Donnerstag, 12. Dezember 2019

Geliebt 12 – Anwaltspost in "Ein Post Scriptum" von Mascha Kaléko

Die große Dichterin Mascha Kaléko ist 1938 auf der Flucht vor den Schikanen der Nazis in die USA emigriert. Wie so viele deutsche Exilanten, die zuvor von der Sprache lebten, hat sie unter großen Problemen versucht, sich ein neues Leben aufzubauen.
Nach dem Krieg konnte sie zwar wieder ungehindert in Deutschland publizieren, kehrte aber nur zu Lesereisen und Besuchen in ihre alte Heimat zurück.
Hier ein Zitat-Gedicht von ihr:

Graffito. Berlin, 2013.
Ein Post Scriptum

Von meinem alten Anwalt kam ein Brief.
Er schreibt wie immer.
Sachlich, fachlich. Ihr ergebener.

Da übersah ich beinah
das Post Scriptum.

"Nun, da mein Leben sich dem Abend zuneigt
und jenes dunklen Engels Flügelschlagen
schon manche Nacht den Herzschlag übertönt,
will ich, Verehrteste, es ein Mal sagen:
Ich habe dreißig Jahre Sie geliebt.

Nun liegt ein Weltmeer zwischen mir und Ihnen.
Und immer warte ich, daß noch ein Brief,
kein Liebesbrief und doch ein Schmetterling,
in mein mit Akten tapeziertes Leben
flattert."1

Reflexion zum Gedicht:
Ich gebe es zu, auch ich bin ein zu stiller Liebender. Viele Male habe ich stumm aus der Ferne geliebt, weil es mir an Mut zum offenen Wort fehlte. In manchen Lebenslagen (beispielsweise als Ordensmann oder Priesterkandidat) ist das bei akutem Verliebtsein wohl auch passender.

Impuls:
Heute erinnere ich mich an jene, die ich vielleicht einmal mit sehnsüchtigem Warten geliebt habe. Und an die, von denen ich ahne, dass sie mich auf diese Weise liebten. Und ich bete für die einen und die anderen.


1M. Kaléko, Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte. 9. Aufl. München 2009, 50.

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