Mit den Gaben des Heiligen Geistes ist
es so eine Sache – was kann jemand im Alltag konkret anfangen mit
Rat oder Gottesfurcht, mit Wunderkräften, Glaubenskraft und den
vielen anderen Begabungen, die Jesaja und Paulus nennen?1
Bei manchen Gaben ist das einfach: Kranke zu heilen oder Einsicht zu
haben ist mit Sicherheit sehr alltagstauglich und auch "die
Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden", die Paulus nennt
(1Kor 12,10), kann zum Durchblick durch das eigene Leben und die
Zeitläufte verhelfen.
Bei Ignatius von Loyola (und auch
früher) taucht nun die "Gabe der Tränen" auf, die sich an
verschiedenen Stellen in seinen Schriften findet.
Hier drängt sich
beim ersten Hören die Frage noch konkreter auf, was denn eine solche
Gabe soll.
1
Zunächst: Aus vielen biblischen
Nennungen von Tränen und Weinen2
sollen hier einige herausgegriffen werden. Gott wird "alle
Tränen von ihren Augen abwischen" (Off 21,4), womit gemeint
ist, dass dereinst aller Grund für Trauer und Klage verschwinden
wird.
Bevor dies aber geschieht, fordert
Paulus zur "Sym-pathie" auf, zum Mitgehen in die tiefsten
Emotionen der Nächsten, dazu also, sich mit Fröhlichen zu freuen,
aber auch mit Weinenden zu weinen (Röm 12,15). Und wenn gläubige
Menschen in der Heiligen Schrift vom Leben Jesu lesen und sich
ansprechen lassen, dann kann zumal die Passionsgeschichte dieses
fühlende Mitgehen ermöglichen, da auch Jesus "mit lautem
Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor [Gott] gebracht"
hat (Hebr 5,7).
2
So lässt sich die Gabe der Tränen in
einem ersten Schritt durchaus als Gabe des Mitleids konkretisieren.
Dem folgend gibt es in der Frömmigkeitsgeschichte seit den antiken
Kirchenvätern bis ins Mittelalter hinein eine Unmenge an
entsprechenden Zeugnissen. Mit Michael Plattig OCarm3
kann wie folgt gegliedert werden:
Elberadweg, Tschechische Grenze bei Bad Schandau, 2013. |
Die "Tränen des Mitleids"
finden sich, wie gesagt, vor allem im Kontext der
Passionsfrömmigkeit. Plattig zitiert Abélard in einem Brief:
"Kommen Dir nicht die Tränen der tiefsten Trauer, wenn Du
den eingeborenen Gottessohn anschaust? Unschuldig ist er um
Deinetwillen, um aller Menschen willen von den Gottlosen gegriffen,
dahingeschleppt und gegeißelt, [...] er ist am Pfahl des Kreuzes den schrecklichen Tod der
Verbrecher gestorben. [...] In frommer Hingabe laß Dein Herze durch
dieses Erleben erschüttern!"
Dann werden genannt die "Tränen
der Zerknirschung" angesichts eigener oder fremder
Sünden oder Tränen über die Schlechtigkeit der Welt im
Allgemeinen. Als Beispiel dient ein Text von Johannes Klimakos: "O
meine Brüder, Gott wird uns im Tode nicht vorwerfen, wir hätten
keine Wunder gewirkt, noch auch, wir seien keine Theologen oder
Mystiker gewesen, aber davon werden wir ihm sicher Rechenschaft geben
müssen, daß wir nicht unermüdlich unsere Sünden beweint haben."
Die Sprache scheint zunächst fremd, das Gemeinte ist aber von tief
empfundener Scham über eigene Unzulänglichkeiten und Reue über
eigenes falsches Tun nicht weit entfernt.
Auf vielerlei Weise hervorgerufen
werden können die "Tränen der Andacht", sei es
durch Freude oder Sehnsucht, durch Versöhnung oder Buße. Die
Grenzen zu den vorherigen beiden "Tränenarten"
verschwimmen. Bernhard von Clairvaux kennt z.B. die Liebe als Quelle
der geistlichen Tränen: "Ja, auch die Liebe weint, aber aus
Liebe, nicht aus Trauer. Sie weint vor Sehnsucht, sie weint
mit den Weinenden." Ein
breiter Auslegungsspielraum, in dem ich die Sehnsucht nach dem als
fern empfundenen Gott und das unfassbare Gefühl, von ihm tatsächlich
mit allem geliebt zu sein, am ehesten verstehen kann.
