Sonntag, 15. Dezember 2019

Geliebt 15 – Bruchlinie in "Der traurige Gast" von Matthias Nawrat

Es geht um eine Zufallsbekanntschaft in der Berliner polnischen Community: Aus dem Gespräch über die Umbauplanung in der Wohnung des Ich-Erzählers entwickeln sich regelmäßige Besuche bei einer alternden Architektin. Sie erzählt von ihrem Leben, ihren Überzeugungen und auch von ihrer Ehe:

Graffito, Berlin, 2013.
"Ich habe mich, fuhr sie nach einer Pause fort, damals keinen Augenblick lang gefragt, ob Michael und ich zusammenpassen. Ich dachte, er passe zu mir. Aber dass ich nicht zu ihm passen könnte, ist mir nicht in den Sinn gekommen. Ich war voll und ganz auf mich konzentriert und auf meine täglich wechselnden Überzeugungen. Ich habe nicht gesehen, dass er alles, was er tat, für mich tat. Es braucht einen Widerspruch, eine Bruchlinie, damit das menschliche Auge etwas erkennt. In der Architektur ist das ein so grundsätzliches Prinzip, dass es vielleicht sogar als das Hauptprinzip der Wahrnehmung gelten kann. ... Aber Michael hat praktisch nie anders als in meinem Sinne gehandelt, er hat nie etwas anderes verfolgt, scheint mir. Er hat meinen Willen zu unserem gemeinsamen Willen erhoben. Es gab niemals eine Regung, die von woanders gekommen wäre als von mir. Und so dachte ich bald, es gebe so etwas wie seine Vorstellungen überhaupt nicht, sondern sie seien stets mit den meinen identisch. ... Er hatte eine Theorie von der Ehe, die im Grunde auf Bescheidenheit beruhte."1


Bemerkung zum Text:
Ein Ehemann, dessen Liebe darin besteht, keinen eigenen Willen mehr zu haben – ein irrer Gedanke. Oder gibt es diese Form der Selbstaufgabe in die Beziehung hinein doch öfter als ich annehme? Wenn, dann wahrscheinlich eher von Seiten der Frauen, würde ich vermuten. Aber wie dem auch sei, wenn es inneren Frieden und Freude bewirkt, kann auch das sicher ein Weg der Liebe sein.

Impuls:
Gehört Bescheidenheit für mich zu positiv besetzten Werten? Ist die Aufmerksamkeit für mein Gegenüber Teil meines Beziehungskonzepts? Und kann ich es aushalten, wenn jemand anderes für mich etwas von sich aufgibt?
Ich sammle meine Gedanken dazu in einer Gebetsbitte für mich oder eine Person in meiner Nähe.


1   M. Nawrat, Der traurige Gast. Reinbek bei Hamburg 2019, 86f.

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