Als unsere zweite Tochter
geboren wurde, ging alles ganz schnell. Natürlich hatten wir uns
vorbereitet so gut es ging, und mit einem drei Jahre älteren
Kleinkind zu Hause ist ja auch schon einiges kindgerecht
eingerichtet. Aber die innere Vorbereitung war nicht mehr besonders
ausführlich – für Ruhe und Besonnenheit fehlte uns einfach die
Zeit.
Dienstag, 25. Dezember 2018
Montag, 24. Dezember 2018
Ankunftszeit 24 – Geliebt in "Königskinder" von Alex Capus
Marie
ist die Tochter eines wohlhabenden Bauern, Jakob ein Waise, der Jahre
für Jahr die Kühe des Bauern oben in den Bergen hütet. Jedes Jahr
bringt Jakob die Herde ins Tal und sieht Marie. Aber dieses Jahr ist
etwas anders.
Sonntag, 23. Dezember 2018
Ankunftszeit 23 – Fremd in "Von dieser Welt" von James Baldwin
John ist Sohn eines
Predigers und als solcher mit Küsterdiensten beauftragt. Allerdings
hadert er mit dem Glauben, den seine Familie ihm vorlebt und der auf
intensiver Gotteserfahrung fußt. Seine Erfahrung ist eine andere,
als er zur Vorbereitung des abendlichen Gottesdienstes den
Kirchenraum betritt:
Samstag, 22. Dezember 2018
4. Adventssonntag – Bildmeditation zu "Da hüpfte das Kind vor Freude in ihrem Leib"
Aus dem Evangelium am Zweiten Adventssonntag:
„Als Elisabeth den Gruß Marias
hörte, hüpfte das Kind vor Freude in ihrem Leib“ (vgl. Lk
1,44)
Ankunftszeit 22 – Eingekerkert in "Gott ist nicht schüchtern“ von Olga Grjasnowa
Der Roman erzählt auf
beklemmend realistische Weise die Geschichte zweier erfolgsverwöhnter
Syrer in der Zeit der ersten Aufstände gegen Assads Regime. Hammoudi
reist von Paris, wo er wohnt, nach Syrien, um seinen Pass verlängern
zu lassen – und scheitert an diesem eigentlich formalen Procedere.
Amal, die junge Schauspielerin, wird nach einer Demonstration auf
offener Straße verhaftet und ins Gefängnis verbracht.
Freitag, 21. Dezember 2018
Ankunftszeit 21 – Verwandelt in "Hain" von Esther Kinsky
Dies ist das Buch einer Reise nach
Italien, angetreten, um den Verlust des Geliebten zu verarbeiten.
Esther Kinsky beschreibt äußerst detailreich, wie sie in einem Dorf
die Landschaft, die Menschen und die Jahreszeiten erlebt.
Donnerstag, 20. Dezember 2018
Ankunftszeit 20 – Verändert in "Olga" von Bernhard Schlink
Olga und Herbert kommen
aus zwei verschiedenen Welten: Das einfache Mädchen und der Sohn
eines Großgrundbesitzers können nicht zusammen kommen. Zusammen mit
Herberts Schwester Viktoria waren sie jedoch einige Zeit ein enges
Dreiergespann – bis Viktoria auf eine weiter entfernte Schule geht.
Im Sommer kehrt sie zurück:
Mittwoch, 19. Dezember 2018
Ankunftszeit 19 – Eingeladen in „Kriegslicht“ von Michael Ondaatje
Nathaniel ist während der
Ferien zum Gehilfen eines Schmugglers von Windhunden geworden.
Nebenbei trifft er sich von Zeit zu Zeit mit seiner Freundin in
leerstehenden Häusern, die zum Verkauf stehen. In einer Nacht kommt er mit
einigen Hunden im Auto an:
Dienstag, 18. Dezember 2018
Ankunftszeit 18 – Blockiert in "Ein russischer Roman" von Emmanuel Carrère
„Ein russischer
Roman“ erzählt viele Geschichten, die eng an des Autors
eigenes Leben und Denken angelehnt sind. Am Ende des Romans dreht
sich alles um die Beziehung zu seiner damaligen Lebensgefährtin. In
der Form eines Briefes an sie rekapituliert Carrère eine Zeit
starker Konflikte während eines Urlaubs auf Korsika:
Montag, 17. Dezember 2018
Ankunftszeit 17 – Pathetisch in „Töchter“ von Lucy Fricke
Eine
super Road-Novel, in der es um Vaterbeziehungen geht: Zwei Frauen
machen sich auf den Weg in die Schweiz, um den todkranken Vater der
einen in den Tod zu begleiten. Doch dann ändert sich das Ziel und
nach einer Reihe von Umwegen dreht sich plötzlich alles darum, den
verschollenen Vater der anderen zu finden.
Diese
Suche führt die Reisenden schließlich auf eine Insel in der Ägäis:
Sonntag, 16. Dezember 2018
Ankunftszeit 16 – Verdächtig in "Hier ist noch alles möglich" von Gianna Molinari
Die
Heldin des Romans beginnt als Nachtwächterin in einer Kartonfabrik
zu arbeiten und wohnt auch auf dem Fabrikgelände. Langsam freundet
sie sich auch mit ihrem Kollegen Clemens an.
Samstag, 15. Dezember 2018
3. Adventssonntag – Radiobeitrag zu Gaudete – "Freut Euch! Der Herr ist nahe!"
Folgende Worte von mir sind am Sonntag, 16.12.2018, ab ca. 10 vor 10 auf Radio Berlin 88,8 zu hören:
Es gibt Sätze, die mich sofort wach
machen.
"Freu dich doch!", ist so ein
Satz.
Wenn ich höre, dass ich mich freuen
soll, dann werde ich erstmal aggressiv. Darf ich das bitteschön
vielleicht noch selbst entscheiden, wann ich mich freue?
Und selbst wenn die Aufforderung "Freut
euch! Der Herr ist nahe!" (Phil 4,4.5) in der biblischen Lesung am
Dritten Adventssonntag steht: Das braucht mir mitten im Adventsstress
niemand zu raten oder zu gar zu befehlen!
Ankunftszeit 15 – Verschneit in "Underground Railroad" von Colson Whitehead
Immer wieder flohen
Sklaven aus dem Süden der USA, um im Norden ein besseres Leben
anzufangen. Die Anfänge des Zufluchtsortes in Colson Whiteheads
Roman, zu dem die Heldin Cora kommt, werden mittels einer Geschichte
kurz erzählt:
Freitag, 14. Dezember 2018
Ankunftszeit 14 - Frei in "Sonnenfinsternis" von Arthur Koestler
Der
ehemalige Star der Partei Rubaschow wird Opfer einer
Säuberungskampagne in der stalinistischen UdSSR der späten 1930er Jahre. Mitten in der Nacht
aus dem Bett gerissen und verhaftet, bringt man ihn zum Gefängnis.
Donnerstag, 13. Dezember 2018
Ankunftszeit 13 – Erfüllt in "Unter der Drachenwand" von Arno Geiger.
Veit reist mitten im
Zweiten Weltkrieg verwundet aus dem Lazarett nach Hause, um wieder
auf die Beine zu kommen. Eine tagelange Fahrt liegt hinter ihm:
Mittwoch, 12. Dezember 2018
Ankunftszeit 12 – Stürmisch in "Nebentage" von Thorsten Palzhoff
Als seine Wohnung abbrennt, begibt sich
Felix Fehling, ein junger Mann aus dem Westen Deutschlands in den mit den
Wendewirren kämpfenden Osten:
Dienstag, 11. Dezember 2018
Ankunftszeit 11 – Grau in "Ein anderes Brooklyn" von Jacqueline Woodson
Der
Vater verlässt mit den Kindern die Mutter und zieht aus der
dörflichen Umgebung in Tennessee nach Brooklyn in New York. Jahre
später erinnert die erwachsene Heldin ihren Umzug vom Land in die
Stadt:
Montag, 10. Dezember 2018
Ankunftszeit 10 – Unklar in "Die Welt im Rücken" von Thomas Melle
Thomas Melle schildert in
seinem Buch eindrücklich seine Phasen von Manie und Depression.
Innere Zustände und äußere Erlebnisse versucht er, im Nachhinein
einigermaßen geordnet zu erzählen. Mit Aljoscha, einem der letzten
Freunde, die zu ihm halten, organisiert Melle eine Zeit lang mühsam
das Weiterleben.
Sonntag, 9. Dezember 2018
Ankunftszeit 9 – Schattig in "Die Schulzeit Jesu" von J.M. Coetzee
Jetzt folgt der Text, der
in diesem Adventskalender am wenigsten romanhaft ist.
J.M. Coetzee legt die
folgenden Aussagen Ana Magdalena Arroyo in den Mund, der Leiterin
einer Tanzschule und Ehefrau eines begnadeten Komponisten. Die
Tanzschule hat eine platonisch-pythagoreische Grundlagenphilosophie
und David, der im Vorgängerband „Die Kindheit Jesu“ mit
seinem Ziehvater in das neue Land gekommen ist, besucht diese Schule.
Samstag, 8. Dezember 2018
2. Adventssonntag - Bildmeditation zu "Bereitet dem Herrn dem Weg"
Aus dem Evangelium am Zweiten
Adventssonntag:
"Bereitet dem Herrn den Weg!
Ebnet ihm die Straßen! Jede Schlucht soll aufgefüllt werden, jeder
Berg und Hügel sich senken." (Lk 3,4f)
Ankunftszeit 8 – Beschenkt in "Der Typ ist da" von Hanns-Josef Ortheil
Mias Zufallsbekanntschaft
aus Venedig ist plötzlich bei ihr in Köln aufgetaucht. Nach und
nach bringt er ihr ganzes Leben durcheinander. Denn Matteo ist anders
als die meisten Männer, die sie kennt. Er ist still, beobachtet sehr
genau, besucht Kirchen, zeichnet.
In dieser Szene sind Mia
und Matteo verabredet.
