Sicher bin ich mir, nicht, was Avraham
Ben Yitzhak mit folgendem Gedicht nun wirklich gemeint hat. Aber es
fasziniert mich seit einigen Tagen so stark, dass ich es hier gern
vorstellen möchte.
Es ist, so viel kann ich immerhin
feststellen, eine derbe Kritik.
Kritik an einer Haltung voller
Großspurigkeit, Selbstsicherheit und Voreiligkeit. Davon findet sich
genug auch dieser Tage.
Die vom Autor Kritisierten legitimieren
sich mindestens teilweise religiös, was ihnen nicht an sich
vorgeworfen wird – vorgeworfen wird ihnen vielmehr die Art und
Weise, wie sie dies tun. Darüber hinaus ziehen sie religiös
begründete politische Schlüsse (was immer gefährlich ist).
Da der Autor als galizischer Jude diese
Zeilen Ende 1925 in Wien geschrieben hat, kann er sowohl seine
jüdischen Glaubensgenossen meinen wie auch die Christen in seinem
Umfeld.
Doch nun das Gedicht:
Warum verblühte eure Fahne
Geländer. Grünheide, 2015. |
Bevor ihr euch versammelt
bricht eure Stimme aus in
Triumphgesang
ihr habt eure Lenden nicht gegürtet
und fordert Mitleid mit den
Schwachen
Wegstaub habt ihr nicht gerochen
und seid schon Erschlagene eurer
Lügen.
Die euch vorausgegangen sind
ihr Herz verdorrte in euren Phrasen.
Kaum daß ihr die Spur ihrer Füße
entdeckt habt
ruft ihr 'Licht den Völkern' und
'Ewiges Königreich'
jeder Stammelnde und jeder Taube
raubt das geringe Holz von eurem
Altar
um zu errichten Königsstühle.
Ihr habt Richter ernannt, die eure
Auge blenden
sie drehen sich im Kreis, ihre
Vernunft vertaumelt
ihr ruft: des Herrn Hand kam über
sie.
Schwächlinge, ihr habt das Gesicht
bedeckt
um jener Gesicht nicht zu sehen
und Finsternis war
auf ihrem Gesicht.
Bevor ihr einen Stein gehauen habt
streitet ihr um die vollendete Säule
ihr habt euch noch nicht
niedergelassen
und schon das Königreich
aufgeteilt.1
Es sind sprachliche Bilder, die
wunderbar zusammenklingen, auch wenn nicht alles in ihnen aufgeht;
biblische Halbzitate und der Hauch tiefer Frömmigkeit; Folgerungen
und Formulierungen, die sich ins Gedächtnis setzen und nicht wieder
loslösen wollen.
Was Ben Yitzhak wiederkehrend anklagt,
scheinen vor allem nicht gerechtfertigte Selbstbilder der
Angesprochenen zu sein. Sie nehmen Dinge für sich in Anspruch oder
handeln in bestimmter Weise, die ihnen nicht zukommen. Die biblische
Überzeugung, dass sich eine schlechte Tat gegen den Täter kehrt,
klingt an einigen Stellen an.
1
Besonders wichtig scheinen die
Vorfahren zu sein, denn
"Die
euch vorausgegangen sind
ihr Herz verdorrte in euren Phrasen"
meint
ja offensichtlich wichtige und maßgebliche Personen, wenn schon "die
Spur ihrer Füße" die
Nachgeborenen dazu bringt, sendungsbewusst und womöglich endzeitlich
gestimmt "'Licht den Völkern' und 'Ewiges
Königreich'" auszurufen.
Doch
da nun "ihr Herz ... in euren Phrasen"
verdorrte, ist ihr Andenken nach Ansicht Ben Yitzhaks nicht in der
richtigen Weise gewahrt worden. Wir würden heute wohl sagen, dass
jemand sich im Grabe umdrehen würde, könnte bzw. müsste er dies
oder das hören.
Das
"Verdorren"
weist mit einem biologischen Bild auf die Sprödheit und
Lebensfeindlichkeit der kritisierten Lebenseinstellung.
