Donnerstag, 5. Juni 2014

Regelbruch, Anverwandlung, Wohlwollen, Selbsteinsatz

Wenn Selbstverwirklichung und Individualität Werte sind, die heute zählen, dann hat es das Christentum schwer. Doch insofern sie Werte sind, bleiben sie doch in den meisten Fällen imaginäre Größen – denn sich selbst erst einmal zu finden ist längst von der Werbewirklichkeit des Kapitalismus eingeholt und absorbiert worden.
Und Individualität wirkt oft eher wie ein Oberflächenphänomen auf der Grundlage einer tieferliegenden Selbstgleichschaltung,1 was sich mit Blick auf die in meinem Viertel herumstreifenden, nahezu identisch aussehenden Hipster mindestens am Äußeren bewahrheitet. 

Dagegen steht also Jesu Ruf, IHM zu folgen und nicht sich selbst, ein Ruf, der bei allem Anerkennen der jeweiligen geschöpflichen Einzigartigkeit zu Selbstverleugnung, Verzicht und Absehen von sich selbst auffordert.
Himmel, Bruder-Klaus-Kapelle, Wachendorf, 2013.
Welche legitime Sehnsucht kann sich in einer so verstandenen Nachfolge verwirklichen? Oder: Was treibt mich an zur Nachfolge Jesu?

1
Jesus sympathisiert mit dem Regelbruch. Selbstverständlich nicht aus Eigennutz oder zum Selbstzweck, sondern um neu Maß zu nehmen an Gott und dem Menschen. Klassisches Beispiel: das Heilen am Sabbat (vgl. Mt 12,9-14). Nicht graue Theorie oder Regelwerke können im Zentrum eines an Jesus ausgerichteten Lebens stehen, sondern das Wohl des Menschen und die höhere Ehre Gottes.
In gewisser Weise schreibt darüber Felicitas Hoppe in ihrer fiktiven Autobiographie, indem sie "Hoppe" als eine Person vorstellt, der theoretische Spielanleitungen und Denksportaufgaben zuwider waren, die für sie nichts anderes darstellten als "die trivialste Form von Gedankenspielen, Gottesbeweisen ohne Gott sozusagen, die um nichts anderes als um sich selber kreisen und nicht das Geringste damit zu tun haben, was Gott oder Sport oder Kunst wirklich ausmacht. Oder hat man jemals von einem gehört, der wirklich weitergekommen wäre, weil er sich an die Regeln hielt? Was durchaus nicht gegen die Regeln spricht, die man natürlich kennen muss, um mit ihnen zu spielen. Aber was in der Regel steckenbleibt, wird niemals den Raum für Neues öffnen ..."2

2
Das Selbstverständnis. Wie später Paulus formuliert, dass er allen alles geworden sei (1Kor 9,22), so hat auch Jesus in der Begegnung mit den verschiedenen Menschen sich anverwandelt. Auch einen Seelsorger im paulinischen und jesuanischen Sinn wird das Absehen von sich und das Hinwenden zum Anderen eine grundlegende Aufgabe sein. Im Briefroman "Das dreizehnte Kapitel" lässt Martin Walser seinen Protagonisten Basil Schlupp formulieren:
Lüftung am Hang, Ziegenhain, Jena, 2013.

"Wie viel mehr möchte man sein
als man ist und überall immer zugleich
in jedem Wasser fließen
die Hitze sein der Wüste
nachts das Eis
das Tannenwipfelwiegen im Wind
Freundschaftsstifter
Stromableser
Schlüssel-
Wahrer
aller Arzt
und Kranker
aller Ärzte.
Früher stieß
eins ans
andere
jetzt ist Platz
bzw. Leere
herrscht." 3

Vielleicht ist mit den letzten Worten dieses Gedichts der Terminus Selbstverleugnung auf poetische Weise recht gut getroffen.

3
Dann das Ethos. Was mehr von Jesus zu lernen wäre, ist das starke Wohlwollen gegen jedermann. Die Unbestechlichkeit, die niemanden bevorzugt und ohne falsche Rücksichtnahme klar benennt, was im Argen liegt, um zum Wohle des Einzelnen und seiner Spielräume aktiv zu werden. Das Austeilen des Guten auch denen gegenüber, die sich abwenden. Eigentlich ein Wahnsinn. Aber nur so wird Gutes mehr.

4
Entgegen meiner tatsächlichen Lebensgestaltung halte ich das Ideal der Hinwendung zum Verlassenen und das Wertschätzen des Schwächeren für einen hohen Wert. Diesen Widerspruch von Wertsetzung und Wertverwirklichung muss ich zugeben.
Nichtsdestotrotz ist der Wunsch nach einem Einsatz für die Marginalisierten, der Wunsch nach Gerechtigkeit, für deren Verwirklichung auch etwas aufgegeben werden muss, fest in mir verankert.
Ich sehe diesen Wunsch und diese Wertsetzung auch bei Jesus. Er ist das Vorbild dessen, der aus Liebe sich hingibt für die Verlorenen. Mit Jesaja: "durch seine Wunden sind wir geheilt" (Jes 53,5) Ohne Masochismus müsste eine solche Nachfolge "im Kreuz" doch auch für unsere Gesellschaft ein Weg sein, der Veränderungsbereitschaft und den Blick für die Untergebutterten verbindet.
Denn "[g]eboren zu sein reicht nicht. Man muss auch geboren werden wollen, das heißt, das zufällige Leben annehmen als Möglichkeit, für die Befreiung anderer zu leben. In der Erzählung von jesus und seinem Gott wird uns berichtet, dass uns die Kraft, um so leben zu können, gegeben werden kann, dass wir so geboren wurden, dass wir für diese Kraft empfänglich sind, dass wir unsere Kraft voneinander empfangen und weitergeben können. Gott-in-uns heißt diese Kraft, heiliger Lebensatem, heiliger Geist."4

Da kommt Freiheit auf.

Fahnenlose Fahnenmasten, Messe Berlin, Charlottenburg, Berlin, 2014.

1   Ein Gedanke, den ich Äußerungen von Tatjana Noemi Tömmel auf einer Veranstaltung der Katholischen Akademie verdanke: http://www.katholische-akademie-berlin.de/1:6467/Veranstaltungen/2014/05/35425_Freiheit-selbst-oder-vorherbestimmt.html

2   F. Hoppe, Hoppe. Frankfurt a.M. 2012, 191.

3   M. Walser, Das dreizehnte Kapitel. Reinbek bei Hamburg 1. Aufl. 2012, 189f.


4   H. Oosterhuis, Ich steh vor dir. Meditationen, Gebete und Lieder. Freiburg i.Br. 2004, 93.