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Wie wir gerade am Fall des
Schmähgedichtes von Jan Böhmermann erleben, entscheidet nicht
zuletzt die mögliche oder wirkliche inhaltliche Einbettung über
Charakter und Aussageabsicht eines Textes – ob dessen Zeilen also
Satire oder Beleidigung oder gar ein "Zwitter" aus beidem
(so Bernhard Pörksen bei "Anne Will")
seien. Diese tatsächliche oder nur gewollte Einbettung kann, auch je
nach persönlicher Betroffenheit, durchaus sehr verschieden erfahren,
interpretiert oder gar abgelehnt werden – und wird damit zu einer
entscheidenden Größe bei der Beurteilung.
Mehr möchte ich gar nicht dazu sagen,
denn kompetentere Kommentatoren haben hier schon viel gesagt.
Was mich an der Frage der Einbettung
oder Einordnung aber beschäftigt, ist die Grenze der
Interpretierbarkeit. Gewöhnlich verfahre ich in diesem Blog relativ
frei damit, ziehe mir die Inhalte auf einen für mich lesbaren Grund
und kommentiere im Sinne dieses meines Grundes.
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Welcher Weg? Wege neben dem Dießener Himmel, Dießen, 2015. |
Konkretes Beispiel ist eine meiner
Lieblingslyrikerinnen:
Hilde Domin hat sich religiös nicht eindeutig verortet. Immer wiedergreift sie biblische oder explizit christliche Motive
auf und verwandelt sie sich lyrisch an. Dazu gehören unter anderem
das Gedicht "Die Heiligen"1
mit seinen vieldeutigen und für diesen Blog namensgebenden Zeilen
„...wir essen Brot, aber wir leben von Glanz...“, oder das
Frühlingsgedicht "Osterwind",2
wie auch "Abel steh auf"3
und nicht zuletzt "Ecce homo"4
unter Hinweis auf den Gekreuzigten.
Aber auch weniger eindeutige Gedichte
liegen in den Sammlungen vor.
Eines von ihnen ist "Änderungen"5,
das ich, mit meinem theologischen Hintergrund, zuerst als
eucharistisches Gedicht lese:
Änderungen
Neben meinem Kopf
ich lege ein Stück Weißbrot neben
meinen Kopf
mit seinen goldenen Rändern
gieße Wein dazu
streue Salz
aus meinem Kissen wächst eine Laube
mein Bettuch wird zum Tischtuch
das Tischtuch
zum Leichentuch
Die mentale "Änderung" des
Betttuches in ein Tischtuch und dieses Tischtuches in ein Leichentuch
steht für das Verweben verschiedener Bedeutungsebenen.
Das im Bett neben dem Kopf, also ganz
nah und eng herankommende Brot mit Salz und der ausgegossene Wein
lassen eine gemütliche Laube wachsen, unter der sich gemeinsam
speisen ließe. Doch bevor dies geschieht oder beschrieben werden
kann, gerät alles ins Rutschen und aus der aufkeimenden
Behaglichkeit von Bett und Tisch wird der Gedanke an das Grab.
Ich denke sofort an Jesu letztes Mahl
im Kreise seiner Jünger, das direkt auf seinen Tod hin gelesen
werden muss. Denn wie immer man die Deutung seines bevorstehenden
Todes auch anhand anderer Textstellen bewerten will – beim Mahl
nimmt er, jedenfalls nach der Darstellung der Synoptiker und des
Paulus, diese Deutung selbst vor. Die Hineingabe in Brot und Wein,
die Weitergabe des eigenen Lebens in den Mahlzeichen und die
Erwartung des eigenen Todes gehen ineinander über.
"Das Leben wird ihm am Kreuz
entrissen, aber er gibt es jetzt schon von sich aus hin. Er wandelt
seinen gewaltsamen Tod in einen freien Akt der Hingabe seiner selbst
für die anderen und an die anderen um."6
Ohne den folgenden Tod wären die Brot-
und Kelchworte damit nur leeres Gerede. Durch den Zusammenhang von
Mahl und Tod aber verlängert das Tischtuch des Mahles sich in das
Leichentuch.
Doch überall, wo Menschen sich zum
Gedächtnismahl Christi versammeln, wächst er selbst als bergende
Laube über sie und fügt sie so zusammen zu einer Gemeinschaft.
Diese Deutung und diese Gedanken sind
bei der Lektüre des Gedichtes gewiss nicht zwingend.
Aber ich kann es nicht anderes
einbetten als so.
Ausgang und Eingang. Rixdorf, Berlin, 2015. |
1 In:
H. Domin, Nur eine Rose als Stütze. Gedichte. Frankfurt a.M. 1994,
28ff.
2 In:
Dies., Rückkehr der Schiffe. Gedichte. Frankfurt a.M. 1994, 23.
3 In:
Dies., Ich will dich. Gedichte. Frankfurt a.M. 1995, 28f.
4 In:
Ebd., 19.
5 In:
Ebd., 43.
6 J.
Ratzinger (Benedikt XVI.), Jesus von Nazareth II. Vom Einzug in
Jerusalem bis zur Auferstehung. Freiburg i.Br. u.a. 2011, 151.