Montag, 7. August 2017

"Warum verblühte eure Fahne" - Zu einem rätselhaften Gedicht von Avraham Ben Yitzhak

Sicher bin ich mir, nicht, was Avraham Ben Yitzhak mit folgendem Gedicht nun wirklich gemeint hat. Aber es fasziniert mich seit einigen Tagen so stark, dass ich es hier gern vorstellen möchte.

Es ist, so viel kann ich immerhin feststellen, eine derbe Kritik.
Kritik an einer Haltung voller Großspurigkeit, Selbstsicherheit und Voreiligkeit. Davon findet sich genug auch dieser Tage.
Die vom Autor Kritisierten legitimieren sich mindestens teilweise religiös, was ihnen nicht an sich vorgeworfen wird – vorgeworfen wird ihnen vielmehr die Art und Weise, wie sie dies tun. Darüber hinaus ziehen sie religiös begründete politische Schlüsse (was immer gefährlich ist).
Da der Autor als galizischer Jude diese Zeilen Ende 1925 in Wien geschrieben hat, kann er sowohl seine jüdischen Glaubensgenossen meinen wie auch die Christen in seinem Umfeld.

Doch nun das Gedicht:

Warum verblühte eure Fahne

Geländer. Grünheide, 2015.
Bevor ihr euch versammelt
bricht eure Stimme aus in Triumphgesang
ihr habt eure Lenden nicht gegürtet
und fordert Mitleid mit den Schwachen
Wegstaub habt ihr nicht gerochen
und seid schon Erschlagene eurer Lügen.
Die euch vorausgegangen sind
ihr Herz verdorrte in euren Phrasen.
Kaum daß ihr die Spur ihrer Füße entdeckt habt
ruft ihr 'Licht den Völkern' und 'Ewiges Königreich'
jeder Stammelnde und jeder Taube
raubt das geringe Holz von eurem Altar
um zu errichten Königsstühle.
Ihr habt Richter ernannt, die eure Auge blenden
sie drehen sich im Kreis, ihre Vernunft vertaumelt
ihr ruft: des Herrn Hand kam über sie.
Schwächlinge, ihr habt das Gesicht bedeckt
um jener Gesicht nicht zu sehen
und Finsternis war
auf ihrem Gesicht.

Bevor ihr einen Stein gehauen habt
streitet ihr um die vollendete Säule
ihr habt euch noch nicht niedergelassen
und schon das Königreich aufgeteilt.1

Es sind sprachliche Bilder, die wunderbar zusammenklingen, auch wenn nicht alles in ihnen aufgeht; biblische Halbzitate und der Hauch tiefer Frömmigkeit; Folgerungen und Formulierungen, die sich ins Gedächtnis setzen und nicht wieder loslösen wollen.
Was Ben Yitzhak wiederkehrend anklagt, scheinen vor allem nicht gerechtfertigte Selbstbilder der Angesprochenen zu sein. Sie nehmen Dinge für sich in Anspruch oder handeln in bestimmter Weise, die ihnen nicht zukommen. Die biblische Überzeugung, dass sich eine schlechte Tat gegen den Täter kehrt, klingt an einigen Stellen an. 