Freitag, 7. Dezember 2018
Ankunftszeit 7 – Geschockt in "Der Vogelgott" von Susanne Röckel
Eine geheimnisvoll düstere
Religion um Vögel und Vogelmenschen steht im Zentrum des Romans von
Susanne Röckel. Dabei empfinden die Hauptakteure ihre inneren
Zustände und Erinnerungen so stark, dass alles, was mit vogelartigen
Wesen oder Engeln zu tun hat, für sie zu einer persönlichen Prüfung
wird. Hier kommt Lorenz gerade auf das Gelände einer Klinik.
Donnerstag, 6. Dezember 2018
Ankunftszeit 6 – Verspätet in "Altes Land" von Dörte Hansen
Die Musiklehrerin Anne
gerät mit ihrem Leben an die Grenze der Überforderung, als sie
mitbekommt, dass ihr Freund sie betrügt. Darum wird sie im Verlauf
von Dörte Hansens Bestseller aus Hamburg in das titelgebende Alte
Land entfliehen. Zuvor jedoch holt sie ihren Sohn Leon aus der Kita
ab, allerdings leicht verspätet:
Mittwoch, 5. Dezember 2018
Ankunftszeit 5 – Schmerzhaft in "Neujahr" von Juli Zeh
Henning
macht mit seiner Familie Urlaub auf Lanzarote. Am Neujahrsmorgen
setzt er sich nach einer Reihe ruhig verbrachter Tage endlich aufs
Fahrrad und will ein bisschen Sport machen.
Es
folgt eine unerwartet anstrengende Strecke bergauf.
Schließlich
kommt er völlig ausgelaugt in Femés an:
Dienstag, 4. Dezember 2018
Ankunftszeit 4 – Verzweifelt in "Der Reisende" von Ulrich Alexander Boschwitz
Es ist eine erschütternde
Abstiegsgeschichte, die der junge Autor Ulrich Alexander Boschwitz
1938 niederschreibt (2018 erstmals erschienen). Wie viele deutsche Juden erlebt auch sein
Romanheld Otto Silbermann die Erschütterungen in den ersten Jahren
der nationalsozialistischen Herrschaft als radikalen Umsturz seines
bisher so geordneten Lebens. Nach einigen Tagen der Angst ist der
Kaufmann kurz in seine von einem SA-Trupp durchsuchte Wohnung
zurückkehrt, um einige Dinge an sich zu nehmen.
Kein Bleiben...? Fassade des Willy-Brand-Hauses, Berlin-Kreuzberg 2015. |
"Er war im
Schlafzimmer angelangt und ließ sich auf sein Bett fallen. Ich muss
fort, dachte er und schloss die Augen. 'Ach, ich möchte bleiben,
schlafen ... Und nun zur Grenze? Aber dem bin ich niemals gewachsen.
Das kann ich doch gar nicht. Heimlich über die Grenze...' Er
schüttelte sich bei dem Gedanken. 'Was wollen die Leute eigentlich
alle von mir?', fragte er dann leise. "Ich will doch nichts, als
in Ruhe leben, mein Brot verdienen ... Die Grenze! Ich und die
Grenze – mein Gott!'
Er sprang auf!"1
Es ist klar, dass
Silbermann hier nicht bleiben kann.
Verzweiflung und Müdigkeit
führen einen inneren Kampf in ihm, und doch spürt er genau: Die
Ankunft ruft schon nach Aufbruch. Hier ist kein Bleiben.
Das Gefühl der Gefahr ist
uns Heutigen möglicherweise unbekannt, aber das Gefühl des
Gehetztseins von einem Ort zum nächsten kennen die meisten von uns.
Und der Advent soll anders
sein – aber er kippt doch oft genug um in Hast. Nicht Ankunft,
sondern Flucht würde er in manchen Fällen richtiger lauten.
Die Anregung für heute:
Welcher Ort hilft mir, um ruhig zu werden? Wo kann ich mich fallen
lassen und entspannen?
Mehr zu U.A. Boschwitz'
Roman findet sich hier.
1 U.A.
Boschwitz, Der Reisende. Stuttgart 2018 (Original 1938), 105f.
Montag, 3. Dezember 2018
Ankunftszeit 3 – Störungsfrei in "Die Kieferninseln" von Marion Porschmann
Der Dozent Gilbert
reist auf einen eigenartigen Traum hin spontan nach Japan. Im Verlauf
von Marion Porschmanns Roman macht er sich in den Spuren des
legendären Dichters Bashō auf den Weg in
Richtung der von diesem besungenen Kieferninseln.
Doch zunächst kommt er
erst einmal an:
Sonntag, 2. Dezember 2018
Ankunftszeit 2 – Zurückgezogen in "Wie hoch die Wasser steigen" von Anja Kampmann
Kampmanns Roman ist ein
Roadmovie in fast lyrischer Sprache, eine Geschichte mit vielen
Stationen, doch ohne wirklich Ankünfte: Nach dem Unfalltod seines
Freundes verlässt Waclaw die Bohrinsel, auf der er gearbeitet hat
und macht sich auf den Weg in ein neues Leben.
Am Ende kehrt der traurige
Held in die Stadt seiner Kindheit Bottrop zurück:
Samstag, 1. Dezember 2018
1. Adventssonntag – Bildmeditation zu "Richtet euch auf und erhebt euer Haupt"
Aus dem Evangelium am Ersten
Adventssonntag:
Wenn ihr den Menschensohn mit
großer Macht und Herrlichkeit auf einer Wolke kommen seht, dann
richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung ist
nahe. (vgl. Lk 21,28)
Ankunftszeit 1 – Geglückt in "Mogador" von Martin Mosebach
Martin Mosebachs Roman
erzählt die Geschichte einer überstürzten Flucht. Der
Bankangestellte Patrick Elff ist voller Angst vor den juristischen
Folgen seiner Finanzgeschäfte aus dem Fenster des Polizeipräsidiums
gesprungen, hat das nächstbeste Flugzeug genommen und ist nach
Marokko geflogen.
Donnerstag, 29. November 2018
"Ankunftszeit" – Blog-Adventskalender in diesem Jahr
Dass „Advent“ auf
Deutsch „Ankunft“ heißt, hat sich an vielen Stellen
herumgesprochen.
Der ganze Advent feiert
Gottes Ankunft und bereitet zugleich vor auf sie.
Darum lautet das Thema des
Adventskalenders auf meinem Blog in diesem Jahr „Ankunftszeit“.
Wie schon im letzten Jahr
wird an jedem Tag ein kurzer Impuls zu diesem Thema veröffentlicht,
in diesem Jahr steht jedes Mal ein Ausschnitt aus einem (mehr oder
weniger) aktuellen Roman im Zentrum.
Die Palette ist breit
gefächert:
Wie sieht es aus, wenn
einer ankommt? Was geschieht mit dem, der kommt? Was mit denen, bei
denen er ankommt? Was geschah vorher?
Mal liegt der Fokus auf
dem Weg und seiner Beschwerlichkeit vor der Ankunft, mal beim
Ankommen selbst. Mal liegt er auf den Gefühlen, der Vorfreude oder
der Furcht. Mal geht es um die Person, die ankommt, mal um die
Personen, bei denen jemand ankommt.
Sonntag, 25. November 2018
Machtlos glücklich und trotzdem DIE Zukunft. Christkönigspredigt
0. Überblick über
Thema und Lesungen
Als Pius XI. das heutige
Fest einführte, war die Monarchie in den meisten Ländern Europas
schon Geschichte. Sieben Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, 1925,
stellte dieser Papst zum Jubiläum eines der wichtigsten Konzilien
der Antike (1600 Jahre Konzil von Nizäa) Jesus Christus als König
in den Mittelpunkt.1
Königswürde für den Gottessohn, das scheint sehr einleuchtend zu
sein.
Aber die dazu passenden
biblischen Lesungen weisen in sehr verschiedene Richtungen und sind
alles andere als klar.
Samstag, 24. November 2018
„Pamiętaj o mnie!“ Radio-Worte auf den Weg
In dieser Woche bin ich von Montag
bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus
dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin
88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg.
Hier die
(ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:
Das Gefängnis Plötzensee, in dem ich
als Seelsorger arbeite, hat verschiedene Hafthäuser, die durch eine
mehrfach unterteilte große Grünfläche miteinander verbunden sind.
Man kann sich also auch über weite Entfernungen sehen. Aber nicht
immer kann man auch zueinander kommen. So werden wichtige Nachrichten
gern mal über den Hof geschrien, natürlich in verschiedenen
Sprachen.
Freitag, 23. November 2018
High five! Radio-Worte auf den Weg
In dieser Woche bin ich von Montag
bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus
dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin
88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg.
Hier die
(ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:
In Berliner Gefängnissen sitzen
Menschen aus sehr vielen Nationen und mit den unterschiedlichsten
Muttersprachen. Viele der Inhaftierten nichtdeutscher Herkunft können
sich durch ihren Alltag in der Haft inzwischen ganz gut auf Deutsch
ausdrücken.
Aber nicht alles möchte man
auch in einer fremden Sprache sagen.
Für sehr persönliche oder gar peinliche Sachen verwenden viele Menschen gern die Sprache ihrer Herkunft, eben ihre eigene Sprache.
Für sehr persönliche oder gar peinliche Sachen verwenden viele Menschen gern die Sprache ihrer Herkunft, eben ihre eigene Sprache.
Donnerstag, 22. November 2018
Auf Seiten der Täter. Radio-Worte auf den Weg
In dieser Woche bin ich von Montag
bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus
dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin
88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg.
Hier die (ungefähr so vorgetragene)
Textfassung von heute:
Manchmal komme ich mit meiner Arbeit
als Gefängnisseelsorger an die Sympathie-Grenze. Denn zu meiner
Aufgabe gehört es, Mitgefühl für Menschen aufzubringen, die
bisweilen Furchtbares getan haben. Das gelingt mir mal mehr, mal
weniger.
Vor einiger Zeit beispielsweise traf
ich einen Mann, der mir nach einer Reihe von Gesprächen eröffnet
hat, dass er wegen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in
Haft ist. Da er auf mich zuvor einen sehr freundlichen und
sympathischen Eindruck machte, war ich einigermaßen geschockt.