3
Auf der Grenze zur Neuzeit finden sich
bei Ignatius von Loyola alle genannten Motive wieder. Seine den
Körper stark einbeziehende Frömmigkeit zeigt sich beispielsweise in
der Anwendung der Sinne bei einer Gebetsübung: "Mit der
Sicht der Vorstellungskraft die Personen sehen", "hören,
was sie sprechen oder sprechen können", dann "riechen
und schmecken: die unendliche Sanftheit und Süße der Gottheit, der
Seele und ihrer Tugenden" und schließlich "berühren,
etwa die Orte umfangen und küssen, auf die diese Personen treten und
sich niederlassen."4
Auch die Gebetshaltungen und verschiedene körperliche Einflüsse auf
das Gebet wie das Licht oder der Ort, die Zeiten oder das Essen
bezieht er mit ein.5
Die Tränen stellen hier eine Schwelle
dar, die starke Emotionen in einen körperlichen Ausdruck bringen
können.
Tellerbruch in ausgebranntem Haus, Tschechische Grenze bei Oberwiesenthal, 2013 |
4
Sehr eindrücklich sind bei Ignatius
die "Reuetränen" und die damit verbundenen Gefühle des
Schmerzes und der Trauer, die er Menschen erbitten lässt, die die
Geistlichen Übungen machen. "Schmerz
und Tränen über meine Sünden"6
scheinen Ignatius angemessen zu sein, wenn die betende Person mit dem
gekreuzigten Christus als Gegenüber in ein "Gespräch der
Barmherzigkeit" kommt, "so wie ein Freund zu einem
anderen spricht"7.
Denn sich selbst angesichts der liebenden Hingabe Jesu anzuschauen
kann den Betenden erschüttern und reinigen.
(Einer ähnlichen Einsicht wegen macht
Goethe später die Tränen in leicht variiertem Kontext zum
Kalenderspruch: "Der Tränen Gabe, sie versöhnt den
grimmsten Schmerz; sie fließen glücklich, wenn's im Innern heilend
schmilzt.“8)
5
Genauso kennt Ignatius die Tränen des
Mitleidens mit Jesus auf seinem Weg zum Kreuz. Die dritte Woche der
Exerzitien ist ganz der Passion gewidmet und widmet sich aufführlich
den einzelnen Leidensstationen. Das Mit-Leiden geht ans Eingemachte:
Der Betende soll "um Qual, Tränen und Pein mit dem
gepeinigten Christus bitten"9
und selbst Energie aufwenden, um "Schmerz zu emfinden,
traurig zu sein und zu weinen".10
Die Bitte um die Tränengabe und das
eigene Bemühen darum gehen Hand in Hand, wenn die Angleichung an
Jesus angestrebt ist: "Schmerz mit dem schmerzerfüllten
Christus, Zerbrochenheit mit dem zerbrochenen Christus".11
So wird die Erschütterung über das
eigene Leben (Zerknirschung und Reue) nun nach außen gewendet und
für einen Anderen, in diesem Fall Jesus, fruchtbar gemacht.
6
Die Andachtstränen zählen zu einem
besonderen Merkmal des Ignatius. Schon die Betrachtung des
Sternenhimmels konnte ihn zum Weinen bringen. Ignatius war davon
"dermaßen in Liebe entzündet worden, daß ihm die Tränen
vor Freude, die er in seinem Herzen fühlte, über das Gesicht
abrannen." schreibt ein Begleiter über ihn.12
Davon abgesehen traten ihm vornehmlich
bei der Eucharistiefeier die Tränen in die Augen. Sein kurzes
Geistliches Tagebuch ist voll von Einträgen wie: "Vor und in
der Messe mit Andacht und nicht ohne Tränen" (am
06.02.1544), einen Tag darauf betete er "mit einer großen
Fülle von Andacht und Tränen" und am nächsten Tag schrieb
er wiederum: "Nach beträchtlicher Andacht und Tränen im
Gebet seit der Vorbereitung auf die Messe und in ihr eine große
Fülle von Andacht und ebenso Tränen" und beim Gebet danach
das Gefühl inniger Gottesnähe "und in der Folge davon
Tränen und sehr innige Andacht"13
Die vielen Tränen waren Ignatius ein
Zeichen von Trost und Gottesnähe im Gebet. Er berichtet, dass er in
einem Gebet "fast nicht mehr aufstehen konnte vor Schluchzen
und Tränen wegen der Andacht und Gnade, die ich empfing."14
Wasserpflanzen, Comenius-Garten, Rixdorf, Berlin, 2014. |
Die Frage des Zusammenhangs von Trost
und Tränen beschäftigte Ignatius vornehmlich dann, wenn ihm keine
Tränen kamen: "Warum kommt kein Tränenvergießen oder keine
Fülle von Tränen?"15
Dabei ist sogar von "Augenschmerzen wegen so vieler"16
Tränen die Rede, in deren Folge ein Arzt ihm gebot, "nicht
zu weinen, und so nahm er es um des Gehorsams willen an. Und indem er
es um des Gehorsams willen annimmt, hat er jetzt viel mehr Tröstung,
ohne zu weinen, als er vorher hatte",17
wie sein Biograph schreibt.
