Jetzt, kurz nach dem Tod von Siegfried
Lenz, habe ich eine seiner letzten Novellen gelesen, die
Liebesgeschichte "Schweigeminute".1
Darin erzählt Lenz die Beziehung des Schülers Christian zu seiner
Lehrerin Stella in einem Ostseehafenstädtchen, aufgebaut als
Rückblick Christians während der Gedenkstunde anlässlich ihres
Unfalltodes.
Es ist eine anrührende und traurige
Geschichte, und trotz der recht arglos geschilderten Verstrickungen
von Bewertungsmacht der deutlich älteren Lehrerin bei scheinbar
leicht sich entspinnender Liebe, ein Faktum, das durch die
Aufdeckungen der vergangenen Jahre noch einmal in anderem Licht
erscheint, trotz dieser Fragwürdigkeit also war ich ergriffen von der
und tiefen inneren Bewegtheit Christians.
Welle unterm Balkon, Altstadt Lublin, 2014. |
Ein wiederkehrendes Motiv, das mich beim Lesen
besonders ansprach, ist das der Welle und des Wellenbrechens.
Zum einen ist Christians Vater ein
Steinfischer, der große Steine vom Meeresgrund fischt, um "den
Wellenbrecher zu verbreitern und aufzustocken und die Mole, aus der
die Winterstürme manch ein Stück herausgeschlagen hatten
auszubessern."2
Christian tut dabei regelmäßig mit und fordert im Verlaufe von
seinem Vater sogar eine Art fester Entlohnung für seine Hilfen beim
Reparieren der Abwehr zerstörerischer Wellen.
Just aber an der Stelle, die zuvor
bearbeitet worden war, "wo wir die letzte Last der Steine
versenkt hatten",3
geschieht dann vor den Augen Christians das Unglück: die von einer
längeren Fahrt zurückkehrende Stella wird bei der Anfahrt auf den
Hafen über Bord geschleudert und zwischen Schiff und Hafenmauer
zerquetscht. Weder die Tatsache, dass sie eine ausgezeichnete
Schwimmerin war,4
half ihr, noch die wellenhemmende Arbeit ihres Schülers.
Schließlich erhält Christian vom
Vater der Toten eine aufbewahrte Postkarte, "das Photo zeigte
einen Delphin, der sich übermütig in die Luft geschnellt hatte und,
anscheinend berechnend, auf einer Welle landen wollte."5
Auf der Rückseite der letzte Gruß der Englischlehrerin: "Love,
Christian, is a warm bearing wave".6
Liebe, die warm tragende Welle – was
für ein Satz angesichts der tötenden Kraft, die zuvor beschrieben
wurde, was für eine Behauptung angesichts eines Jungen, als dessen
hauptsächliche Beschäftigung im Buch seine Hilfe zum Wellenbrechen
beschrieben wird.
Eine geniale literarische Logik, die gegeneinander
läuft wie das zurückbrandende Wasser gegen die neu heranflutende
Welle.
Sonne hinter der Weide. Wannsee, Berlin, 2014. |
Die "selbstverständlich"
aufkommende "Sehnsucht nach Dauer",8
die sich in Christian regt, kann da keine Erfüllung finden, kein
wellenreitender Delphin erscheint, die ewig sich auf ihrem Höhepunkt
brechende Welle wird bei Lenz eher zum Bild des Todes als der Liebe.
Das Fragmentarische dieser Liebe trifft
das Bild der Welle also genau.
1 S.
Lenz, Schweigeminute. Hamburg 2008.
2 Ebd.,
10.
3 Ebd.,
102.
4 Vgl.
ebd., 29. 48ff.
5 Ebd.,
118.
6 Ebd.
7 Ebd.,
83.