Mittwoch, 21. November 2018
„Sie verurteilen mich nicht!“ Radio-Worte auf den Weg
In dieser Woche bin ich von Montag
bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus
dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin
88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg.
Hier die (ungefähr so vorgetragene)
Textfassung von heute:
Als Gefängnisseelsorger bin ich
während der Aufschlusszeiten oft auf den langen Gängen der
Hafthäuser unterwegs. Da ergeben sich manchmal gute Gespräche mit
Leuten, die nicht von sich aus in den Gottesdienst kommen. Die lockere Atmosphäre auf dem Gang
gibt uns Gelegenheit, ganz frei zu plaudern und uns über dies und
das auszutauschen.
Besonders eindrücklich ist mir eine
Begegnung mit einem muslimischen Inhaftierten im Gedächtnis
geblieben. Er interessierte sich sehr dafür, was ich als Seelsorger
mache. Ich erklärte, dass ich in erster Linie aufmerksam zuhöre und
versuche, das Problem meines Gegenübers gut zu verstehen. Dann könne
ich gemeinsam mit ihm herausfinden, was für ihn hilfreich wäre. Als
er das hörte, fragte er, ob auch er einmal zum Gespräch kommen
kann.
Dienstag, 20. November 2018
„Ich kann doch nix machen!“ Radio-Worte auf den Weg
In dieser Woche bin ich von Montag
bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus
dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin
88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg.
Hier die (ungefähr so vorgetragene)
Textfassung von heute:
Vor mir sitzt ein völlig
verunsicherter Mann in meinem Alter. Er trägt Krankenhauskleidung
und hat einen riesigen Verband am Kopf. In seinem Leben ist vieles
schief gelaufen, von Drogensucht über den Verlust der Familie bis zu
Obdachlosigkeit und Kleinkriminalität.
In meinen Gesprächen als Seelsorger im
Haftkrankenhaus habe ich es häufig mit solchen vielfach gebrochenen
Lebensgeschichten zu tun. In den meisten Fällen weiß ich auch keine
Antwort auf die hilflosen Fragen meines Gegenübers. Im Gespräch
versuchen wir zusammen herauszufinden, wie es weitergehen könnte.
Montag, 19. November 2018
Verwaist. Radio-Worte auf den Weg
In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen
spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören:
5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf
Antenne Brandenburg.
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:
Wer eine Haft antreten muss, wird zu
einem gewissen Grad zu einem Waisen, einem Einsamen. Und er
hinterlässt Waisen in seinem persönlichen Umfeld außerhalb des
Gefängnisses.[1]
Kinder verlieren ihre Väter,
Schwestern ihre Brüder und Eltern ihre Söhne. Sie verschwinden
zeitweise aus dem Leben ihrer Angehörigen. Denn zum Aufenthalt in
einer Haftanstalt gehört naturgemäß die starke Einschränkung des
Kontakts mit Familie, Bekannten und Freunden.
Samstag, 17. November 2018
Aufmerksam und erschüttert. Predigt über Apokalypse, Zeitzeichen und Missbrauch
Eigentlich finde ich
es ein wenig lästig, dass wir jährlich diese apokalyptischen Texte
(Mk
13,24-32) hören müssen, weil sich das Kirchenjahr dem Ende
neigt und vor dem Advent diese Texte vorgesehen sind.
Aber ich will versuchen,
aus diesen Texten das Beste für uns zu machen und ein paar Gedanken
darlegen.
1. Blick auf einen
schwierigen Text
Zunächst ist
festzustellen, dass die Rede ist von einer Menge sichtbarer Zeichen –
vor allem die natürliche Ordnung am Himmel scheint durcheinander zu
geraten. Es geht um Sonnen- und Mondfinsternis, Kometenhagel und eine
allgemeine Erschütterung aller Himmelskräfte.
Der Evangelist macht also
einen riesigen Horizont auf und nimmt eine globale Perspektive ein,
die an den Blick von Alexander Gerst aus der ISS erinnern, einen
Blick, den wir mit den technischen und medialen Mitteln unserer Tage
problemlos erreichen. Und wenn wir die Welt in diesem Jahr wahrnehmen
– beispielsweise die Überflutungen in Indien, den
Jahrhundertsommer mit seiner extremen Trockenheit, aktuell die
Waldbrände in Kalifornien oder auch die menschengemachten
Katastrophen wie den Krieg im Jemen oder die Flüchtlinge im
Mittelmeer – dann sehen auch wir Erschütterungen in großer Zahl.
Freitag, 16. November 2018
Unechte Sicherheiten. Gianna Molinaris "Hier ist noch alles möglich"
Wie gut passt dieses Buch
doch in unsere Zeit!
Allerorten versucht man,
Dinge festzuzurren und greifbar zu machen, nationale und begriffliche
Grenzen zu schließen, Fakten justiziabel zu formulieren und auf
diesen Wegen die allerorten aufkommenden Ängste zu bändigen. Dabei
benötigen wir doch gerade in unserer hochkomplexen Welt die
Fähigkeit, nicht alles sofort einzutüten und wegzustecken, sondern
Fragen auch mal offenzuhalten und die Unklarheit des Lebens
auszuhalten.
Ich glaube, genau darum
geht es in Gianna Molinaris Debütroman mit dem sprechenden Titel
"Hier ist noch alles möglich".1
Die junge Frau, welche die
Geschichte erzählt, beginnt gerade einen neuen Job als
Nachtwächterin in einer Kartonfabrik. Obwohl die Fabrik bald
schließen wird, soll noch ein angeblich auf dem Gelände
aufgetauchter Wolf gefangen werden. Für den gibt es allerdings keine
Beweise außer einer angeblichen Sichtung und sonst nur sehr
spärliche Hinweise. Der Roman umkreist die Arbeit vor den Monitoren
und an den Löchern des Zaunes, die Umgebung des Fabrikgeländes mit
einem nahegelegenen Flughafen und erlaubt sich von Zeit zu Zeit kurze
Abstecher auf ferne Inseln.
Samstag, 10. November 2018
Soldaten zu Bischöfen!? St. Martin und das Ende des Ersten Weltkriegs
Ein Gedanke zum
gemeinsamen Feiertag von Weltkriegsende, in Frankreich derzeit mit
großem Aufwand gefeiert, und dem Gedenken des Tagesheiligen Martin
von Tours:
Das große Sterben auf den
Schlachtfeldern und die inneren Verletzungen der heimgekehrten
Soldaten prägen meinen Blick auf den Ersten Weltkrieg. Die
überlebenden "Kriegszitterer" entsprachen nicht dem damals
vorherrschenden Bild des heroischen Kämpfers, der ausgezogen war, um
seiner Nation auf dem Schlachtfeld Ehre zu erringen.
Für die Deutschen war es
zudem die Heimkehr in eine völlig neu entstehende politische
Ordnung. "Mit Gott für Kaiser und Reich" (so ein
Filmtitel von 1916) waren sie ausgezogen – zurück kamen sie im
Gefühl, von Gott verlassen zu sein und Kaiser und Reich verloren zu
haben. Bodenlos.
Stabilität und Fliehkräfte. Neukölln, Berlin, 2018. |
Wie geordnet wirkt auf
mich dagegen die Welt der ausgehenden Antike:
Martin quittierte im
römischen Heer seinen Dienst, weil das christliche Bekenntnis und
der Kriegsdienst nicht zusammengingen.
Sein Werdegang vom
Soldaten zum Bischof entwickelte sich der Legende nach zwar entgegen
seinem Willen, aber es war ein Weg hinein in kirchliche Verantwortung
als christliche Aufgabe.
Martin ist von seinen
Kriegszügen in ein Leben der inneren Stabilität hineingegangen.
Klare mentale Verhältnisse in seinem klaren Einstehen für den
christlichen Glauben stelle ich mir vor, auch wenn die Kirche seiner
Zeit ebenfalls durch umwälzende Krisen und Konflikte ging.
Für die Zeit nach dem
Zweiten Weltkrieg wiederum ist bekannt, dass die christlichen Kirchen
als stabilisierende Faktoren das Leben der einzelnen Gläubigen
prägten, die nach dem Krieg Halt suchten. Eine Hinwendung zur
Religion scheint nach den Schrecken eines Krieges psychologisch also
durchaus nachvollziehbar.
Vielleicht findet sich
hier die passendste Parallele zwischen Weltkriegsende und dem
Heiligen Martin:
Im Krieg wird das ganze
menschliche Welterleben erschüttert. Christsein kann ein möglicher
Weg sein, dies zu verarbeiten. Dafür ist Martin ein prominentes
Beispiel. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg allerdings muss man
konstatieren, dass viele Menschen zunehmend die Nation für den
richtigen Weg hielten, mit den Herausforderungen der Zeit umzugehen.
Der Verfasser der
Biographie des Heiligen Martin, Sulpicius Severus, stellt uns das
Auftreten Martins vor dem Kaiser unter dem Stichwort des Dienstes
vor: "Bis heute habe ich dir gedient, Herr, jetzt will ich
meinem Gott dienen und den Schwachen. Ich will nicht mehr länger
kämpfen und töten. Hiermit gebe ich dir mein Schwert zurück."
Die Sehnsucht nach Frieden trieb ihn zu Gott und die Sehnsucht nach Gott trieb ihn zum Frieden.
Kritischer Nachsatz:
Ich frage mich (gänzlich unhistorisch), warum dieser fromme Christ
Martin unbedingt ein kirchliches Leitungsamt erhalten musste.
Verdammter Klerikalismus! Weshalb diese Fixierung auf den Bischof?
Hätte das Zeugnis eines Getauften, das Leben eines "einfachen"
Eremiten (der er zeitweise war) nicht eine besondere, andere
Strahlkraft entwickeln können?
Ich ärgere mich, dass
Martin sich nicht heftiger gegen seine Inthronisierung zur Wehr
gesetzt hat, um mit seinem Leben als christlicher Laie zu zeigen, wie
lebendiges Christsein aussehen kann.
