Jesus zeigt, was in ihm steckt –
dieses Evangelium ist wieder einmal ein Hammer!
Ich konzentriere mich nur auf einen
Satz, den ich neben den anderen spannenden Aussagen für besonders
sperrig und anstößig halte:
"Wer Vater oder Mutter mehr
liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter
mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig." (Mt 10,37)
Drei Schritte, ein biblischer, ein
heilsgeschichtlicher und ein persönlich-existenzieller, sollen
helfen, sich diesem Text anzunähern.
Was bröckelt da? Berlin-Mitte, 2016. |
1 Biblischer Bezug
Mutter und Vater zu ehren wird in der
Bibel groß geschrieben – das Vierte Gebot lautet bekanntlich:
"Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in
dem Lande, das der HERR. dein Gott, dir gibt." (Ex 20,12)
Die Herkunftsfamilie bekommt auf diese
Weise einen ungeheuer großen Stellenwert; zumal das Gebot gleich
nach jenen Geboten kommt, die den einzigen und bildlosen Gott und
seinen Ehrentag im Blick haben. Man könnte also meinen, nach dem
allmächtigen Gott kommen gleich die mit nur wenig geringerer
Autorität ausgestatteten Eltern – mächtig und durchgreifend,
ehrfurchtheischend und respekteinflößend – und ein
dementsprechend geprägtes Elternbild würde das vielleicht auch so
aussagen wollen.
Aber das wäre der Blick eines Kindes.
Kinder jedoch sind im alttestamentarischen Regel- und Gesetzeswerk
normalerweise gar nicht angesprochen.
Außerdem, darauf weist besonders
Fulbert Steffensky hin, sind die Zehn Gebote "Sätze, mit
denen [das Volk Israel] seine Freiheit schützen und seine Würde
bewahren kann. ... Die Gebote sind nicht die Begrenzung der
menschlichen Lebensmöglichkeiten. Sie sind die Verlockung zu
größerem Reichtum für alle."1
Nicht der Schutz einer Autorität oder die Sekundärtugend des
Gehorsam gegenüber einer Obrigkeit also steht im Mittelpunkt der
Gebote, sondern die Würde und Freiheit aller.
Für das Vierte Gebot hieße das dann,
dass die Eltern nicht als jene gemeint sind, zu denen Kinder
bisweilen furchtsam aufblicken, sondern die Eltern als jene, deren
Würde und Freiheit zu wahren ist.
Damit kann nur heißen: "Die
Adressaten des vierten Gebots sind die erwachsenen Kinder, die für
ihre alten und hilflosen Eltern sorgen sollten. Die Alten waren
unversorgt in einer Gesellschaft von Nomaden. Für sie spricht der
Gott, dessen besonderes Augenmerk auf das gefährdete und
ungeschützte Leben geht."2
Der Nachsatz "damit du lange
lebst in dem Lande" bezöge sich dann auf diesen uralten
Generationenvertrag, dass eine Generation die nächste erzieht und
von dieser im Alter unterstützt wird.
Und Jesus kündigt diesen Vertrag auf!
Wenn er sich selbst jetzt an die Stelle
der solchermaßen zu Schützenden setzt, ist das eine ziemliche
Anmaßung! Sollen Fürsorge und Unterstützung der Schwachen
hintanstehen, damit er geehrt werden kann?
Eine familienfreundliche Aussage wäre
das nun wirklich nicht – und wenn die Ethik des Christentums sich
nur darauf stützen würde, dann müssten Parteien, die sich auf den
christlichen Glauben berufen, nicht viel Familienpolitik machen.
Der Blick auf den biblischen
Hintergrund macht Jesu Aussage also noch rätselhafter.
2 Die Tendenz zur Universalisierung
Aus der Logik eines Nomadenvolkes, das
im verheißenen Land inmitten von feindlichen Nachbarn sesshaft
werden will, folgen Gebote wie jene, sich um die eigenen Eltern und
die eigene Familie zu kümmern, aber auch, nicht außerhalb des
eigenen Volkes zu heiraten (vgl. Dtn 7,1-5) und sich insgesamt sehr
zurückzuhalten mit Kontakten zu den Nachbarn (vgl. Ex 23,31b-33).
Solche Gebote haben ihren Sinn und ihre
innere Logik, wenn man von Feinden umgeben ist und zunächst darauf
achten muss, dass die eigenen Leute durchkommen.
Der weitere Blick. Hiddensee, 2017. |
Aber Jesus setzt diese Logik nun außer
Kraft.
Nicht mehr Familie oder Sippe, Stamm
oder Volk sind die wichtigsten Bezugsgrößen, auf die sich das
Interesse eines Jesusjüngers konzentrieren soll.
Nicht mehr nur jenen, die zum eigenen
Volk gehören und die die eigene Religion praktizieren, sollen sie
helfen, sondern allen. Das macht besonders Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter
deutlich.
Es gilt nicht mehr die Logik der Sippe,
sondern eine neue Logik!
Es ist eine Logik mit zwei Stoßrichtungen - einerseits die Richtung auf Jesus selbst hin, wie wir es in diesem Evangelientext vorliegen haben, andererseits die Logik der Zuwendung zu jedem, der diese Zuwendung braucht.
Es ist eine Logik mit zwei Stoßrichtungen - einerseits die Richtung auf Jesus selbst hin, wie wir es in diesem Evangelientext vorliegen haben, andererseits die Logik der Zuwendung zu jedem, der diese Zuwendung braucht.
