabeth wird für Elisabeth zur Begegnung mit dem Heiligen (Lk 1,39-45). Sie „wurde vom Heiligen Geist erfüllt“ (v41), jubelte und spürte die Bewegung des künftigen Propheten in ihrem Bauch.
Ähnliches geschieht 1942 Etty Hillesum – inmitten eines übermächtig bedrohlichen Alltags, mitten im Krieg als Jüdin in den Niederlanden, abends in ihrem Schlafzimmer.

Ja, wie war das gestern abend in meinem kleinen Schlafzimmer?
Ich war früh zu Bett gegangen und schaute durch das große, offene Fenster hinaus. Und mir war wieder, als wäre das Leben mit all seinen Geheimnissen mir sehr nahe, als könne ich es berühren. Mir war, als ruhte ich an der nackten Brust des Lebens und hörte seinen leisen, regelmäßigen Herzschlag. Ich lag in den nackten Armen des Lebens und fühlte mich sicher und beschützt. Und ich dachte: Wie sonderbar doch das ist. Es ist Krieg. Es gibt Konzentrationslager.

Mittwoch, 15. Dezember 2021

Über die Grenzen. Maria und Josef auf dem Weg

 „Ja, jetzt versuche ich es doch noch mal.
Die letzten Tage waren wirklich furchtbar anstrengend, weißt du, da ging irgendwann gar nichts mehr. Wir mussten ein paar Tage Pause einlegen und machen jetzt ganz langsam.

Es war so: Der Übergang von Galiläa nach Samarien ist ja meistens kein Problem, aber jetzt sind plötzlich so viele Leute unterwegs, dass wir immerzu warten mussten und gar nicht vorankamen – und dann noch in irgendwelche Kontrollen der Römer geraten sind.