Allerdings ... (und nun
folgen alle legitimen historischen und theologischen Gegengründe,
die ich hier tunlichst nicht aufführe)
Donnerstag, 8. November 2018
"Es sind zu viele Juden im Zug" – Gedanken zum 9. November
"Es sind zu viele Juden im Zug,
dachte Silbermann."1
Das sagt kein Antisemit, sondern die
Hauptperson in Ulrich A. Boschwitz' wiederentdeckten und in diesem
Jahr erstmals herausgegebenen Roman "Der Reisende".
Silbermann, wohlhabender Unternehmer im Deutschland der 1930er Jahre
ist selbst Jude und, wie der Titel verrät, auf Reisen. Dies ist er
jedoch nicht zum Vergnügen, sondern Silbermann befindet sich auf der
Flucht. Er ist in den Strudel der nationalsozialistischen
Machtdemonstrationen und Ausschreitungen jener Jahre geraten und sieht
sein gesamtes bisheriges Leben zerstört.
Vom ehemaligen Geschäftspartner wurde
er über den Tisch gezogen, SA-Schlägertrupps haben seine Wohnung
verwüstet, seine Frau ist zu ihrem Bruder geflohen, der ihn selbst
jedoch nicht beherbergen will und vor lauter Angst, irgendwo
dauerhaft zu bleiben, reist der zunehmend gestresste und paranoide
Silbermann immer wieder quer durch Deutschland.
Samstag, 3. November 2018
"Ich wollte dir nur mal eben sagen..." – Dreimal Liebe im Lied
Zum Evangelium des Sonntags (Mk
12,28b-34), das von Gottes- und Nächstenliebe handelt, kamen mir
drei Lieder in den Sinn.
Mehr als nur "Ein
Kompliment" machen die Musiker von Sportfreunde
Stiller mit ihrem Liebeslied indem sie im Song
einfach Vergleich an Vergleich reihen:
Donnerstag, 1. November 2018
Allerheiligen: Hochfest der Vielfalt
Der Gedanke kann kurz und bündig
formuliert werden:
"Each saint was holy in his or
her unique way, revealing how God celebrates individuality."1
So verschieden die Menschen, so
verschieden auch die Heiligen.
Mittwoch, 31. Oktober 2018
Reformation: Energieverlust oder -gewinn?
Nato-Manöver,
Atomwaffenbau oder INF-Verträge – wenn man die gewaltigen
Anstrengungen und riesigen Kosten sieht, mit denen die Nationen
versuchen, einander mit Waffengewalt beizukommen und zu übertrumpfen,
dann schaudert es mich. Noch dazu im gleichen Moment die
Klimaveränderungen solch gewaltige Ausmaße annehmen, dass es nun
wahrlich bessere Möglichkeiten gäbe, die menschlichen Fähigkeiten
und Energien zu nutzen.
Ähnlich steht es mit der
Reformation, deren Gedenken heute begangen wird.
So, wie die evangelische
und die katholische Kirche (mindestens im deutschen Sprachraum) in
sozialethischen, umweltehischen und in vielen theologischen Fragen
miteinander können, fragt man sich, ob die ganze Kirchenspaltung und
(theologische) Kriegführung es überhaupt wert war.
Samstag, 27. Oktober 2018
Was wurde aus Bartimäus? Recherchen und Phantasien zum Sonntagsevangelium
Seine Begegnung mit Jesus
(Mk 10,45-52) ist eine der bekanntesten Heilungsgeschichten des Neuen
Testaments geworden:
Am Rande der Straße nach
Jericho sitzend hört der blinde Bettler Bartimäus, dass Jesus
vorbeikommt und ruft nach ihm: "Sohn Davids, Jesus, hab
Erbarmen mit mir!" (v47) Entgegen dem Widerstand seiner
Begleiter lässt Jesus ihn zu sich kommen und fragt ihn, was er will.
Die gläubige Antwort "Ich möchte sehen können"
(v51) führt zu seiner Heilung.
Anschließend heißt es:
"und er folgte Jesus auf seinem Weg nach." (v52)
Doch dann verschwindet
Bartimäus aus der Bibel. Zwar heißt es in den anschließenden
Kapiteln bei Markus regelmäßig, dass Jesus mit den Jüngern und
nicht nur mit "den Zwölf", also den namentlich bekannten
Aposteln, unterwegs ist, aber Namen aus dieser größeren Gruppe
tauchen nicht mehr auf.
Samstag, 20. Oktober 2018
Der Macht nahe sein? Enttäuschung auf ganzer Linie.
1.
Sie kennen das Gefühl
wahrscheinlich und haben sicher auch schon das ein oder andere Mal zu
hören bekommen, dass jemand sagt: Du bist eine Enttäuschung für
mich.
Jemand hatte Erwartungen
an Sie gestellt und sich etwas Schönes von Ihnen erhofft – und Sie
haben versagt.
Ich gebe Ihnen ein
Beispiel aus meinem Berufsalltag:
An manchen Tagen im
Gefängnis habe ich den Eindruck, dass ich nur enttäuschen kann.
Freitag, 19. Oktober 2018
Schrei um Erbarmen. Gebet nach einem Tag im Gefängnis
Großer Gott,
selten ist mir danach, zu schreien und dich um Erbarmen anzurufen, wenn ich aus dem Gefängnis komme.
selten ist mir danach, zu schreien und dich um Erbarmen anzurufen, wenn ich aus dem Gefängnis komme.
Aber heute ist so ein Tag, an dem ich nicht anders kann!
Was fährt in die Menschen, dass sie sich gegenseitig so fertigmachen? Warum muss es immer wieder bis kurz vor den Anschlag gehen? Warum zu oft darüber hinaus?
Samstag, 13. Oktober 2018
"Fromm warst du ja, aber..." Oscar Romero und die Kirche der Armen
„Du hast dich sehr
bemüht, bist fromm gewesen, warst Rom treu und hast alle Regeln
befolgt, dich mit den wichtigen Leuten gut verstanden und bist damit
in der kirchlichen Hierarchie weit gekommen. Aber das Entscheidende
fehlt dir noch - die Nähe zur Armut und den Armen!“
Ganz im Sinne des Sonntagsevangeliums (Mk 10,17-30) hätte Jesus mit solchen Worten zu Erzbischof Oscar Romero sprechen können, als dieser noch ein „guter“, und das heißt ein in schon lang vorhandenen Bahnen agierender Bischof in El Salvador war.
Dass Romero allerdings an diesem Sonntag heiliggesprochen wird, hat nicht damit zu tun, wie er bis Anfang 1977 sein Bischofsamt in dem von sozialen Verwerfungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen erschütterten Land in Mittelamerika ausübte.
Dienstag, 9. Oktober 2018
Vater, Vergebung und Versuchung. Vom Vaterunser
Der heutige
Evangelientext (Lk 11,1-4) bietet die Version des Vaterunsers aus
dem Lukasevangelium.
Die Jünger Jesu wollen
von ihrem Meister wissen, wie sie beten sollen. Jesu Antwort ist
knapp und deutlich, aber sie lohnt einen näheren Blick, da es sich
ja um das wichtigste Gebet der Christen handelt.
Ich konzentriere mich auf
drei Aspekte.
Der Vater wartet. Neukölln, Berlin, 2015. |
1. Vater unser im
Himmel
Gott lässt sich von uns
als Vater anreden. Und damit als der, von dem wir herkommen. Das
heißt, wir sind ihm von unserem Ursprung her ähnlich und nahe.
Gott spricht zu jedem
Einzelnen: Du kommst von mir – und ich wünsche mir, dass du
auch nach mir kommst und mir immer ähnlicher wirst. So ist
Gott als Vater zugleich der, der liebevoll wartet, dass wir zu ihm
kommen.
Eigentlich ein komisches
Bild: Gott wartet auf uns. Aber genau so stellt Jesus uns Gott vor in
seinem Gleichnis vom Verlorenen Sohn: Der Sohn hat Mist gebaut und
alles ausgegeben, was er hatte und kommt nun kleinmütig wieder –
da steht sein Vater schon mit offenen Armen da und nimmt ihn in
Empfang.
Je nachdem, welche
Erfahrungen wir selbst mit unseren Vätern gemacht haben, wird uns
das rasch einleuchten oder auch nicht.
Wer den eigenen Vater nur
als einen Arbeitenden, der spät nach Hause kommt, erlebt hat, oder
als einen, der vielleicht sehr ungeduldig und aufbrausend ist,
möglicherweise als einen, der seine Wut nicht im Griff hat, dem
bietet sich Gott mit einem gänzlich anderen und neuen Vaterbild an.
Gott ist zunächst ein
Vater, der da ist. Er versteckt sich nicht, wenn wir ihn suchen und
er bleibt nicht in seinem Himmel, wenn wir uns auf den Weg zu ihm
machen. Sondern er ist da und wartet und kommt uns in Jesus sogar
entgegen.
Weiter ist Gott ein Vater,
der uns liebevoll anschaut und uns bittet, bei ihm zu sein. Er ruft
uns immer wieder. Dafür muss er sehr geduldig sein. Denn wir machen
immer wieder, was wir wollen und oft genug ist das nicht anwesend
sein, geduldig sein, liebevoll sein.
Schließlich ein
Stolperstein: Gott liebt uns alle. Ich halte das deshalb für einen
Stolperstein, weil es uns so schwer fällt, zu glauben, dass dieser
Stinkstiefel da für Gott genauso liebenswert sein soll wie ich. Aber
genauso ist es: Dieser Vater-Gott liebt jede und jeden. Ob wir im
Gefängnis sitzen oder ob wir dort arbeiten. Ob wir drogenabhängig
sind und zum x-ten Mal rückfällig geworden sind oder ob wir unsere
Süchte einigermaßen unter Kontrolle haben. Ob wir schnell
zuschlagen oder uns dauernd vom Leben geschlagen fühlen.
Wer also im Gebet Gott als
Vater anspricht, der verlässt sich beruhigt darauf, dass Gott mit
ganzer Liebe da ist. Dass Gott ihn erwartet.
