Samstag, 22. September 2018

Kinder in die Mitte! Von Kind- und Vatersein. Von Vertrauen und Verantwortung.

1. "Jesus stellte ein Kind in ihre Mitte und nahm es in die Arme" (Mk 9,36)
Dieser zentrale Satz aus dem Evangelium des Sonntags (Mk 9,30-37) lässt bei manch einem die Alarmglocken schrillen.
Denn die Rede davon, dass eine religiöse Autorität ein Kind in die Arme nimmt, hat in der katholischen Kirche ihre Unschuld verloren. Seit erneut Berichte über die sexuellen Übergriffe durch katholische Geistliche in den USA und in Deutschland bekannt wurden, ist das religiöse Sprechen über Kinder eine heikle Sache geworden.
Jedenfalls tue ich mich schwer, hier fromme Gedanken zu diesem Thema zu verkünden.

Viel Schatten durch das Licht.
Jakobskirche, Stralsund, 2018.
Denn ich bin Mitarbeiter einer Institution, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg das eigene Ansehen über den Schutz und die Würde der Opfer sexueller Gewalt gestellt hat. Durch ständiges Wegsehen und systematische Vertuschung, durch klammheimliche Versetzungen der Täter und die Beschimpfung der Aufklärer als Nestbeschmutzer hat die katholische Kirche sich oft genug als unwillens und unfähig erwiesen, dem Verbrechen in ihrer Mitte ein Ende zu machen. Das Leiden der Opfer von sexuellen Übergriffen ist nun nicht mehr ungeschehen zu machen.

Was aber möglich ist: Den Opfern nun endlich zuzuhören und zu erfahren, was durch den Missbrauch zerstört worden ist.
Dann muss es um Gerechtigkeit gehen: Täter müssen klar benannt und zur Rechenschaft gezogen werden, soweit dies noch möglich ist.
Schießlich die Frage nach den Strukturen: Beschwerdewege und Schutzmechanismen sind inzwischen in vielen Teilen der Kirche etabliert und es ist zu hoffen, dass damit auch ein Mentalitätswandel einhergegangen ist. Aber reicht das? Papst Franziskus hat den Klerikalismus, also die Überhöhung geistlicher Amtsträger, als Ursache angeprangert. Auch die kirchliche Sexualmoral, die Hierachien, die undurchsichtigen Versetzungen tragen ihren Teil bei.

Wie dem auch sei: Meine Kirche hat vor dem Anspruch Jesu kläglich versagt, denn nicht die Sorge für die Kinder stand im Zentrum, sondern ihr eigener Schutz. Verantwortungslosigkeit pur! Dieses Versagen müssen wir heute mit Trauer und Scham erkennen.

Aber es ist eine zwiespältige Sache, als Mitglied der Kirche irgendwie sich selbst und dann doch nicht sich selbst anzuklagen, da ich ja persönlich oft genug gar keinen Einfluss auf solche Dinge habe.

2. "Wer ein Kind aufnimmt, der nimmt mich auf" (Mk 9,37)
Deshalb will ich den Blick von der heutigen Situation zurück auf Jesu Intention lenken:
Jesus war voller Ehrfurcht und Wertschätzung gegenüber den Kindern.
Er stellte sie bisweilen als religiöse Vorbilder hin: "Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen." (Lk 18,17) Und das tut er in einer Zeit, als der Kitsch von Babys, die auf den großen Händen der Erwachsenen schlafen, undenkbar war, als noch keine Kinderbilder mit riesigen Kulleraugen existierten und noch kein süßes Jesuskind mit blonden Locken verehrt wurde.
Kinder waren keine Vorbilder, sie waren in den Augen seiner Zeitgenossen nur unfertige Erwachsene und reichlich defizitär. Dagegen rückt Jesus ihre Offenheit für Gott und sein Wirken ins Zentrum.

Heute nun geht er noch einen Schritt weiter und spricht von der engen Verbindung zwischen dem Aufnehmen eines Kindes und dem Aufnehmen Gottes selbst: "Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat." (v37)

Kinder ändern die Lebensperspektive.
Inselkirche, Hiddensee, 2018.
Aber was soll das bedeuten: ein Kind "aufnehmen"?
In den seltensten Fällen laufen irgendwo Kinder auf der Straße herum, die man dann aufnimmt. Darum wird es also nicht gehen.

Kinder zu haben aber bedeutet, bei aller Freude und Lockerheit, die sie ins Leben bringen können, in erster Linie Arbeit. Es ist ein mühevolles Tun, den eigenen Tagesrhythmus an einem Kind auszurichten, es mit Geduld an Hygiene und Essen heranzuführen, vollgekackte Windeln zu wechseln, in der Krankheit und bei jedwedem Geschrei ruhig und geduldig zu bleiben, und nicht zuletzt die Balance zu finden zwischen nachsichtiger Liebe und den Regeln.
Diese Mühe muss man, wenn ein Kind erst einmal da ist, einfach auf sich nehmen, denn ohne die liebevolle Sorge kann ein Kind nicht leben.

