Sonntag, 16. November 2014

Talent und Furcht - Kafkas Brief an den Vater

Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir.“ So beginnt Franz Kafka seinen "Brief an den Vater"1, der mir vorkommt wie ein Kommentar zum Talente-Gleichnis im heutigen Sonntagsevangelium (Mt 25,14-30). Der ganze Brief ist ein Antwortversuch auf die Frage des Vaters – oder eben, als würde der Knecht, der ein einziges Talent erhielt, erklären wollen, wie er ein solches Bild seines Herrn bekam, das er bekennen muss: “Herr, ich wusste, dass du ein strenger Mann bist [...] weil ich Angst hatte, habe ich dein Geld in der Erde versteckt.“ (24f)

Windel- und Biomüll, Rixdorf, Berlin, 2014.
Kafka war zur Zeit der Niederschrift 36 Jahre alt, Gründe seiner Furcht vor dem Vater (in Jesu Gleichnis ist dagegen die Rede von einem reichen Mann) finden sich vor allem in frühen Kindheitserinnerungen. Meine Frage ist daher: Warum könnte der Knecht so gehandelt haben, wie er es tat? Und: Wie kommt es zu einer derartig zerrütteten Beziehung zum Vater / zu Gott, dass Angst vor der Strenge alles Handeln bestimmt und die Begabungen nichtig erscheinen lassen?

Zunächst ein Wort zum Verhältnis von Vater und Gott bei Kafka, denn es erstaunt, wie oft im Brief immer wieder dahin gehende Vergleiche auftauchen: es gibt heimliche Scherze des Sohnes, “wie man sie über Götter und Könige macht“,2 es wird die scheinbare Rettung vor dem tobenden Vater beschrieben, durch die es dem Sohn schien, er habe "das Leben durch Deine Gnade behalten und [...] es als Dein unverdientes Geschenk weiter[getragen]";3 ferner leistet die Mutter "Fürbitte"4 beim Vater usw.

Dem entspricht das allgemeine Empfinden des Sohnes gegenüber dem Vater, in dem auch gleich die Frage der eigenen Fähigkeiten erscheint: “Du warst so riesenhaft in jeder Hinsicht; was konnte Dir an unserem Mitleid liegen oder gar an unserer Hilfe?5 Einer, den man so fürchten muss und der so weit entfernt scheint, kann doch nicht erwarten, dass die eigenen kleinen Möglichkeiten tatsächlich angesehen werden. Hier findet Franz Kafka gar keinen Grund, seine Fähigkeiten einzubringen.
Auch das, was er anbieten will, fühlt er belacht, ironisch erniedrigt oder im Zorn vernichtet, wobei er weiß, "dass Du mir zwar etwas geradezu Unanständiges oder Böses nicht vorwirfst (mit Ausnahme vielleicht meiner letzten Heiratsabsicht), aber Kälte, Fremdheit, Undankbarkeit."6
Das kaputte Verhältnis leidet also nicht am Vorwurf der Bosheit oder Schlechtigkeit zunächst, aber all das, was der Vater will, kann der Sohn nicht bieten und was dieser hat, will der Vater nicht sehen.
Astgewirr, Rügen, 2013.

Dazu kommt, dass der Vater tut, was er anderen verbietet und verlangt, was er selbst nicht leistet. Völlig unberechenbar wird das für den Sohn: “Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet ist.“7 (Die Mutter wirkt darum im Kontrast auch als „Urbild der Vernunft.8) Wenn nicht klar wird, was überhaupt gewollt ist, kann auch nichts getan werden.
So weist der Vater auf Entbehrungen in der eigenen Kindheit hin und münzt dies um in einen Vorwurf, dass die Kinder es ja so gut hätten : "Das, was Du Dir erkämpfen musstest, bekamen wir aus Deiner Hand“,9 so ist kein Kampf mehr nötig – wofür Verachtung droht. Und Dank gefordert wird. Eine Klemme, die der Sohn bündelt in der Aussage: “ich stand ja in allem meinem Denken unter Deinem schweren Druck".10

Die Folge des Dilemmas und des Druckes: ein dauerndes Schuldbewusstsein.11Ich konnte, was Du gabst, genießen, aber nur in Beschämung, Müdigkeit, Schwäche, Schuldbewusstsein. Deshalb konnte ich Dir für alles nur bettlerhaft dankbar sein“.12
Wenn die ganze eigene Existenz geschenkt ist und diese Gabe ständig zum Vorwurf aufgebaut wird, lähmt das alles Tun und drückt es in Unfreiheit und Angst.Von Vertrauen keine Spur.

Religiös gewendet ist das die Perversion des liebenden Schöpfers: Niklas Luhmann sah im göttlichen Geschenk des Lebens eine perfide Falle, die in einer "Dauerschuld" mündet, in der das eigene Leben als Rück-Gabe dargebracht werden müsse.13

Dass diese Verzerrung gerade nicht dem christlichen Verständnis der freien Gabe Gottes an die Menschen entspricht, die vor aller Leistung und trotz aller Schuld geliebt sind, muss immer wieder erinnert werden – auch angesichts des heutigen Gleichnisses, in dem sich Franz Kafkas Vaterbeziehung tragisch spiegelt.

Sein Werk spricht meiner Meinung nach im Übrigen dafür, dass Talente sich auch unter großem inneren und äußeren Druck entfalten können.

Stopp am Gleis, Grunewald, Berlin, 2014.

1   F. Kafka, Brief an den Vater. Frankfurt a.M. 1975, hier: 5.

2   Ebd., 27.

3   Ebd., 22.

4   Ebd., 28.

5   Ebd., 25.

6   Ebd., 6.

7   Ebd.. 14.

8   Ebd., 28.

9   Ebd., 31.

10   Ebd., 14.

11   Vgl. ebd., 28.33. u.ö.

12   Ebd., 31.


13   Vgl. H. Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Berlin 2011, 247.