1
Besonders wichtig scheinen die Vorfahren zu sein, denn
"Die euch vorausgegangen sind
ihr Herz verdorrte in euren Phrasen"
meint ja offensichtlich wichtige und maßgebliche Personen, wenn schon "die Spur ihrer Füße" die Nachgeborenen dazu bringt, sendungsbewusst und womöglich endzeitlich gestimmt "'Licht den Völkern' und 'Ewiges Königreich'" auszurufen.
Doch da nun "ihr Herz ... in euren Phrasen" verdorrte, ist ihr Andenken nach Ansicht Ben Yitzhaks nicht in der richtigen Weise gewahrt worden. Wir würden heute wohl sagen, dass jemand sich im Grabe umdrehen würde, könnte bzw. müsste er dies oder das hören.
Das "Verdorren" weist mit einem biologischen Bild auf die Sprödheit und Lebensfeindlichkeit der kritisierten Lebenseinstellung.
Umbau zur rechten Zeit.
Hamburger Bahnhof, Berlin, 2017.
Gemeint sein könnten, wie schon gesagt, sowohl Juden als auch Christen. Den Bezug auf die Vorväter kennen beide, ebenso wie ein eschatologisches Bewusstsein, das sich in manchen geschichtsträchtigen Augenblicken entlädt. Die Phrase "Licht den Völkern" beispielsweise kann auf den Beginn der Bergpredigt Jesu anspielen (Mt 5,14) oder aber auf die Verheißung des Jesaja, dass der Gottesknecht, sei es das ganze erneuerte Volk Israel oder eine Einzelperson, eine weltumspannende göttliche Mission habe (Jes 49,6). Wichtig ist in jedem Fall, dass es sich um einen universalen Anspruch handelt, der sich in den biblischen Schriften finden lässt und hier als unberechtigt abgewiesen wird.
Der Titel des Gedichts lässt mich annehmen, dass Ben Yitzhak die Juden meint. Denn die Frage "Warum verblühte eure Fahne", oder: Warum geht es bergab mit euch?, kann ja als durch das ganze Gedicht beantwortet angesehen werden – es gibt stetig mehr Anfeindungen gegen euch (der wachsende Antisemitismus jener Jahre) weil ihr euch eben so benehmt, wie ihr es tut.
Für einen Außernstehenden wie mich wäre das nicht sagbar, wenn Ben Yitzhak selbst dies aber so formuliert, mag er seine Gründe gehabt haben. Biographisch ist interessant zu wissen, dass er sich in den 1920er Jahren als Mitarbeiter Weizmans stark für den Zionismus einsetzte – möglicherweise meinte er auch den übereiligen Eifer seiner Mitstreiter, den er als kritisch ansah, wenn sie ihr Ziel, den jüdischen Staat im Heiligen Land, realisiert sehen wollten.

2
Es fällt mir schwer, nicht an Donald Trump und seine Wählerschaft zu denken, wenn ich die Zeilen über die Richter lese, "die eure Augen blenden" und deren "Vernunft vertaumelt". Das Blenden und der irrationale Wahnsinn, der sich in der US-Politik breit macht, ist für mich nur noch durch Abwendung zu ertragen. Jene aber, die einen solchen Politikstil befördert und ermöglicht haben, die Republikanische Partei hat zu Recht inzwischen ihr "Gesicht bedeckt um jener Gesicht nicht zu sehen" – und nicht die "Finsternis" auf seinem Gesicht. Doch mit diesem Verhalten "verblüht" ihre Fahne.

3
Ganz zu Beginn und ganz am Ende des Gedichtes wirft der Autor den Angesprochenen vor, sie täten übereilt etwas, für das es noch gar nicht an der Zeit ist:
"Bevor ihr einen Stein gehauen habt
streitet ihr um die vollendete Säule" heißt es am Ende.
Vor der eigentlichen Arbeit wird ihr gewünschtes Ergebnis schon gedeutet und vereinnahmt. Bevor, um das Wort von eben aufzunehmen, das Licht überhaupt leuchtet, soll schon die erleuchtete Welt eingesackt werden.
Ungeduld prangert auch Jesus an, wenn er im berühmten neutestamentlichen Toleranzwort über Unkraut und Weizen sagt: "Lasst beides wachsen bis zur Ernte" (Mt 13,30). Anstatt den guten Weizen mit dem Unkraut vor der Zeit auszureißen soll beides wachsen und von Gott erst gerichtet werden. Dem Übereifer menschlichen Richtens über die vermeintlich Schlechteren oder Böseren stellt Jesus die Geduld gegenüber.
Etwas in dieser Richtung muss auch Avraham Ben Yitzhak im Sinn gehabt haben – zur rechten Zeit – und auch erst dann! – das Rechte zu tun, ist so schwer und so nötig.

Geduld gefragt. Saalerastplatz Döbritschen, 2017.

1   Avraham Ben Yitzhak, Es entfernten sich die Dinge. Gedichte und Fragmente. Hanser 1994, 56.