Samstag, 8. November 2014

Selbstermächtigung, praktisch – Mauerfall und Sterbehilfe

Der Mauerfall war (jaja, neben vielem anderen) vor allem ein Ergebnis des kollektiven Wunsches, das eigene Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich nicht länger fremdbestimmen zu lassen. Individueller Mut und gemeinsames Engagement führten zur Selbstermächtigung in einem System, das gerade dies nicht zulassen wollte und lange Zeit gewaltsam dagegen vorging.

Ich bin immer wieder sehr berührt von Bildern dieser Ereignisse und freue mich heute an dem, was historisch daraus geworden ist.
Mauern überblicken. Engelbecken, Kreuzberg / Berlin-Mitte,
2014.
Aber wenn ich mir vorstelle, womit Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft heute zuerst verbunden wird und auf welchem Gebiet Selbstermächtigung propagiert wird, dann gerate ich ins Zweifeln. 

Ich fühle mich nicht fähig oder gerufen, hier die aktuelle Debatte über Sterbehilfe und ihre verschiedenen Formen zu erörtern. Auch verspüre ich Respekt vor den individuellen Empfindungen und Ängsten, die Menschen bezüglich ihres Sterbens bewegen können und aus denen der Wunsch resultieren kann, selbst zu entscheiden, wann das Leben endet.

Zugleich kann ich nicht verhehlen, dass mir Bange wird, wenn aus diesen Ängsten und Sorgen unabänderliche Handlungen werden, wie die der jungen Amerikanerin, die sich dieser Tage umbrachte. Wird Selbstermächtigung dann gleichbedeutend mit der Möglichkeit der Selbstbeendung? Ist diese Machtergreifung dann eine gute, weil frei gewählte und selbst verwaltete?

Aus der Perspektive des Gläubigen: Gott will uns sicher als Glückliche und nicht als bis ans Lebensende Leidende. Er will uns sicher auch als Freie und Mündige, als Mutige und Engagierte. Zugleich vertraut er uns unser Leben an, damit wir mit unseren Talenten etwas machen, und wo wir das nicht mehr können, ihm wiederum zu vertrauen, dass er etwas damit vorhat. Dieses Vertrauen entsteht sicher nicht von allein und ich weiß selber nicht, ob ich es habe.

Ja, das Leben als ein anvertrautes Gut zu begreifen und es im Vertrauen auf einen nicht machbaren Sinn als unverfügbare Gabe anzunehmen, kann nicht anbefohlen werden, dieses demütige Bewusstsein kann nur in einer Gesellschaft wachsen.

Mauerattrappe, Kreuzberg, 2014.
In unserer Gesellschaft scheint es einen Grundkonsens zu geben über das Hochhalten von Werten wie Menschenwürde, Freiheit und Selbstbestimmung. Die Sensibilität für die Verletzung dieser Werte ist vergleichsweise hoch – und zugleich verweisen diese Werte auf etwas, das der Soziologe Hans Joas im gleichnamigen Buch die "Sakralität der Person" nennt. Diese, sich besonders in der Entstehung der Menschenrechte offenbarende Haltung gegenüber dem Menschen ruht unter anderem auf den genannten Werten.

Die Lebendigkeit dieser Werte fußt, besonders in der christlichen Tradition, auf einer starken Motivation, nämlich auf einer „Sensibilität für Unverfügbarkeit1 des Lebens. Das bedeutet, dass die Vorstellung von Sakralität, welche einer "Person dieselbe Aura zuspricht, die heiligen Dingen eigen ist",2 diese Person dem Zugriff weitgehend entziehen will, sie also schützt und verteidigt.

Besonders einen Aspekt betont das Christentum stark: den Gabecharakter des Lebens. Joas meint: „Das Leben selbst als Gabe aufzufassen, stellt dann einen der stärksten Schutzwälle gegen seine Instrumentalisierung dar. Insofern steckt im Gedanken des Lebens als Gabe der Gedanke universaler Menschenwürde und unveräußerlicher Menschenrechte.“3

Nun ist gerade die Debatte um Sterbehilfe natürlich keine Instrumentalisierung der Menschenrechtsidee, sondern will sie gerade in anderer Weise fruchtbar machen. Aber aus dem Gesagten glaube ich aber zu erkennen, dass nicht Freiheit und Selbstbestimmung, sondern die unverfügbare Person im Zentrum stehen. Freilich wird das jeweilige Personsein am besten frei und selbstbestimmt gelebt und steht nicht gegen diese Werte, wie sich am Gedenktag des Mauerfalls klar zeigt.

Dort erwuchs der Gang von den Friedensgebeten zur Freiheit auch aus der Hoffnung und dem Vertrauen, dass Gott schützt, dass nicht geschossen wird, dass sich das Gute durchsetzen wird.

Ich hoffe, dass sich auch heute das Leben durchsetzt, dass Selbstbestimmung dazu hilft, das Leben zu wollen, es im Vertrauen frei zu wagen und sich immer wieder neu schenken zu lassen.
Auch wenn die Vorstellung, mit dem Leben beschenkt zu sein, nicht zuletzt eine echte Demutsübung ist.

Empfangende Hand des Jan Amos Comenius, Comenius-Garten, Neukölln, Berlin, 2014.

1   H. Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011, 210.

2   Ebd., 81f.


3   Ebd., 249.

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