Die Dynamik dieser immer weiter
geführten Öffnung zeigt sich in der Bibel an mehreren Stellen:
Schon im Alten Testament wird die Konzentration auf das eigene Volk
überwunden und eine Gemeinschaft aller Völker bei Gott verheißen
(vgl. Jes 2,1-2). Auch die rigide Ehepolitik, die keinen Ausländer
in der Familie duldete, wird beispielsweise im Buch Rut
konterkariert.
Im Reden und Handeln Jesu wird diese
Universalisierung auf die Spitze geführt – und sie ist eine
Konsequenz aus Jesu Forderung in jenem Satz aus dem Evangelium. Er
ruft uns dazu auf, über den Tellerrand unseres Nahumfeldes
hinauszuschauen.
Wenn wir nämlich unseren Blick weiten
lassen, finden wir ihn. Denn er lässt sich finden in den Bedürftigen
auf der ganzen Welt, er zeigt uns sein Gesicht in den Obdachlosen
dieser Stadt, er steht uns gegenüber im verzweifelten
Zellennachbarn.
So kann diese Aufforderung ganz
allgemein dazu führen, dass wir unseren inneren Horizont erweitern,
nicht in der eigenen Soße kleben bleiben und uns öffnen für
"mehr".
Aber auch das befriedigt noch nicht zur
Gänze! Das ist nicht der innerste Kern von Jesu Worten!
3 Das Zentrum meines Lebens
Eine persönliche Erfahrung mag
verdeutlichen, was mein dritter Punkt ist:
Ich habe mich ungefähr ein Jahrzehnt
lang auf einen geistlichen Beruf in der katholischen Kirche
vorbereitet und dabei erst in einem Priesterseminar und dann im
Noviziat sowie diversen anderen Niederlassungen des Jesuitenordens
gelebt. Während dieser Zeit hatte ich zwar durchgängig Kontakt zu
meiner Familie, aber relativ überschaubaren und begrenzten. Das lag
nicht daran, dass ich meine Eltern nicht mochte oder keinen Kontakt
zu ihnen haben durfte, sondern dass ich in dieser Zeit einfach wenig
Wert darauf gelegt habe, sie zu sehen.
Im Nachhinein frage ich mich selbst,
warum das so war – und ich glaube, dass ich, ohne es bewusst zu
wollen, diese Forderung Jesu einfach gelebt habe.
Es passierte in einer Dynamik der
Ausrichtung auf das konkrete Lebensziel, Jesus zu folgen. Nur dann
ist der Satz zu verstehen: wenn es einfach geschieht – nicht wenn
es erzwungen wird.
Inzwischen würde ich nicht mehr so
einfach von mir behaupten, ich würde Jesus mehr lieben als meine
Herkunft (die Eltern) und meine Zukunft (meine Frau und mein Kind).
Ich würde diesem Satz heute also nicht wirklich gerecht werden.
Aber was will ich mit dieser Einführung
sagen?
Worauf Jesus mit seiner Anmaßung
hinauswill, ist, dass unser Leben in seinem Kreisen um so viele
verschiedene Dinge die richtige Mitte findet.
Alles das, was uns natürlicherweise
wichtig ist, und dazu zählen eben besonders die Eltern, muss
daraufhin abgeklopft werden, ob es nicht einen Platz bekommen hat,
der ihm nicht zusteht.
Was ist denn das, was ich am höchsten
schätze, worum sich mein Leben dreht? Wir wünschen und ersehnen so
viele Dinge.
"Die Frage ist nur, worauf die
Sehnsucht und das Begehren geht; etwa nach dem Reich Gottes, wie es
die Bibel vorschlägt, oder nach dem Recht, wie sie es an anderer
Stelle tut. Wonach man sich von Herzen sehnt, das ist unser Gott –
oder unser Götze. Worauf geht unser Begehren, unsere
Lebensintention, unsere Lebenskraft und unser Trachten? Was streben
wir an und was verehren wir, indem wir nach ihm streben?"3
Fulbert Steffensky legt hier den Finger
in die Wunde, wie es mit ähnlichen Worten auch schon Martin Luther
getan hat.
Was uns so wichtig ist, dass wir viel
Zeit und Energie und Muße darauf verwenden – jeder kann für sich
selbst klären, was das jeweils ist – das setzt sich an die Stelle
Gottes in unserem Herzen.
Jesu Provokation will uns also dazu
verhelfen, die richtigen Prioritäten zu setzen. Gott Gott sein zu
lassen und nicht irgendetwas oder irgendjemand anderes an seine
Stelle zu setzen.
Und wenn Jesus hier fordert, dass jene,
die sich an ihm ausrichten wollen, also die Christen, ihn auch an die
erste Stelle setzen sollen, dann ist damit gemeint, dass die Liebe
Gottes zu uns einen Platz in unseren Herzen haben soll. Denn das ist Jesus
– die menschgewordene Liebe Gottes. Die soll in unseren Herzen
wohnen. Dann können wir uns um unsere Eltern und unsere Kinder
kümmern.
Mit Blick auf das Vierte Gebot: Nicht
das Aussetzen der Hilfe für Hilfsbedürftige ist gemeint, sondern
die Klärung, was wirklich wichtig ist im Leben.
Was wirklich wichtig ist! Wagen im Körnerpark, 2015. |
1 F.
Steffensky, Die Zehn Gebote. Anweisungen für das Land der Freiheit.
Stuttgart 2013, 13.
2 Ebd.,
53.
3 Ebd.,
101.