Und er sieht seine
Nachbarn ebenfalls als Gottes geliebte Kinder an.
2. Vergib uns unsere
Schuld – wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Eben klang es schon an,
dass der Vater in Jesu Gleichnis ein vergebender und großzügiger
Vater ist.
Aber im Vaterunser wird
darüber hinaus davon gesprochen, dass nicht nur Gott uns vergibt,
sondern auch wir unseren Nachbarn.
Manch einer mag sich
fragen: Was hat meine Schuld mit der Schuld meines Nächsten zu tun?
Auf einer rein
juristischen Ebene ist beispielsweise klar, dass die eine Straftat
dieser Person und die andere Straftat jener Person nicht direkt
miteinander zu tun haben. Und es ist auch klar, dass ein Richter sein
Strafmaß nicht davon abhängig macht, ob ich sonst ein netter Mensch
bin.
Wenngleich, es deutet sich
an, wenn manche Aspekte einen Einfluss auf den Schuldspruch und
später die Strafdauer haben: gibt es eine Einsicht in die Schuld,
gibt es das Bemühen um Wiedergutmachung, gibt es Vorstrafen in der
gleichen Richtung oder gibt es sie nicht?
Vergeben statt am Rad drehen. Fangschleuse, 2016. |
Vor Gott ist klar, dass
wir alle schuldig werden und Vergebung brauchen, egal ob ein
irdischer Richter etwas dazu sagt oder nicht.
Und vor Gott geht es zwar
auch um unsere Taten – aber in erster Linie geht es ihm um unser
Herz.
Wenn wir Gott um Vergebung
bitten, dann öffnen wir ihm unser Herz. Und unser geöffnetes Herz wird
auch offen sein für die Anderen. Für jene, die an uns schuldig
geworden sind, für jene, die bei uns Schulden haben, für jene, die
unsere Großzügigkeit brauchen.
Das heißt nun aber von
der anderen Seite her nicht, dass wir einfach so Schulden machen
können, von der Großzügigkeit anderer leben und diese ausnutzen
(ich habe hier vor allem die im Gefängnis allgegenwärtige
Tabakfrage vor Augen).
Aber es bedeutet, dass wir
als Menschen, die etwas geschenkt bekommen, auch anderen schenken können und sollen.
Konkret auf Vergebung
bezogen: Wo wir merken, dass uns vergeben wird, dass wir uns nicht
mehr in der Schuld suhlen müssen, dass uns aufgeholfen wird – dort
müssen auch wir selbst nicht kleinlich sein, sondern können es uns
leisten, nachsichtig mit den Schwächen unserer Nächsten zu sein.
Wer also so betet, der
kann nicht selbstgerecht auf Andere herabsehen, denn er weiß, dass
er selbst auch Vergebung und Verzeihung nötig hat. „Ja es
ergibt sich das Erschütternde, dass er an sich selbst staunend
erfährt, wie ihn die eigene Unzulänglichkeit und
Heruntergekommenheit erbarmender macht", wie es Gertrud von
Le Fort ausdrückt.1
3. Führe uns nicht in
Versuchung
Hier versteckt sich eine
der kniffligsten Fragen für Christen überhaupt: Wie kommen wir mit
den Versuchungen zurecht? Also mit all dem, was so leicht bei uns
andocken kann und uns dabei doch nach unten zieht und kaputt macht.
Das Vaterunser geht davon aus, dass Versuchungen zum Leben dazu gehören.
Viele Menschen hier im
Haftkrankenhaus kennen dies aus therapeutischen Kontexten: In mir
will etwas unbedingt. Da geht es um Triebkontrolle oder um
Bedürfnisaufschub, darum, nicht schon wieder rückfällig zu werden
und so fort.
Die Religionen kennen
diese Problematik seit langem: Im Buddhismus ist eines der
wichtigsten Ziele, um ins Nirwana zu kommen, dass man nicht weiterhin
Dinge will. Es geht also darum, sein Herz nicht an etwas zu hängen
und sich innerlich immerzu danach zu verzehren. Mit anderen Worten:
die Versuchung gar nicht erst groß werden zu lassen. Auch das
Judentum hat vor beinahe 3000 Jahren in den Zehn Geboten formuliert:
"Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. Du
sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven
oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das
deinem Nächsten gehört." (Ex
20,17)
Für jeden, scheint dieser
Text sagen zu wollen, lauert die Versuchung woanders und jeder muss
für sich hören, was er denn so unbedingt haben will und dagegen ankämpfen.
Für die einen mag es eine
Versuchung sein, wenn ich jetzt eine bestimmte Tablettenschachtel
hier hinlege, für die anderen wäre es vielleicht eher eine
Versuchung, wenn ich meinen Schlüssel oder das Funkgerät hier
liegenließe und den Raum kurz verlassen würde.
Das Entscheidende
geschieht auch hier im Inneren. Denn wir können Gott zwar bitten,
dass wir nicht in die Versuchung geraten (wozu es in diesem Jahr eine
spannende theologische
Debatte gab), aber wenn wir einmal versucht werden, müssen
wir uns zu dieser Versuchung eben verhalten. Und wir alle wissen, dass das
mitunter schneller geht als man so glaubt.
Aber als Menschen haben
wir immerhin die Möglichkeit, uns unterschiedlich zu verhalten. Denn
wir können in die Distanz zu uns selbst zu gehen – uns selbst
anschauen als herausgeforderte und manchmal überforderte Menschen.
Und in dieser Distanz vielleicht leichter eine Antwort finden, als
wenn wir mitten in der Versuchung feststecken.
So lässt sich vielleicht
von den Buddhisten die Frage abschauen, was es denn ist, das mir
wirklich hilft und mich weiterbringt. Ist es das „Anhaften" an
den Dingen, die (Sehn-)Sucht nach meinen kleinen Hilfsmitteln und
Muntermachern, das ständige Habenwollen?
Was bringt mich im Leben
weiter, der kurzfristige Kick und die Befriedigung meiner
unmittelbaren Bedürfnisse und Triebe – oder gibt es andere Wege?
Wenn wir also beten, dass
Gott uns nicht in Versuchung führen solle, dann bedeutet das auch,
darum zu bitten, dass wir klarer erkennen, was uns gegen die
Versuchung hilft. Wir müssen jeder für sich einen guten Grund finden, um der Sache, die uns erst wie magisch anzieht und dann
runter zieht, nicht schon wieder auf den Leim zu gehen.
Wer darum betet, von den
Versuchungen verschont zu werden, der weiß um seine eigene Schwäche.
Der kann mehr und mehr üben, mindestens zeitweise zu sich und seinen
Neigungen in Distanz zu gehen. Der wird sich einen überzeugenden
Grund suchen, der Versuchung nicht nachzugeben.
Zum Mitnehmen bleiben also
vielleicht diese drei Punkte:
1. Wir können uns darauf
verlassen, dass Gott als naher, geduldiger und gütiger Vater auf uns
wartet.
2. Wir können selbst
vergeben und barmherziger werden, weil wir wissen, dass wir nicht
besser sind als die anderen.
3. Wir können üben,
unsere hinderlichen Bedürfnisse und Triebe aus innerer Distanz
wahrzunehmen und uns nicht von ihnen kapern zu lassen.
Donnerstag, 4. Oktober 2018
Ehelosigkeit geht nicht nebenbei. Ein Brief aus Erfahrung
Auf Wunsch des zuständigen P. Clemens Blattert SJ habe ich mir vor einiger Zeit mal Gedanken gemacht, was ich als ehemaliger Jesuit einem (potentiellen) Interessenten am Jesuitenorden schreiben würde. Und zwar dies:
Lieber Interessent,
im Jahr 2007 bin ich ins Noviziat des Jesuitenordens eingetreten, habe mich aber 2012 entschieden, wieder auszutreten. Heute schreibe ich Dir ein paar Gedanken, wie es zum Austritt kam – aber auch, warum es sich für Dich lohnen kann, auszuprobieren, ob das Ordensleben etwas für dich ist.
Als ich dem Provinzial schrieb, dass ich glaubte, nicht länger im Orden verbleiben zu können und deshalb um die Entlassung bat, hatte ich zuvor schon lange hin- und her überlegt. Ich hatte viel gebetet, abgewogen, hier ein Für und dort ein Wider bedacht und schließlich eine ganze Reihe von Dingen ausformuliert, die mich störten und Gründe für meinen Austritt darstellen sollten.
Lieber Interessent,
im Jahr 2007 bin ich ins Noviziat des Jesuitenordens eingetreten, habe mich aber 2012 entschieden, wieder auszutreten. Heute schreibe ich Dir ein paar Gedanken, wie es zum Austritt kam – aber auch, warum es sich für Dich lohnen kann, auszuprobieren, ob das Ordensleben etwas für dich ist.
Als ich dem Provinzial schrieb, dass ich glaubte, nicht länger im Orden verbleiben zu können und deshalb um die Entlassung bat, hatte ich zuvor schon lange hin- und her überlegt. Ich hatte viel gebetet, abgewogen, hier ein Für und dort ein Wider bedacht und schließlich eine ganze Reihe von Dingen ausformuliert, die mich störten und Gründe für meinen Austritt darstellen sollten.
Samstag, 29. September 2018
Hand ab und alles gut? Notizen zum Sonntagsevangelium
"Wenn dich deine Hand zum Bösen
verführt, dann hau sie ab; es ist besser für dich, verstümmelt in
das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen".
(Mk
9,43)
Kunstpause.
Durchatmen.
Und dann: Was soll denn das?
Einfach ganz ruhig von vorne anfangen:
Es geht um die Frage, wie mit Versuchungen umzugehen sei. Jesus ist
da anscheinend radikal.
Ich höre so etwas bisweilen im
Gefängnis: "Ich muss wirklich mal einen radikalen Schnitt
machen!"
Donnerstag, 27. September 2018
Das schreckliche Schwanken. "Der Vogelgott" von Susanne Röckel
Ich wusste vorher nicht, was mich
bei der Lektüre dieses Romans "Der Vogelgott"1
erwartet – aber ich wurde nicht enttäuscht.