Umbau zur rechten Zeit. Hamburger Bahnhof, Berlin, 2017. |
Gemeint
sein könnten, wie schon gesagt, sowohl Juden als auch Christen. Den
Bezug auf die Vorväter kennen beide, ebenso wie ein eschatologisches
Bewusstsein, das sich in manchen geschichtsträchtigen Augenblicken
entlädt. Die Phrase "Licht den Völkern"
beispielsweise kann auf den Beginn der Bergpredigt Jesu anspielen (Mt
5,14) oder aber auf die Verheißung des Jesaja, dass der
Gottesknecht, sei es das ganze erneuerte Volk Israel oder eine
Einzelperson, eine weltumspannende göttliche Mission habe (Jes
49,6). Wichtig ist in jedem Fall, dass es sich um einen universalen
Anspruch handelt, der sich in den biblischen Schriften finden lässt
und hier als unberechtigt abgewiesen wird.
Der Titel des Gedichts lässt mich
annehmen, dass Ben Yitzhak die Juden meint. Denn die Frage "Warum
verblühte eure Fahne",
oder: Warum geht es bergab mit euch?, kann
ja als durch das ganze Gedicht beantwortet angesehen werden – es
gibt stetig mehr Anfeindungen gegen euch (der wachsende
Antisemitismus jener Jahre) weil ihr euch eben so benehmt, wie ihr es
tut.
Für
einen Außernstehenden wie mich wäre das nicht sagbar, wenn Ben
Yitzhak selbst dies aber so formuliert, mag er seine Gründe gehabt
haben. Biographisch ist interessant zu wissen, dass er sich in den
1920er Jahren als Mitarbeiter Weizmans stark für den Zionismus
einsetzte – möglicherweise meinte er auch den übereiligen Eifer
seiner Mitstreiter, den er als kritisch ansah, wenn sie ihr Ziel, den
jüdischen Staat im Heiligen Land, realisiert sehen wollten.
2
Es
fällt mir schwer, nicht an Donald Trump und seine Wählerschaft zu
denken, wenn ich die Zeilen über die Richter lese, "die
eure Augen blenden" und
deren "Vernunft vertaumelt".
Das Blenden und der irrationale Wahnsinn, der sich in der US-Politik breit macht, ist
für mich nur noch durch Abwendung zu ertragen. Jene aber, die einen
solchen Politikstil befördert und ermöglicht haben, die
Republikanische Partei hat zu Recht inzwischen ihr "Gesicht
bedeckt um jener Gesicht nicht zu sehen"
– und nicht die "Finsternis"
auf seinem Gesicht. Doch mit diesem Verhalten "verblüht"
ihre Fahne.
3
Ganz
zu Beginn und ganz am Ende des Gedichtes wirft der Autor den
Angesprochenen vor, sie täten übereilt etwas, für das es noch gar
nicht an der Zeit ist:
"Bevor
ihr einen Stein gehauen habt
streitet ihr um die vollendete
Säule" heißt es am Ende.
Vor der eigentlichen Arbeit wird ihr
gewünschtes Ergebnis schon gedeutet und vereinnahmt. Bevor, um das
Wort von eben aufzunehmen, das Licht überhaupt leuchtet, soll schon
die erleuchtete Welt eingesackt werden.
Ungeduld prangert auch Jesus an, wenn
er im berühmten neutestamentlichen Toleranzwort über Unkraut und
Weizen sagt: "Lasst beides wachsen bis zur Ernte"
(Mt 13,30). Anstatt den guten Weizen mit dem Unkraut vor der Zeit
auszureißen soll beides wachsen und von Gott erst gerichtet werden.
Dem Übereifer menschlichen Richtens über die vermeintlich
Schlechteren oder Böseren stellt Jesus die Geduld gegenüber.
Etwas in dieser Richtung muss auch
Avraham Ben Yitzhak im Sinn gehabt haben – zur rechten Zeit – und
auch erst dann! – das Rechte zu tun, ist so schwer und so nötig.
Geduld gefragt. Saalerastplatz Döbritschen, 2017. |
1 Avraham
Ben Yitzhak, Es entfernten sich die Dinge. Gedichte und Fragmente.
Hanser 1994, 56.