In diesem Falle war der Verzicht auf
Tränen ein Fortschritt, wie es scheint. Vielen heutigen Betenden
sind solche Gefühlsbewegungen im Gebet vielleicht nicht vollkommen
fremd, doch die Regelmäßigkeit und Intensität der Tränen des
Ignatius lassen wohl aufmerken.
7
Zusammenfassend: Nicht nur Trauer und
Schmerz sind Inhalt und Quelle der "Gabe der Tränen",
sondern auch das Mitleiden, die seelische Offenheit für Andere, die
reinigende Selbsterkenntnis, und bei Ignatius besonders die Liebe,
das Hingerissensein und der Trost.
Inwieweit die Tränen Gabe sind oder
durch Veranlagung und Willen hervorgerufen werden, hat schon die
Kirchenväter zur Unterscheidung der Geister getrieben. Vielleicht
ist ein gutes Kriterium der Satz des Paulus über die Gaben des
Geistes: "Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes
geschenkt, damit sie anderen nützt." (1Kor 12,7)
Lässt sich mit der Gabe der Tränen
also etwas anfangen? Nutzen sie zu etwas?
Die Antwort ergibt sich aus dem eben
Gesagten: Trost und Liebe, Mitleid und Selbsterkenntnis, wenn das
kein Nutzen ist...
1 Vgl.
v.a. 1Kor 12,8ff und Jes 11,2, aber auch Röm 12,6ff oder ähnlich
1Petr 4,9ff.
2 Immerhin
genannt seien als verschiedenste Motive des Weinens und der Tränen
in der Schrift: Jesu Weinen beim Tod des Lazarus (Joh 11,35); die
bitteren Reuetränen des Petrus nach seiner Verleugnung (Mt 26,75);
die Aufforderung Jesu an die Frauen, nicht um ihn, sondern über
sich selbst zu weinen (Lk 23,28).
Besonders bemerkenswert finde ich die Tränen
bei der Wiedereinweihung des Tempels nach der Rückkehr aus dem Exil
bei Esra 3,12f. Hier mischen sich Freude und Trauer: "Viele
betagte Priester, Leviten und Familienoberhäupter hatten noch den
ersten Tempel gesehen. Als nun vor ihren Augen das Fundament für
den neuen Tempel gelegt wurde, weinten sie laut. Viele andere aber
schrien vor Jubel und Freude. Man konnte im lauten Freudenjubel das
Weinen der anderen kaum hören, so laut war das Geschrei des Volkes
und der Lärm war weithin zu hören."
4 Ignatius
v. Loyola, Geistliche Übungen und erläuternde Texte. Leipzig 1978,
No. 122-125.
5 Vgl.
ebd., No. 72. 75f 79. 84. 210ff.
6 Ebd.,
No. 55.
7 Vgl.
ebd., No 53f.
9 A.a.O.,
No. 48.
10 Ebd.,
195.
11 Ebd.,
203.
12 P.
de Ribadeneira, zit. n. B. Rieder, Sternenhimmelbetrachtung als
geistliche Übung. Zu einem Motiv aus der Biographie des hl.
Ignatius von Loyola in der neulateinischen Jesuitenlyrik des 17.
Jahrhunderts. In: GuL 65 (1992), 452.
13 Geistliches
Tagebuch, in: Ignatius v. Loyola, Gründungstexte der Gesellschaft
Jesu. [Ignatius von Loyola, Deutsche Werkausgabe Bd. 2], Würzburg
1998, 354f.
14 Ebd.,
359.
15 Ebd.,
369.
16 Ebd.,
353.
17 Goncalves
da Camara, Memoriale, zit. n. P. Knauer, Einführung in die
"Wahlpunkte" und das "Geistliche Tagebuch", in:
Ignatius v. Loyola, Gründungstexte der Gesellschaft Jesu. [Ignatius
von Loyola, Deutsche Werkausgabe Bd. 2], Würzburg 1998, 346.