Susanne Röckel hat in
dunklen Farben die Geschichte dreier Geschwister gemalt, die in
unterschiedlicher Weise einer geheimnisvollen Religion auf die Spur
kommen.
Da ist zunächst Thedor,
der jüngste der drei, der sonst nie etwas auf die Reihe bekommt.
Ausgerechnet er macht sich auf den Weg in die weitgehend unbekannte
Region der Aza, um dort humanitäre Hilfe zu leisten – verführt
durch einen faulig riechenden und doch charismatischen Unbekannten,
der ihm den Eindruck vermittelt hatte, gerade er sei dort besonders
vonnöten. In der Fremde angekommen scheint es zunächst, als sei er
vergessen worden.
Mittwoch, 26. September 2018
Cosmas und Damian – Heilung ist unentgeltlich
Im Evangelium
(Lk 9,1-10) am Fest der heiligen Ärzte Cosmas
und Damian lesen wir, dass Jesus seine Jünger losschickt, um zu
heilen. Drei Gedanken dazu.
1 Christentum bedeutet Heilung
Gott will, dass wir heil werden. Und
zwar an Seele und Leib.
Dazu sendet er die Christen, damit sie
in seinem Namen Heilung
und Heil wirken.
Denn es ist seit dem Beginn Teil der
christlichen Botschaft und Praxis, auch für die körperliche
Gesundheit anderer zu sorgen.
Samstag, 22. September 2018
Kinder in die Mitte! Von Kind- und Vatersein. Von Vertrauen und Verantwortung.
1. "Jesus stellte ein Kind
in ihre Mitte und nahm es in die Arme" (Mk 9,36)
Dieser zentrale Satz aus dem Evangelium des Sonntags (Mk 9,30-37) lässt bei manch einem die Alarmglocken
schrillen.
Denn die Rede davon, dass eine
religiöse Autorität ein Kind in die Arme nimmt, hat in der
katholischen Kirche ihre Unschuld verloren. Seit erneut Berichte über
die sexuellen Übergriffe durch katholische Geistliche in den USA und
in Deutschland bekannt wurden, ist das religiöse Sprechen über
Kinder eine heikle Sache geworden.
Jedenfalls tue ich mich schwer, hier
fromme Gedanken zu diesem Thema zu verkünden.
Viel Schatten durch das Licht. Jakobskirche, Stralsund, 2018. |
Denn ich bin Mitarbeiter einer
Institution, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg das eigene Ansehen
über den Schutz und die Würde der Opfer sexueller Gewalt gestellt
hat. Durch ständiges Wegsehen und systematische Vertuschung, durch
klammheimliche Versetzungen der Täter und die Beschimpfung der
Aufklärer als Nestbeschmutzer hat die katholische Kirche sich oft
genug als unwillens und unfähig erwiesen, dem Verbrechen in ihrer
Mitte ein Ende zu machen. Das Leiden der Opfer von sexuellen
Übergriffen ist nun nicht mehr ungeschehen zu machen.
Was aber möglich ist: Den Opfern nun endlich zuzuhören und zu erfahren, was durch den Missbrauch
zerstört worden ist.
Dann muss es um Gerechtigkeit gehen:
Täter müssen klar benannt und zur Rechenschaft gezogen werden,
soweit dies noch möglich ist.
Schießlich die Frage nach den
Strukturen: Beschwerdewege und Schutzmechanismen sind inzwischen in
vielen Teilen der Kirche etabliert und es ist zu hoffen, dass damit
auch ein Mentalitätswandel einhergegangen ist. Aber reicht das?
Papst Franziskus hat den Klerikalismus, also die Überhöhung
geistlicher Amtsträger, als Ursache angeprangert. Auch die
kirchliche Sexualmoral, die Hierachien, die undurchsichtigen
Versetzungen tragen ihren Teil bei.
Wie dem auch sei: Meine Kirche hat vor
dem Anspruch Jesu kläglich versagt, denn nicht die Sorge für die
Kinder stand im Zentrum, sondern ihr eigener Schutz.
Verantwortungslosigkeit pur! Dieses Versagen müssen wir heute mit
Trauer und Scham erkennen.
Aber es ist eine zwiespältige Sache,
als Mitglied der Kirche irgendwie sich selbst und dann doch nicht
sich selbst anzuklagen, da ich ja persönlich oft genug gar keinen
Einfluss auf solche Dinge habe.
2. "Wer
ein Kind aufnimmt, der nimmt mich auf" (Mk 9,37)
Deshalb will ich den Blick von der
heutigen Situation zurück auf Jesu Intention lenken:
Jesus war voller Ehrfurcht und
Wertschätzung gegenüber den Kindern.
Er stellte sie bisweilen als religiöse
Vorbilder hin: "Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein
Kind, der wird nicht hineinkommen." (Lk 18,17) Und das tut
er in einer Zeit, als der Kitsch von Babys, die auf den großen
Händen der Erwachsenen schlafen, undenkbar war, als noch keine
Kinderbilder mit riesigen Kulleraugen existierten und noch kein süßes
Jesuskind mit blonden Locken verehrt wurde.
Kinder waren keine Vorbilder, sie waren
in den Augen seiner Zeitgenossen nur unfertige Erwachsene und
reichlich defizitär. Dagegen rückt Jesus ihre Offenheit für Gott
und sein Wirken ins Zentrum.
Heute nun geht er noch einen Schritt
weiter und spricht von der engen Verbindung zwischen dem Aufnehmen
eines Kindes und dem Aufnehmen Gottes selbst: "Wer ein
solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber
mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich
gesandt hat." (v37)
Kinder ändern die Lebensperspektive. Inselkirche, Hiddensee, 2018. |
Aber was soll das bedeuten: ein Kind
"aufnehmen"?
In den seltensten Fällen laufen
irgendwo Kinder auf der Straße herum, die man dann aufnimmt. Darum
wird es also nicht gehen.
Kinder zu haben aber bedeutet, bei
aller Freude und Lockerheit, die sie ins Leben bringen können, in
erster Linie Arbeit. Es ist ein mühevolles Tun, den eigenen
Tagesrhythmus an einem Kind auszurichten, es mit Geduld an Hygiene und
Essen heranzuführen, vollgekackte Windeln zu wechseln, in der
Krankheit und bei jedwedem Geschrei ruhig und geduldig zu bleiben,
und nicht zuletzt die Balance zu finden zwischen nachsichtiger Liebe
und den Regeln.
Diese Mühe muss man, wenn ein Kind
erst einmal da ist, einfach auf sich nehmen, denn ohne die liebevolle
Sorge kann ein Kind nicht leben.
Eindrucksvoll zeigt das der aktuelle
Roman "Neujahr" von Juli Zeh, in dem sich dem
Familienvater Henning im Urlaub die schreckliche Erfahrung des
Verlassenseins wieder ins Gedächtnis drängt. Vor vielen Jahren
waren seine Eltern beim Urlaub auf Lanzarote am Morgen plötzlich aus
dem Ferienhaus verschwunden gewesen und hatten den Vierjährigen mit
seiner zwei Jahre jüngeren Schwester allein gelassen. Die Autorin beschreibt aus der Sicht
des zunächst besonnen agierenden Henning, den immer wieder und immer
stärker die Panik anfällt, bis ihn die ungeheure Verantwortung, in
die er urplötzlich gestellt ist, fast umwirft, einen verzweifelten Kampf ums Überleben und die sinnlose
Suche nach einem Sinn der Verlorenheit.
Kindliche Überforderung und die
völlige Unfähigkeit, in dieser haltlose Situation einen Halt zu
finden, haben ihre traumatisierenden Spuren in seinem Leben als
Ehemann und Vater hinterlassen. Es ist eine dem eben genannten
Missbrauch verwandte Form der Traumatisierung.
Mich hat dieser Roman völlig fertig
gemacht – und zugleich vollends fasziniert. Denn er zeigt (neben
vielen anderen Dingen) aus verschiedenen Perspektiven, wie
unabdingbar wichtig die elterliche Sorge für das Wohl eines Kindes
ist.
Wenn Jesus nun dazu auffordert, Kinder
aufzunehmen, dann geht es genau um diese Verantwortung, in der
Erwachsene gegenüber Kindern stehen. Dasein, sich kümmern,
liebevoll mitgehen und zeigen, dass sie nicht allein sind. Das ist
ein Dienst, bei dem man selbst nicht an erster Stelle steht.
Insofern gehört der Schutz von Kindern
zum Zentrum des Christlichen!
3. "Vater unser im Himmel"
(Mt 6,9)
Zugleich ist diese Haltung, religiös
gesprochen, die Art von Väterlichkeit, die wir auch von Gott als
unserem himmlischen Vater erwarten dürfen.
Hier kreuzen sich nämlich die
theologischen Linien: Einerseits dürfen wir uns vertrauensvoll als
gesegnete Kinder Gottes fühlen und ihn im Vaterunser als unseren
Vater ansprechen. Andererseits sind wir in die Pflicht genommen,
Kindern verantwortlich und dienend zu begegnen.
Beide inneren Haltungen, die des
vertrauenden Kindes und die des verantwortlichen Erwachsenen, haben
Platz in uns und beide können uns zu dem einen Ziel führen: dass
wir Gott näher kommen.
Denn das ist ja das Ziel des
Evangeliums: Jesus will zeigen, auf welchem Wege wir Gott begegnen
können.
Zusammengefasst lässt sich aus dem
bisher Genannten verallgemeinernd sagen, dass wir Gott begegnen
können, wenn wir Verantwortung übernehmen, wenn wir dienen, wenn
wir nicht uns selbst an erste Stelle setzen.
(Entgegengesetzt also zu dem Verhalten,
wie es Priester und Bischöfe im Zuge des Missbrauchs und des Umgangs
mit dem Missbrauch an den Tag legten – bzw. verschleierten.)
Darauf deutet auch der andere wichtige
Satz des Evangeliums hin: "Wer der Erste sein will, soll der
Letzte von allen und der Diener aller sein." (v35)
Das eben Erwähnte findet sich darin
wieder – und noch mehr.
