Der Mauerfall war (jaja,
neben vielem anderen) vor allem ein Ergebnis des kollektiven
Wunsches, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich
nicht länger fremdbestimmen zu lassen. Individueller Mut und
gemeinsames Engagement führten zur Selbstermächtigung in einem
System, das gerade dies nicht zulassen wollte und lange Zeit gewaltsam dagegen
vorging.
Ich bin immer wieder sehr
berührt von Bildern dieser Ereignisse und freue mich heute an dem,
was historisch daraus geworden ist.
Mauern überblicken. Engelbecken, Kreuzberg / Berlin-Mitte, 2014. |
Aber wenn ich mir
vorstelle, womit Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft heute
zuerst verbunden wird und auf welchem Gebiet Selbstermächtigung
propagiert wird, dann gerate ich ins Zweifeln.
Ich fühle mich nicht
fähig oder gerufen, hier die aktuelle Debatte über Sterbehilfe und
ihre verschiedenen Formen zu erörtern. Auch verspüre ich Respekt
vor den individuellen Empfindungen und Ängsten, die Menschen
bezüglich ihres Sterbens bewegen können und aus denen der Wunsch
resultieren kann, selbst zu entscheiden, wann das Leben endet.
Zugleich kann ich nicht
verhehlen, dass mir Bange wird, wenn aus diesen Ängsten und Sorgen
unabänderliche Handlungen werden, wie die der jungen Amerikanerin,
die sich dieser Tage umbrachte. Wird Selbstermächtigung dann
gleichbedeutend mit der Möglichkeit der Selbstbeendung? Ist diese
Machtergreifung dann eine gute, weil frei gewählte und selbst
verwaltete?
Aus der Perspektive des
Gläubigen: Gott will uns sicher als Glückliche und nicht als bis
ans Lebensende Leidende. Er will uns sicher auch als Freie und
Mündige, als Mutige und Engagierte. Zugleich vertraut er uns unser
Leben an, damit wir mit unseren Talenten etwas machen, und wo wir das
nicht mehr können, ihm wiederum zu vertrauen, dass er etwas damit
vorhat. Dieses Vertrauen entsteht sicher nicht von allein und ich
weiß selber nicht, ob ich es habe.
Ja, das Leben als ein
anvertrautes Gut zu begreifen und es im Vertrauen auf einen nicht
machbaren Sinn als unverfügbare Gabe anzunehmen, kann nicht
anbefohlen werden, dieses demütige Bewusstsein kann nur in einer
Gesellschaft wachsen.
Mauerattrappe, Kreuzberg, 2014. |
In unserer Gesellschaft
scheint es einen Grundkonsens zu geben über das Hochhalten von
Werten wie Menschenwürde, Freiheit und Selbstbestimmung. Die
Sensibilität für die Verletzung dieser Werte ist vergleichsweise
hoch – und zugleich verweisen diese Werte auf etwas, das der
Soziologe Hans Joas im gleichnamigen Buch die "Sakralität
der Person" nennt. Diese, sich besonders in der Entstehung
der Menschenrechte offenbarende Haltung gegenüber dem Menschen ruht
unter anderem auf den genannten Werten.
Die Lebendigkeit dieser
Werte fußt, besonders in der christlichen Tradition, auf einer
starken Motivation, nämlich auf einer „Sensibilität für
Unverfügbarkeit“1
des Lebens. Das bedeutet, dass die Vorstellung von Sakralität,
welche einer "Person dieselbe Aura zuspricht, die heiligen
Dingen eigen ist",2
diese Person dem Zugriff weitgehend entziehen will, sie also schützt
und verteidigt.
Besonders einen Aspekt
betont das Christentum stark: den Gabecharakter des Lebens. Joas
meint: „Das Leben selbst als Gabe aufzufassen, stellt dann einen
der stärksten Schutzwälle gegen seine Instrumentalisierung dar.
Insofern steckt im Gedanken des Lebens als Gabe der Gedanke
universaler Menschenwürde und unveräußerlicher Menschenrechte.“3
Nun ist gerade die Debatte
um Sterbehilfe natürlich keine Instrumentalisierung der
Menschenrechtsidee, sondern will sie gerade in anderer Weise
fruchtbar machen. Aber aus dem Gesagten glaube ich aber zu erkennen,
dass nicht Freiheit und Selbstbestimmung, sondern die unverfügbare
Person im Zentrum stehen. Freilich wird das jeweilige Personsein am
besten frei und selbstbestimmt gelebt und steht nicht gegen diese
Werte, wie sich am Gedenktag des Mauerfalls klar zeigt.
Dort erwuchs der Gang von
den Friedensgebeten zur Freiheit auch aus der Hoffnung und dem
Vertrauen, dass Gott schützt, dass nicht geschossen wird, dass sich
das Gute durchsetzen wird.
Ich hoffe, dass sich auch
heute das Leben durchsetzt, dass Selbstbestimmung dazu hilft, das
Leben zu wollen, es im Vertrauen frei zu wagen und sich immer wieder
neu schenken zu lassen.
Auch wenn die Vorstellung, mit dem
Leben beschenkt zu sein, nicht zuletzt eine echte Demutsübung ist.
Empfangende Hand des Jan Amos Comenius, Comenius-Garten, Neukölln, Berlin, 2014. |
1 H. Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der
Menschenrechte. Berlin 2011,
210.
2 Ebd.,
81f.
3 Ebd., 249.
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