Dienstag, 12. April 2016

Weißbrot und Leichentuch – "Änderungen" von Hilde Domin eucharistisch gelesen

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Wie wir gerade am Fall des Schmähgedichtes von Jan Böhmermann erleben, entscheidet nicht zuletzt die mögliche oder wirkliche inhaltliche Einbettung über Charakter und Aussageabsicht eines Textes – ob dessen Zeilen also Satire oder Beleidigung oder gar ein "Zwitter" aus beidem (so Bernhard Pörksen bei "Anne Will") seien. Diese tatsächliche oder nur gewollte Einbettung kann, auch je nach persönlicher Betroffenheit, durchaus sehr verschieden erfahren, interpretiert oder gar abgelehnt werden – und wird damit zu einer entscheidenden Größe bei der Beurteilung.
Mehr möchte ich gar nicht dazu sagen, denn kompetentere Kommentatoren haben hier schon viel gesagt.
Was mich an der Frage der Einbettung oder Einordnung aber beschäftigt, ist die Grenze der Interpretierbarkeit. Gewöhnlich verfahre ich in diesem Blog relativ frei damit, ziehe mir die Inhalte auf einen für mich lesbaren Grund und kommentiere im Sinne dieses meines Grundes.

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Welcher Weg?
Wege neben dem Dießener Himmel, Dießen, 2015.
Konkretes Beispiel ist eine meiner Lieblingslyrikerinnen:
Hilde Domin hat sich religiös nicht eindeutig verortet. Immer wiedergreift sie biblische oder explizit christliche Motive auf und verwandelt sie sich lyrisch an. Dazu gehören unter anderem das Gedicht "Die Heiligen"1 mit seinen vieldeutigen und für diesen Blog namensgebenden Zeilen „...wir essen Brot, aber wir leben von Glanz...“, oder das Frühlingsgedicht "Osterwind",2 wie auch "Abel steh auf"3 und nicht zuletzt "Ecce homo"4 unter Hinweis auf den Gekreuzigten.
Aber auch weniger eindeutige Gedichte liegen in den Sammlungen vor.
Eines von ihnen ist "Änderungen"5, das ich, mit meinem theologischen Hintergrund, zuerst als eucharistisches Gedicht lese:

Änderungen

Neben meinem Kopf
ich lege ein Stück Weißbrot neben meinen Kopf
mit seinen goldenen Rändern
gieße Wein dazu
streue Salz
aus meinem Kissen wächst eine Laube
mein Bettuch wird zum Tischtuch
das Tischtuch
zum Leichentuch

Die mentale "Änderung" des Betttuches in ein Tischtuch und dieses Tischtuches in ein Leichentuch steht für das Verweben verschiedener Bedeutungsebenen.
Das im Bett neben dem Kopf, also ganz nah und eng herankommende Brot mit Salz und der ausgegossene Wein lassen eine gemütliche Laube wachsen, unter der sich gemeinsam speisen ließe. Doch bevor dies geschieht oder beschrieben werden kann, gerät alles ins Rutschen und aus der aufkeimenden Behaglichkeit von Bett und Tisch wird der Gedanke an das Grab. 

Ich denke sofort an Jesu letztes Mahl im Kreise seiner Jünger, das direkt auf seinen Tod hin gelesen werden muss. Denn wie immer man die Deutung seines bevorstehenden Todes auch anhand anderer Textstellen bewerten will – beim Mahl nimmt er, jedenfalls nach der Darstellung der Synoptiker und des Paulus, diese Deutung selbst vor. Die Hineingabe in Brot und Wein, die Weitergabe des eigenen Lebens in den Mahlzeichen und die Erwartung des eigenen Todes gehen ineinander über.
"Das Leben wird ihm am Kreuz entrissen, aber er gibt es jetzt schon von sich aus hin. Er wandelt seinen gewaltsamen Tod in einen freien Akt der Hingabe seiner selbst für die anderen und an die anderen um."6

Ohne den folgenden Tod wären die Brot- und Kelchworte damit nur leeres Gerede. Durch den Zusammenhang von Mahl und Tod aber verlängert das Tischtuch des Mahles sich in das Leichentuch.
Doch überall, wo Menschen sich zum Gedächtnismahl Christi versammeln, wächst er selbst als bergende Laube über sie und fügt sie so zusammen zu einer Gemeinschaft.

Diese Deutung und diese Gedanken sind bei der Lektüre des Gedichtes gewiss nicht zwingend.
Aber ich kann es nicht anderes einbetten als so.

Ausgang und Eingang. Rixdorf, Berlin, 2015.

1   In: H. Domin, Nur eine Rose als Stütze. Gedichte. Frankfurt a.M. 1994, 28ff.
2   In: Dies., Rückkehr der Schiffe. Gedichte. Frankfurt a.M. 1994, 23.
3   In: Dies., Ich will dich. Gedichte. Frankfurt a.M. 1995, 28f.
4   In: Ebd., 19.
5   In: Ebd., 43.

6   J. Ratzinger (Benedikt XVI.), Jesus von Nazareth II. Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Freiburg i.Br. u.a. 2011, 151.