Der Satz erinnert nämlich daran, dass
die Werte, von denen ich eben sprach, nicht selbstverständlich,
nicht leicht zu leben und schon gar nicht populär sind. Denn sie zu
leben bedeutet, Abstriche zu machen, nicht zu drängeln, runterkommen
vom eigenen hohen Ross.
Den Verantwortlichen in der Kirche
stünde das in diesen Zeiten gut an. Papst Franziskus geht nach
meiner Ansicht in vielen Bereichen schon mit einem guten Beispiel
voran.
Aber auch alle anderen Christen, die
Gott als Vater anrufen, sagen mit dieser Anrede Gottes, dass sie
selbst nicht auf dem ersten Platz stehen. Sondern dass sie ihm im
Gebet ihr Leben anvertrauen – die Verherrlichung seines Namens, das
tägliche Brot, die eigene Schuld, die Rettung vor den Versuchungen
und allem Bösen. Wer so betet, stellt sich selbst nicht in die erste
Reihe.
So kann das Beten des Vaterunsers uns
vielleicht eine gute Erinnerung sein an das, was uns das Evangelium
auträgt:
Zu Gott als Vater sprechen bedeutet
auch, auf den Schutz der Schwächsten zu achten. Es bedeutet, sich
nicht nach vorn zu stellen, sondern Verantwortung zu übernehmen und
zu dienen.
Blick in Abgründe / Blick nach draußen. Heimvolkshochschule Seddiner See, 2016. |
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Montag, 17. September 2018
"Ihr Gesicht war mit Staub bestreut" Hildegard von Bingen über die Schande der Kirche.
Um 1170 schrieb die heutige
Tagesheilige Hildegard von Bingen an Abt Werner von Kirchheim von
einer Vision der Kirche in der Gestalt einer Frau.
Ihre Beschreibung der
Kirchenverschmutzung durch ihre eigenen Amtsträger passt ganz gut
zur heutigen Lage.
Hier ein Auszug:
Samstag, 15. September 2018
Hohle Bekenntnisse. Oder: Das Evangelium als Religionskritik.
Petrus hat es wirklich nicht leicht.
Da ist er nun der Erste aus dem Kreis
der Jünger, der ausspricht, was allen auf den Lippen brennt – und
dann ist sein nächster Schritt gleich ein solcher Patzer!
Der Hergang des Sonntagsevangeliums
(Mk 8,27-35) ist schnell erzählt: Als Jesus seine Jünger fragt, für
wen ihn die Leute halten, zählen sie ein paar Namen auf, die im
Rahmen des religiös Bekannten und Erwartbaren bleiben. Mit der
weiteren Frage, wer er für sie selbst ist, bekommt Petrus seine
Chance: Jetzt kann er zeigen, was er begriffen hat und wie groß sein
Vertrauen in Jesus ist – "Du bist der Messias!"
(v29).
Dienstag, 11. September 2018
Die gekrönte Last
Heute habe ich eine kurze Andacht für die Pflegekräfte eines Altenheimes gehalten.
Nach einer kurzen Stilleübung waren mir folgende Gedanken wichtig:
Sie werden tagtäglich durch viele Aufgaben in Anspruch genommen. In der Familie und im Haushalt, aber auch hier bei der Arbeit mit den Senioren. Gerade diese Arbeit erfährt nicht viel Dankbarkeit und Anerkennung, und der Wert der Pflege wird in unserer Gesellschaft oftmals nur unzureichend gewürdigt.
Wenn dazu auch noch ein besonderer Schicksalsschlag wie eine Krankheit oder ein persönlicher Verlust kommt, dann kann es sein, dass man das Leben als eine Last empfindet, die man nicht mehr tragen will.
Symbolisch habe ich Ihnen dafür dieses 100kg-Gewicht mitgebracht.
Nach einer kurzen Stilleübung waren mir folgende Gedanken wichtig:
Sie werden tagtäglich durch viele Aufgaben in Anspruch genommen. In der Familie und im Haushalt, aber auch hier bei der Arbeit mit den Senioren. Gerade diese Arbeit erfährt nicht viel Dankbarkeit und Anerkennung, und der Wert der Pflege wird in unserer Gesellschaft oftmals nur unzureichend gewürdigt.
Wenn dazu auch noch ein besonderer Schicksalsschlag wie eine Krankheit oder ein persönlicher Verlust kommt, dann kann es sein, dass man das Leben als eine Last empfindet, die man nicht mehr tragen will.
Symbolisch habe ich Ihnen dafür dieses 100kg-Gewicht mitgebracht.
Samstag, 8. September 2018
"Ich atme nicht ohne die Stimme" Hilde Domin und der Atem des Lebens
Mittwoch, 5. September 2018
Wenn ich den Hass sehe. Einige Anmerkungen in eigener Sache
Mir fehlen die Worte angesichts der
Geschehnisse in der Welt.
Wer diesen Blog etwas kennt, weiß, dass ich Wert lege auf Ausgewogenheit und Einordnung, auf die Berücksichtigung weiterer Perspektiven und das Einhegen von Polarisierungen.
Ich leiste es mir, keine Bücher zu verreißen und niemanden unnötig schlecht darzustellen ohne mich dabei zu verbiegen.
Sicher kommen auch in mir intensive
Gefühle hoch zum verbrecherischen Umgang mit Missbrauch in der
katholischen Kirche, wie derzeit in den USA zu beobachten. Oder zu
den Chemnitzer Hetzjagden auf nicht „bio-deutsch"
aussehende Menschen während der letzten Woche. Oder zu den
Grabenkämpfen im Vatikan, zu Trumps Entfesselung neuer Konfliktherde
in der Welt, zur Tragödie der Flüchtlingsschiffe vor den Häfen
Europas...
Samstag, 1. September 2018
Es ist das Herz, das zählt! Jesus, Chemnitz und das Händewaschen
"...von innen, aus dem Herzen
der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord,
Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid,
Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen
und macht den Menschen unrein."
(aus dem
Sonntagsevangelium, hier Mk 7,21-23)
Ein Text, der wie gemacht ist für
diese Tage, in denen Deutschland nach den Ausschreitungen in Chemnitz
in Aufruhr ist.
Es gibt keinen plausiblen Grund, der
die Attacken auf den Rechtsstaat, die Toleranz sowie unbeteiligte Personen und Polizisten
rechtfertigte. Denn neben Gebrüll, pauschalen
Schuldzuweisungen, rassistischen Ausfälle und Wut auf "die da oben"
war sogar echte Sorge zu vernehmen – aber Ausdruck der
Trauer um einen Getöteten, wie anfangs noch behauptet, waren die
pogromartigen Szenen ganz sicher nicht.
Dienstag, 28. August 2018
Kompass, Schere und Verbandszeug. Impuls zum Schuljahresbeginn
Meine Tätigkeit im Jugendbildungshaus des Erzbistums bringt
es mit sich, dass ich regelmäßige Andachten und Impulse für Kennenlernfahrten
gestalte.
Es folgt das Beispiel eines kurzen Impulses im Anschluss
an eine biblische Lesung aus dem Matthäusevangelium (ähnlich hier). Der Einfachheit halber
wird die Lesung hier stückweise dargestellt.
Samstag, 25. August 2018
Von zwei Gründen, kein Christ (mehr) zu sein.
Es gibt genügend Gründe, warum man
der Meinung sein kann, es sei besser, kein Christ zu sein.
Ich fasse heute einmal zwei Beweggründe
ins Auge, die weiter voneinander entfernt nicht sein können.
Es mögen nicht die gängigsten Gründe
sein, aber sie sind auch nicht gänzlich ohne Relevanz.
1.
Derzeit schauen sehr viele
US-Amerikaner und viele Menschen weltweit auf die ungeheuerlichen
Taten von Priestern und Ordensleuten in den USA, die Kinder und
Jugendliche zum Teil schwer sexuell missbraucht haben – und sie
hören von der jahrelangen Vertuschung durch die Verantwortlichen.1
Dieses Thema raubt mir beim Schreiben
alle Kraft.
Ich will keine Entsetzlichkeiten
ausbreiten und mir wird schlecht, wenn ich lese, was genau passiert
ist. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, auszusprechen, in welcher
Weise Kirchenleute hier auf die verschiedensten Weisen schuldig
geworden sind.
Donnerstag, 23. August 2018
"Für Anne". Leonard Cohen vermisst eine Verlorene
Wie viel größer wird die Liebe
plötzlich, wenn sie vorbei ist!
Wie viel inbrünstiger das Gefühl in
dem Moment, in dem die Fülle gerade durch die Finger rinnt!
Leonard Cohen, der begnadete
Songwriter, scheint das gespürt zu haben. Und er hat es in Worte
gefasst!
Denn neben den bekannten Songs sind von
ihm auch eine Reihe nicht vertonter Gedichte erschienen, von denen es
einige wert sind, als Miniaturen im Gedächtnis zu bleiben.
Samstag, 18. August 2018
Der Laientheologe und die eucharistische Kirche. Ein Konfliktfeld in der Praxis
Vor ein paar Tagen
las ich in der Herder-Korrespondenz ein Interview
mit dem Bostoner Erzbischof Seán Patrick O'Malley, der davon sprach,
dass wir als katholische Kirche "eine
eucharistische Kirche" seien.
Ohne es an dieser Stelle
zu explizieren, bezieht er sich damit auf eine schon bei Paulus
bezeugte1
und seit der frühen Kirche des zweiten Jahrhunderts gewachsene
Theologie, derzufolge der Ursprung der Kirche als lebendiger Leib
Christi in der Feier des Mahles um den eucharistischen Leib Christi
liegt. Das Zweite Vatikanische Konzil weist ebenso darauf hin wie
Johannes Paul II. in seiner letzten Enzyklika mit dem sprechenden
Namen "Ecclesia de Eucharistia" (2003), der wie
üblich ihrem ersten Satz entnommen ist: "Die Kirche lebt von
der Eucharistie."2
Mir ist
diese Art des Herangehens an Kirche und Kult sehr einleuchtend, wie
ich auch hier
schon dargestellt habe. Durch die Mitfeier der Messe wird für mich
im Idealfall eben nicht nur die Gemeinschaft mit Christus, sondern
auch mit den anderen Mitfeiernden spürbar.
