Man muss nicht mit allen Ausformungen
christlicher Lebensschutzinitativen übereinstimmen, um sich für
ungewollte Menschenleben einzusetzen. Schon ganz und gar unpassend
finde ich die unanständigen Aufrufe und Aktionen mancher linker
Gruppen, die sich dem Wunsch nach dem Schutz menschlichen Lebens
entgegenstellen.
Während sich also in diesen Stunden wieder
viele Demonstranten und Gegendemonstranten in Berlin einfinden, um
beim "Marsch für das Leben"
vornehmlich für oder gegen Abtreibung (aber auch zu anderen
Lebensschutzthemen) zu demonstrieren, finde ich im trauten Kreis der
Familie eines meiner Lieblingsgedichte, das zu diesem Marsch passt.
Verlust des Menschen. Müllrose, 2017. |
Es ist geschrieben von der
Namensgeberin dieses Blogs, Hilde Domin, und handelt von der
tragischen Unumkehrbarkeit des ersten gewaltsamen Todes, des Todes
von Abel durch die Hand seines Bruders Kain. Und es handelt von der
Hoffnung auf einen Neuanfang, vom Aufstehen gegen den Tod.
Abel steh auf
Abel steh auf
es muß neu gespielt werden
täglich muß es neu gespielt werden
täglich muß die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muß ja sein können
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rückgängig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
Ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein
Täglich steh auf
damit wir es vor uns haben
dies Ja ich bin hier
ich
dein Bruder
es muß neu gespielt werden
täglich muß es neu gespielt werden
täglich muß die Antwort noch vor uns sein
die Antwort muß ja sein können
wenn du nicht aufstehst Abel
wie soll die Antwort
diese einzig wichtige Antwort
sich je verändern
wir können alle Kirchen schließen
und alle Gesetzbücher abschaffen
in allen Sprachen der Erde
wenn du nur aufstehst
und es rückgängig machst
die erste falsche Antwort
auf die einzige Frage
auf die es ankommt
steh auf
damit Kain sagt
damit er es sagen kann
Ich bin dein Hüter
Bruder
wie sollte ich nicht dein Hüter sein
Täglich steh auf
damit wir es vor uns haben
dies Ja ich bin hier
ich
dein Bruder
Damit die Kinder Abels
sich nicht mehr fürchten
weil Kain nicht Kain wird
Ich schreibe dies
ich ein Kind Abels
und fürchte mich täglich
vor der Antwort
die Luft in meiner Lunge wird weniger
wie ich auf die Antwort warte
Abel steh auf
damit es anders anfängt
zwischen uns allen
damit es anders anfängt
zwischen uns allen
Die Feuer die brennen
das Feuer das brennt auf der Erde
soll das Feuer von Abel sein
das Feuer das brennt auf der Erde
soll das Feuer von Abel sein
Und am Schwanz der Raketen
sollen die Feuer von Abel sein1
sollen die Feuer von Abel sein1
Ja, "wie sollte ich nicht dein
Hüter sein"? - so müsste unsere selbstverständliche
Antwort lauten auf Gottes Frage nach unserem Verhältnis zu unseren
Nächsten. Besonders nach den Nächsten in der Familie.
Täglich müssen wir miteinander
achtsam sein und einander schützen – und "täglich muß es
neu gespielt werden", das Lied des Lebens.
Es ist ein Lied, das uns Feuer macht, das uns
bis zu den Sternen bringen und uns antreiben soll, aufzustehen gegen
den Tod.
Abel hat keine Erben. Kinderlos ist er
und ohne Nachkommen. Sein Feuer müsste längst erloschen sein. Aber als
Opfer ungerechter Gewalt lebt sein Erbe als Mahnung weiter und
treibt uns an, gegen jegliche Gewalt und allen Tod aufzubegehren.
Als Christ glaube ich, dass Abel und alle
Toten aufgehoben sind bei Gott.
Hilde Domin flicht kein explizit religiöses Bekenntnis ein in ihr Gedicht. Sie formt nur biblische Motive um – und ihr Denken ist geprägt von der Hoffnung auf die Kraft des Lebens. Ihr Leitmotiv (und das Motto des Gedichtbandes, aus dem dieses Gedicht stammt) ist der töricht scheinende Wunsch, dass es irgendwie "anders anfängt zwischen uns allen".
Hilde Domin flicht kein explizit religiöses Bekenntnis ein in ihr Gedicht. Sie formt nur biblische Motive um – und ihr Denken ist geprägt von der Hoffnung auf die Kraft des Lebens. Ihr Leitmotiv (und das Motto des Gedichtbandes, aus dem dieses Gedicht stammt) ist der töricht scheinende Wunsch, dass es irgendwie "anders anfängt zwischen uns allen".
1 In:
H. Domin, Ich will dich. Gedichte. Frankfurt a.M. 1995, 28f.