Freitag, 7. November 2014

Ein stilles Gebet für mein Kind

Die folgenden Zeilen stammen von Mascha Kaléko und sind aus dem Februar 1938, als ihr Sohn Evjatar eineinhalb Jahre alt war.
Kaléko war damals für ihre melancholisch-heitere Lyrik in Berlin einigermaßen bekannt, konnte aber als "Ostjüdin" in Deutschland nicht mehr veröffentlichen, deshalb verließ sie mit ihrem Mann bald nach der Niederschrift das nationalsozialistische Deutschland und emigrierte in die USA.

Familienidylle. Mauerbild in Bad Freienwalde, 2014.
Stilles Gebet


Ich dank dir Herr
In jeder stillen Stund
Ist auch mein Mund
Scheu und verschwiegen.
Ich stehe hier
An meines Kindes Wiegen
Und ohne Wort
Dankt es in mir.

Berlin, Februar 19381


Schweigende Dankbarkeit ist eine Haltung, in der sich auch mein Staunen über dieses kleine Wesen vor mir oft genug ausdrückt.
Die Passivformulierung der letzten Zeile lässt die intuitiv aus dem Innersten kommende und darum wortlose Dankbarkeit erkennen, die kein bestimmtes Bekenntnis meint, sondern spürt, dass die eigene Dankbarkeit sich auf jemanden ausrichtet.
Obzwar "scheu und verschwiegen", ist sie doch deutlich spürbar.

Bittere Pointe: Kalékos Sohn starb im Alter von 31 Jahren, als auch seine Karriere gerade Fahrt aufnahm. Dieser Verlust traf die Dichterin ins Mark.

Blumen, gedreht. Rixdorf, Berlin, 2014.

1   M. Kaléko, Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte. 7. Aufl. München 2008, 17.