Eindrucksvoll zeigt das der aktuelle Roman "Neujahr" von Juli Zeh, in dem sich dem Familienvater Henning im Urlaub die schreckliche Erfahrung des Verlassenseins wieder ins Gedächtnis drängt. Vor vielen Jahren waren seine Eltern beim Urlaub auf Lanzarote am Morgen plötzlich aus dem Ferienhaus verschwunden gewesen und hatten den Vierjährigen mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester allein gelassen. Die Autorin beschreibt aus der Sicht des zunächst besonnen agierenden Henning, den immer wieder und immer stärker die Panik anfällt, bis ihn die ungeheure Verantwortung, in die er urplötzlich gestellt ist, fast umwirft, einen verzweifelten Kampf ums Überleben und die sinnlose Suche nach einem Sinn der Verlorenheit.
Kindliche Überforderung und die völlige Unfähigkeit, in dieser haltlose Situation einen Halt zu finden, haben ihre traumatisierenden Spuren in seinem Leben als Ehemann und Vater hinterlassen. Es ist eine dem eben genannten Missbrauch verwandte Form der Traumatisierung.

Mich hat dieser Roman völlig fertig gemacht – und zugleich vollends fasziniert. Denn er zeigt (neben vielen anderen Dingen) aus verschiedenen Perspektiven, wie unabdingbar wichtig die elterliche Sorge für das Wohl eines Kindes ist.

Wenn Jesus nun dazu auffordert, Kinder aufzunehmen, dann geht es genau um diese Verantwortung, in der Erwachsene gegenüber Kindern stehen. Dasein, sich kümmern, liebevoll mitgehen und zeigen, dass sie nicht allein sind. Das ist ein Dienst, bei dem man selbst nicht an erster Stelle steht.
Insofern gehört der Schutz von Kindern zum Zentrum des Christlichen!

3. "Vater unser im Himmel" (Mt 6,9)
Zugleich ist diese Haltung, religiös gesprochen, die Art von Väterlichkeit, die wir auch von Gott als unserem himmlischen Vater erwarten dürfen.

Hier kreuzen sich nämlich die theologischen Linien: Einerseits dürfen wir uns vertrauensvoll als gesegnete Kinder Gottes fühlen und ihn im Vaterunser als unseren Vater ansprechen. Andererseits sind wir in die Pflicht genommen, Kindern verantwortlich und dienend zu begegnen.
Beide inneren Haltungen, die des vertrauenden Kindes und die des verantwortlichen Erwachsenen, haben Platz in uns und beide können uns zu dem einen Ziel führen: dass wir Gott näher kommen.

Denn das ist ja das Ziel des Evangeliums: Jesus will zeigen, auf welchem Wege wir Gott begegnen können.
Zusammengefasst lässt sich aus dem bisher Genannten verallgemeinernd sagen, dass wir Gott begegnen können, wenn wir Verantwortung übernehmen, wenn wir dienen, wenn wir nicht uns selbst an erste Stelle setzen.
(Entgegengesetzt also zu dem Verhalten, wie es Priester und Bischöfe im Zuge des Missbrauchs und des Umgangs mit dem Missbrauch an den Tag legten – bzw. verschleierten.)

Darauf deutet auch der andere wichtige Satz des Evangeliums hin: "Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein." (v35)

Das eben Erwähnte findet sich darin wieder – und noch mehr.
Der Satz erinnert nämlich daran, dass die Werte, von denen ich eben sprach, nicht selbstverständlich, nicht leicht zu leben und schon gar nicht populär sind. Denn sie zu leben bedeutet, Abstriche zu machen, nicht zu drängeln, runterkommen vom eigenen hohen Ross.

Den Verantwortlichen in der Kirche stünde das in diesen Zeiten gut an. Papst Franziskus geht nach meiner Ansicht in vielen Bereichen schon mit einem guten Beispiel voran.

Aber auch alle anderen Christen, die Gott als Vater anrufen, sagen mit dieser Anrede Gottes, dass sie selbst nicht auf dem ersten Platz stehen. Sondern dass sie ihm im Gebet ihr Leben anvertrauen – die Verherrlichung seines Namens, das tägliche Brot, die eigene Schuld, die Rettung vor den Versuchungen und allem Bösen. Wer so betet, stellt sich selbst nicht in die erste Reihe.

So kann das Beten des Vaterunsers uns vielleicht eine gute Erinnerung sein an das, was uns das Evangelium auträgt:
Zu Gott als Vater sprechen bedeutet auch, auf den Schutz der Schwächsten zu achten. Es bedeutet, sich nicht nach vorn zu stellen, sondern Verantwortung zu übernehmen und zu dienen.

Blick in Abgründe / Blick nach draußen.
Heimvolkshochschule Seddiner See, 2016.