Donnerstag, 13. November 2014

"Beeilen wir uns" - Ein Gedicht von Jan Twardowski

Es ist das bekannteste Gedicht von Jan Twardowski, und jetzt, da ich endlich eine zweisprachige Ausgabe1 seiner Gedichte im Hause habe, möchte ich ein paar Worte dazu schreiben.
"Śpieszmy się" heißt es im Original und mit der Selbstaufforderung, sich nur ja zu beeilen, deutet sich schon an, worum es dem polnischen Priesterdichter geht, hier wie auch sonst: um eine individuelle Haltung, die ein "magis", ein "mehr" sucht und dabei natürlich Allgemeinheit, Gesellschaft sucht.

Pei-Bau im Lichte. DHM, Berlin-Mitte, 2014.
Doch eine solche suchende Haltung, auch das zeigen viele seiner Gedichte, ist nicht so einfach zu finden.
Da wird um Glauben gerungen, werden Zweifel an kirchlichen Korrektheiten vorgetragen, da finden heilige Gewissheiten sich in neuem sprachlichen Gewand und lassen aufhorchen.

Sehr oft aber geht es bei Twardowski um das göttlichste menschliche Tun, das Lieben.
So auch in diesem Gedicht, mit dem der Autor nun erst einmal selbst zu Wort kommen soll:

Beeilen wir uns die menschen zu lieben sie gehn so schnell
von ihnen bleiben schuhe und ein taubes telefon
nur was unwichtig ist schleppt sich wie eine kuh
das wichtigste ist so hastig daß es plötzlich geschieht
danach stille gewöhnlich also schier unerträglich
wie die reinheit schlichtestes kind der verzweiflung

wenn wir an jemanden denken und ohne ihn bleiben

Sei nicht sicher daß du zeit hast denn unsichere sicherheit
nimmt uns das gespür so wie jedes glück
gleichzeitig kommt wie pathos und humor
wie zwei leidenschaften immer schwächer sind als die eine
sie gehn so schnell von hier schweigen wie die drossel im juli
wie ein etwas ungestalter ton oder ein trockener gruß
um wirklich zu wissen schließen sie die augen
obwohl es riskanter ist geboren zu werden als zu sterben

lieben wir immer aufs neue zu wenig und ständig zu spät

Schreib nicht zu oft davon schreib ein für allemal
und du wirst sein wie ein delphin sanft und stark

Beeilen wir uns die menschen zu lieben sie gehn so schnell
und die die nicht gehn kommen nicht immer zurück
und nie ist es klar wenn man von liebe spricht

ist es die erste die letzte die letzte erste


Was mich auf Anhieb irritierte: die sich über die Zeilen ziehenden Sinneinheiten, die nicht immer eindeutige Bezüge oder Abgrenzungen zulassen und sich auch mehr Zeilen hätten gönnen können.

Was mich auf Anhieb ansprach:
1
"Beeilen wir uns die menschen zu lieben sie gehn so schnell" – Diese Zeile klingt wie ein subjektives eschatologisches Drängen, das das Wichtigste noch erledigen will, bevor sich alles erledigt hat. Und das bedeutet nicht, schnell noch einen der Top-100-Orte der Welt zu besuchen, sondern zu lieben. Den Heiligen schreibt Twardowski in "Ein bißchen Heiligenklatsch" dementsprechend zu: "immer sind sie in Eile – zu lieben".2

Stary Browar, Poznań, 2014.
2
Was von uns bleibt, ist "ein taubes Telefon" – Eigentlich ein topaktueller Gedanke, denn in der Smatphone-Ära, in der wir leben, hinterlässt fast jeder ein personalisiertes Endgerät, das am Ende tatsächlich Kommunikations- und Reiseverläufe wunderbar zusammenfassen kann. Und: es bleibt nach dem Ende wirklich taub, denn der vorherige Nutzer hört nach seinem Tode vielleicht Engelchöre, nicht aber das Telefon.

3
"Sei nicht sicher dass du zeit hast denn unsichere sicherheit nimmt uns das gespür" (im Original "wrażliwość", also etwa "Sensibilität") – Das Gefühl für Begrenztheit und die Möglichkeit, dass alles bald vorbei sein kann. Keine falschen Sicherheiten, kein Netze-Knüpfen, keine Haltegurte. Sondern die Eile, das Naheliegende zu tun, wie das "gespür" es uns nahelegt.

4
"obwohl es riskanter ist geboren zu werden als zu sterben / lieben wir immer aufs neue zu wenig und ständig zu spät" – Uns Christen wäre das auf die Fahnen zu schreiben, wie es Paulus ja auch tatsächlich versucht: "nur die Liebe schuldet ihr einander immer" (Röm 13,8). Twardowski erkennt und benennt demgegenüber das ständige Versagen, so als kennten wir das Risiko nicht, geboren zu werden – und dann zum Lieben aufgefordert zu sein.

Wo ich stolpere:
Sicher gründet sich die Popularität Twardowskis auch darauf, dass er von Gott und den Menschen immer zusammen in ganz eigener schöpferischer Sprache schreibt und dabei oft genug völlig unerwartete Bilder aus Natur und Alltag zaubert: "zwei sich anstaunende Igel"3 etwa, "ein Marienkäfer, den man vergißt"4 oder "der Storch auf dünnem Bein".5
Aber der "delphin sanft und stark" verhagelt mir manches. Aber vielleicht gilt das in der Zeile zuvor genannte dann erst recht: "Schreib nicht zu oft davon".

Ferner die letzte Zeile:
"und nie ist es klar wenn man von liebe spricht / ist es die erste die letzte die letzte erste" – im polnischen steht da: "i nigdy nie wiadomo mówiąc o miłosci / czy pierwsza jest ostatnią czy ostatnia pierwszą".
Diese letzte Zeile spielte dann an auf das endzeitliche biblische Wort von den Ersten und den Letzten (Mt 19,30), es hieße also in etwa "ob die erste die letzte oder die letzte die erste" Liebe ist, was durch die Übersetzung undeutlich bleibt.

Nun dreht sich das Gedicht ins Theologische: laut Bibel erinnert sich Gott an unsere "erste Liebe", an unsere Hinwendung zu ihm: "Ich denke an deine Jugendtreue, an die Liebe deiner Brautzeit" (Jer 2,1) – mithin an das unverbrauchte "Aufeinander-zu-leben" des enthusiastischen Verliebtseins.
Diese erste soll auch meine letzte Liebe sein, die Liebe zu den Menschen sich widerspiegeln in der Liebe zu Gott.

An mir liegt es, ob sie wirklich Liebe ist, nicht Gleichgültigkeit.

Gräber im Sonnenschein. Jüdischer Friedhof, Łódź, 2013.
 
1   J. Twardowski, Bóg prosi o miłość. Gott fleht um Liebe. Ausgewählt und bearbeitet von Aleksandra Iwanowska. Krakau 2000. Die Gedichte wurden von verschiedenen Übersetzern ins Deutsche gebracht, das Vorliegende von Ursula Kiermeier, es findet sich auf S. 123.

2   Ebd., 57.

3   Ebd., 133.

4   Ebd., 143.


5   Ebd., 209.