Wenn Selbstverwirklichung und
Individualität Werte sind, die heute zählen, dann hat es das
Christentum schwer. Doch insofern sie Werte sind, bleiben sie doch in
den meisten Fällen imaginäre Größen – denn sich selbst erst
einmal zu finden ist längst von der Werbewirklichkeit des
Kapitalismus eingeholt und absorbiert worden.
Und Individualität wirkt oft eher wie ein Oberflächenphänomen auf der Grundlage einer tieferliegenden Selbstgleichschaltung,1 was sich mit Blick auf die in meinem Viertel herumstreifenden, nahezu identisch aussehenden Hipster mindestens am Äußeren bewahrheitet.
Und Individualität wirkt oft eher wie ein Oberflächenphänomen auf der Grundlage einer tieferliegenden Selbstgleichschaltung,1 was sich mit Blick auf die in meinem Viertel herumstreifenden, nahezu identisch aussehenden Hipster mindestens am Äußeren bewahrheitet.
Dagegen steht also Jesu Ruf, IHM zu
folgen und nicht sich selbst, ein Ruf, der bei allem Anerkennen der
jeweiligen geschöpflichen Einzigartigkeit zu Selbstverleugnung,
Verzicht und Absehen von sich selbst auffordert.
Himmel, Bruder-Klaus-Kapelle, Wachendorf, 2013. |
Welche legitime Sehnsucht kann sich in
einer so verstandenen Nachfolge verwirklichen? Oder: Was treibt mich
an zur Nachfolge Jesu?
1
Jesus sympathisiert mit dem Regelbruch.
Selbstverständlich nicht aus Eigennutz oder zum Selbstzweck, sondern
um neu Maß zu nehmen an Gott und dem Menschen. Klassisches Beispiel:
das Heilen am Sabbat (vgl. Mt 12,9-14). Nicht graue Theorie oder
Regelwerke können im Zentrum eines an Jesus ausgerichteten Lebens
stehen, sondern das Wohl des Menschen und die höhere Ehre Gottes.
In gewisser Weise schreibt darüber
Felicitas Hoppe in ihrer fiktiven Autobiographie, indem sie "Hoppe"
als eine Person vorstellt, der theoretische Spielanleitungen und
Denksportaufgaben zuwider waren, die für sie nichts anderes
darstellten als "die trivialste Form von Gedankenspielen,
Gottesbeweisen ohne Gott sozusagen, die um nichts anderes als um sich
selber kreisen und nicht das Geringste damit zu tun haben, was Gott
oder Sport oder Kunst wirklich ausmacht. Oder hat man jemals von
einem gehört, der wirklich weitergekommen wäre, weil er sich an die
Regeln hielt? Was durchaus nicht gegen die Regeln spricht, die man
natürlich kennen muss, um mit ihnen zu spielen. Aber was in der
Regel steckenbleibt, wird niemals den Raum für Neues öffnen ..."2
2
Das Selbstverständnis. Wie später
Paulus formuliert, dass er allen alles geworden sei (1Kor 9,22), so
hat auch Jesus in der Begegnung mit den verschiedenen Menschen sich
anverwandelt. Auch einen Seelsorger im paulinischen und jesuanischen
Sinn wird das Absehen von sich und das Hinwenden zum Anderen eine
grundlegende Aufgabe sein. Im Briefroman "Das dreizehnte
Kapitel" lässt Martin Walser seinen Protagonisten Basil Schlupp
formulieren:
Lüftung am Hang, Ziegenhain, Jena, 2013. |
"Wie viel mehr möchte man sein
als man ist und überall immer
zugleich
in jedem Wasser fließen
die Hitze sein der Wüste
nachts das Eis
das Tannenwipfelwiegen im Wind
Freundschaftsstifter
Stromableser
Schlüssel-
Wahrer
aller Arzt
und Kranker
aller Ärzte.
Früher stieß
eins ans
andere
jetzt ist Platz
bzw. Leere
herrscht." 3
Vielleicht ist mit den letzten Worten
dieses Gedichts der Terminus Selbstverleugnung auf poetische Weise
recht gut getroffen.
3
Dann das Ethos. Was mehr von Jesus zu
lernen wäre, ist das starke Wohlwollen gegen jedermann. Die
Unbestechlichkeit, die niemanden bevorzugt und ohne falsche
Rücksichtnahme klar benennt, was im Argen liegt, um zum Wohle des
Einzelnen und seiner Spielräume aktiv zu werden. Das Austeilen des
Guten auch denen gegenüber, die sich abwenden. Eigentlich ein
Wahnsinn. Aber nur so wird Gutes mehr.
4
Entgegen meiner tatsächlichen
Lebensgestaltung halte ich das Ideal der Hinwendung zum Verlassenen und das
Wertschätzen des Schwächeren für einen hohen Wert. Diesen
Widerspruch von Wertsetzung und Wertverwirklichung muss ich zugeben.
Nichtsdestotrotz ist der Wunsch nach
einem Einsatz für die Marginalisierten, der Wunsch nach
Gerechtigkeit, für deren Verwirklichung auch etwas aufgegeben werden
muss, fest in mir verankert.
Ich sehe diesen Wunsch und diese
Wertsetzung auch bei Jesus. Er ist das Vorbild dessen, der aus Liebe
sich hingibt für die Verlorenen. Mit Jesaja: "durch seine
Wunden sind wir geheilt" (Jes 53,5) Ohne Masochismus müsste
eine solche Nachfolge "im Kreuz" doch auch für unsere
Gesellschaft ein Weg sein, der Veränderungsbereitschaft und den
Blick für die Untergebutterten verbindet.
Denn "[g]eboren zu sein reicht
nicht. Man muss auch geboren werden wollen, das heißt, das zufällige
Leben annehmen als Möglichkeit, für die Befreiung anderer zu leben.
In der Erzählung von jesus und seinem Gott wird uns berichtet, dass
uns die Kraft, um so leben zu können, gegeben werden kann, dass wir
so geboren wurden, dass wir für diese Kraft empfänglich sind, dass
wir unsere Kraft voneinander empfangen und weitergeben können.
Gott-in-uns heißt diese Kraft, heiliger Lebensatem, heiliger
Geist."4
Da kommt Freiheit auf.
Fahnenlose Fahnenmasten, Messe Berlin, Charlottenburg, Berlin, 2014. |
1 Ein
Gedanke, den ich Äußerungen von Tatjana Noemi Tömmel auf einer
Veranstaltung der Katholischen Akademie verdanke:
http://www.katholische-akademie-berlin.de/1:6467/Veranstaltungen/2014/05/35425_Freiheit-selbst-oder-vorherbestimmt.html
2 F.
Hoppe, Hoppe. Frankfurt a.M. 2012, 191.
3 M.
Walser, Das dreizehnte Kapitel. Reinbek bei Hamburg 1. Aufl. 2012,
189f.