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Dienstag, 14. August 2018
Wen bevorzuge ich als Gefängnisseelsorger? Gedanken zu Mariä Himmelfahrt
Von Zeit zu Zeit werde ich
gefragt, wie ich das denn mache bei meinen Gesprächen im Gefängnis.
Ob ich nicht ab und zu der Meinung sei, ich hätte nun schon wieder
dasselbe gehört wie gestern. Ob ich auch wirklich jede persönliche
Tragik individuell würdigen könne. Und überhaupt, wie es denn sei,
wenn so viele verschiedene Leute kommen und alle ernst- und
wahrgenommen werden wollen – das ginge doch sicher nicht?!
Himmelwärts mit Hindernissen. Vogelnetze, Zoologischer Garten, Berlin, 2017. |
Tatsächlich muss ich
sagen, dass das von meiner Tagesform abhängig ist.
Aber im Großen und Ganzen
versuche ich, bei jeder Person, die mir gegenüber sitzt, ganz
anwesend zu sein und ihr mit größtmöglichem Wohlwollen zu
begegnen.
Ich kann und will nicht
unterscheiden, wen ich mehr und wen ich weniger ernst nehme.
Kurz: Die wichtigste
Person ist immer die gerade anwesende.
Wenn wir (bei aller
bleibenden größeren Unähnlichkeit der Vergleichspartner in dieser
Sache!) auch Gott als Seelsorger aller Menschen ansehen, der noch
dazu immer bei jeder Person anwesend ist, hieße diese Aussage, dass
ihm jede Person die wichtigste ist.
Das passt natürlich wunderbar zu grundlegenden Aussagen über Gott. Und auch dem modernen Bewusstsein für Gerechtigkeit kommt es entgegen.
Das passt natürlich wunderbar zu grundlegenden Aussagen über Gott. Und auch dem modernen Bewusstsein für Gerechtigkeit kommt es entgegen.
Wie aber passt es zusammen mit dem, was die Kirche über Maria sagt, die der katholische Glaube mit so viel wunderbaren Wendungen und Namen besingt?
Man nehme nur die Marienlieder:
Maria ist dort die Gnadenreiche, Makellose, Engelsgleiche, Wunderschön prächtige, hohe und mächtige, liebreich holdselige himmlische Frau, Mutter der Barmherzigkeit, Patronin voller Güte, Pforte der Seligkeit, ...
Von Gott her geschaut
scheint es da eine eindeutige Bevorzugung Mariens vor anderen
Menschen zu geben.
Und bei allem Idealismus gibt es selbstverständlich auch für Seelsorger Personen, die einem näher sind als andere. Vielleicht würde ich sie nicht sooo ausufernd loben, aber die Unterschiede sind schon deutlich da, ob ich das nun will oder nicht.
Mit dem einen komme ich
leichter ins Gespräch, mit anderen teile ich gemeinsame Erfahrungen
(wie das Vatersein), andere kommen aus der gleichen Gegend wie ich...
Dieser Ungleichheit
entkommt man auch bei Gott nicht.
Schon im Alten Testament
zeigt sich, dass Gott recht wählerisch ist und manche Menschen vor
anderen eindeutig bevorzugt – Abels Opfer nimmt er an, Kains will
er nicht – was für Abel zum Verhängnis wird (vgl. Gen 4,1-8).
Ähnlich geht es Joseph, dem Träumer, der von seinen Brüdern wegen
der Liebe des Vaters und wegen seiner gottgesandten Träume beneidet
und schließlich verkauft wird (vgl. Gen 37).
Schließlich erwählt Gott
sich ein ganzes Volk auf Kosten der Anderen und verspricht sogar:
"Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist und weil ich
dich liebe, gebe ich für dich ganze Länder und für dein Leben
ganze Völker." (Jes 43,4)
Zugleich bekennen wir
Gottes Willen, dass nicht nur einige, sondern „alle Menschen gerettet werden" (1Tim
2,4) und hoffen darauf, dass er am Ende der Tage die ganze Schöpfung
heimholt zu sich.
Worauf will ich mit all
dem hinaus?
Die Spannung zwischen der
Vorstellung einer Gleichheit aller Menschen vor Gott und den
biblischen Berichten einer eindeutigen Bevorzugung von Einzelnen ist
krass.
Mir jedenfalls macht diese
Spannung zu schaffen, vor allem angesichts der vielen besonderen
Aussagen über Maria, von der unbefleckten Empfängnis über die
jungfräuliche Geburt bis zu ihrer Aufnahme in den Himmel, die wir
heute feiern.
Auch im Evangelium
des Festes singt Maria davon, dass Gott Großes an ihr getan habe
und alle Geschlechter sie nun selig preisen würden (vgl. Lk
1,49.48).
Wie lässt sich diese
Spannung befriedigend auflösen?
Eine Lösung, die ich
(größere Unähnlichkeit vorausgesetzt) für diese Spannung in
meinem seelsorglichen Handeln gefunden habe, kam oben zur Sprache:
Der aktuell Anwesende ist der Wichtigste. Auch wenn es mir bei jenen,
die mir in irgendeiner Hinsicht ähnlicher sind, natürlich leichter
fällt.
Der Himmel steht uns offen! Blankensteinpark, Friedrichshain, Berlin, 2018. |
Vielleicht beruft auch
Gott zur Mitarbeit an seinem Werk Leute, die ihm ähnlich sind1
– Maria wird gezeichnet als eine junge Frau, die sich bereitwillig
einlässt auf die Geschichte Gottes mit ihr, als ein Engel ihr die
Botschaft von der Geburt des wunderbaren Kindes bringt und die sich
im heutigen Evangelium liebevoll um ihre schwangere Verwandte
kümmert.
Tatsächlich erscheint
Gott so im Neuen Testament: sich der Geschichte der Menschen öffnend
und sie liebevoll begleitend.
Darüber hinaus stehen,
wenn man genau hinsieht, Wohlwollen gegenüber allen und Bevorzugung
Einzelner auch gar nicht in Widerspruch zueinander.
Auch die Aufnahme Mariens
in den Himmel ist ja, wie betont werden muss, keine exklusive
Auszeichnung nur für sie, sondern wird allen Menschen verheißen –
aber zunächst nur von Maria ausgesagt.
Es ist dies die Konkretion
einer allgemeinen Hoffnung, sichtbar geworden an Maria, der Mutter
Jesu.2
Das vorausgesetzt, ist das
heutige Fest ein Bekenntnis zu Gottes Kraft und Größe, an die wir
Menschen nur ahnungsweise heranreichen: voller Liebe erhebt er eine
Einzelne zu sich, um diese seine Liebe weiterfließen zu lassen auf
alle.
1 Inspiriert
ist dieser Gedanke von J. Miles, Gott. Eine Biographie. 3. Aufl.
München 2000, 102, wo es zu Gott in der Josephsgeschichte heißt:
"Unterschwellig suggeriert der Text, daß Gott Joseph nicht
bevorzugt hätte, wenn er nicht wie Joseph wäre, und da Joseph als
liebevoll dargestellt worden ist, ist Gott vielleicht genauso. Wir
bewegen uns hier, unnötig zu sagen, nicht im Bereich von
Argumenten, sondern von Eindrücken." Trotzdem!
2 Vgl.zu
diesem Gedanken: A. Müller / D. Sattler, Mariologie. In: In: T.
Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik 2. 2. Aufl. Düsseldorf 2002,
155-187, 186.
Samstag, 11. August 2018
Vertiefung statt Verlängerung. Von ewigem Leben und von Tabak
Ich glaube an das ewige
Leben vor dem Tod.
Das mag ungewöhnlich
klingen, aber im Johannesevangelium, aus dem der Text dieses Sonntags
(Joh 6,41-51) stammt, ist es genau so gemeint. Wenn Jesus von sich
selbst als vom "Brot des Lebens" (v48) spricht,
dessen Verzehr Leben "in Ewigkeit" (v51) bedeutet,
dann meint er nicht nur und nicht einmal in erster Linie eine noch
ausstehende Zukunft, sondern die Gegenwart.
Mittwoch, 8. August 2018
Wo Liturgie und Widerstand sich treffen. Notizen
Die Feier der Liturgie schafft einen
fragilen Begegnungsraum zwischen Gott und Mensch.
Damit dieser Raum entstehen kann,
müssen die Versammelten von sich selbst absehen können und Gott
suchen. Hinaustreten aus der eigenen Lebenswirklichkeit und tastend
eintreten in die Sphäre des Himmels. Denn im Mittelpunkt dieses
liturgischen Begegnungsraumes stehen nicht die eigenen Bedürfnisse,
sondern Gottes Lobpreis. Alles Weitere tritt erst später
dazu.
Samstag, 4. August 2018
"Ich weiß gar nicht, was der eigentlich will!" Gefängnispredigt von Brot und Liebe.
1. "Ich weiß gar
nicht, was der eigentlich will!"
So denke ich manchmal,
wenn ich mich mit Leuten unterhalte, die überzeugte Autofahrer sind
und die versuchen, mir ihre Überzeugung zu erklären. Dass es so
praktisch sei und schön und was weiß ich. Wo ein Auto doch meiner
Meinung nach nur teuer und schmutzig ist und man jedes Mal ewig einen
Parkplatz suchen muss. Außerdem ist man in Berlin ohne Auto sowieso
schneller.
Man kann bei solchen
Gelegenheiten sehr schnell in einen Konflikt hineingeraten, weil man
mit zwei völlig unterschiedlichen Denkmustern im Kopf versucht, dem
jeweiligen Gegenüber seinen Standpunkt klar zu machen.
So muss es wohl auch den
Zuhörern Jesu mit ihm oft genug gegangen sein.
"Ich weiß gar nicht,
was der eigentlich will!"
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