Es
geht um eine Zufallsbekanntschaft in der Berliner polnischen
Community: Aus dem Gespräch über die Umbauplanung in der Wohnung
des Ich-Erzählers entwickeln sich regelmäßige Besuche bei einer
alternden Architektin. Sie erzählt von ihrem Leben, ihren
Überzeugungen und auch von ihrer Ehe:
Graffito, Berlin, 2013. |
"Ich habe mich,
fuhr sie nach einer Pause fort, damals keinen Augenblick lang
gefragt, ob Michael und ich zusammenpassen. Ich dachte, er passe zu
mir. Aber dass ich nicht zu ihm passen könnte, ist mir nicht in den
Sinn gekommen. Ich war voll und ganz auf mich konzentriert und auf
meine täglich wechselnden Überzeugungen. Ich habe nicht gesehen,
dass er alles, was er tat, für mich tat. Es braucht einen
Widerspruch, eine Bruchlinie, damit das menschliche Auge etwas
erkennt. In der Architektur ist das ein so grundsätzliches Prinzip,
dass es vielleicht sogar als das Hauptprinzip der Wahrnehmung gelten
kann. ... Aber Michael hat praktisch nie anders als in meinem Sinne
gehandelt, er hat nie etwas anderes verfolgt, scheint mir. Er hat
meinen Willen zu unserem gemeinsamen Willen erhoben. Es gab niemals
eine Regung, die von woanders gekommen wäre als von mir. Und so
dachte ich bald, es gebe so etwas wie seine Vorstellungen überhaupt
nicht, sondern sie seien stets mit den meinen identisch. ... Er hatte
eine Theorie von der Ehe, die im Grunde auf Bescheidenheit beruhte."1
Bemerkung zum Text:
Ein Ehemann, dessen Liebe
darin besteht, keinen eigenen Willen mehr zu haben – ein irrer
Gedanke. Oder gibt es diese Form der Selbstaufgabe in die Beziehung
hinein doch öfter als ich annehme? Wenn, dann wahrscheinlich eher
von Seiten der Frauen, würde ich vermuten. Aber wie dem auch sei, wenn es inneren Frieden und Freude bewirkt, kann auch das sicher ein Weg der Liebe sein.
Impuls:
Gehört Bescheidenheit für
mich zu positiv besetzten Werten? Ist die Aufmerksamkeit für mein
Gegenüber Teil meines Beziehungskonzepts? Und kann ich es aushalten,
wenn jemand anderes für mich etwas von sich aufgibt?
Ich sammle meine Gedanken
dazu in einer Gebetsbitte für mich oder eine Person in meiner Nähe.
1 M.
Nawrat, Der traurige Gast. Reinbek bei Hamburg 2019, 86f.
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