Mittwoch, 23. Juli 2025

"Alles hat seine Zeit!" - Semesterabschlussgottesdienst in der Ausstellung "Wo liegt eigentlich dieses Ostdeutschland?"

 Biblischer Text für den Semesterschlussgottesdienst in der Ausstellung „Wo liegt eigentlich dieses Ostdeutschland?“ in der Friedenskirche Frankfurt (Oder):

Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben, / eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zum Ausreißen der Pflanzen, eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen, / eine Zeit zum Niederreißen / und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen, / eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz; eine Zeit zum Steinewerfen / und eine Zeit zum Steinesammeln, / eine Zeit zum Umarmen / und eine Zeit, die Umarmung zu lösen, eine Zeit zum Suchen / und eine Zeit zum Verlieren, / eine Zeit zum Behalten/ und eine Zeit zum Wegwerfen, eine Zeit zum Zerreißen/ und eine Zeit zum Zusammennähen, / eine Zeit zum Schweigen / und eine Zeit zum Reden, eine Zeit zum Lieben / und eine Zeit zum Hassen, / eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden. (Koh 3,1-8)

 

Oliver Barth, "Mein letzter Arbeitstag" in 
"Wo liegt eigentlich dieses Ostdeutschland?" in 
der Friedenskirche Frankfurt (Oder).
Alles hat seine Zeit!

Wir haben diesen biblischen Text gehört und uns dafür heute vor dieses Bild von Oliver Barth gesetzt.

Mein letzter Arbeitstag“ – für Studierende wirkt das vielleicht erst mal nicht passend, weil der Einstieg ins Erwerbsleben in der Regel erst noch bevorsteht.

Aber bevor wir uns inhaltlich mit dem Titel und seiner Botschaft auseinandersetzen, schauen wir das Bild zunächst genauer an: Es ist mehrfach aufgeteilt. Oben und unten große Farbflächen. Orange, braun und rot bestimmen das Farbspektrum. Rechts und links vom Zentrum verschiedene Anzeigen, Knöpfe und Regler auf wüstem Grund, auch Fotos und Schilder mischen sich darunter. Und in der Mitte: ein Maschendrahtzaun, der scheinbar geöffnet wurde und den Blick freigibt auf eine trockene Landschaft. In die Ferne ziehen sich Risse im Erdboden. Über allem ein dunkler Himmel, in dem steht: „Mein letzter Arbeitstag“.

Angewendet auf unser Thema wirkt es, als wäre außen eine Zeit für Arbeiten – und in der Mitte eine Zeit für… ja für was eigentlich?

Ist es Freiheit? Ungewissheit? Eine Zukunft ohne Zäune und Grenzen?

Zum Verstehen des Bildes ist sicher wichtig zu wissen, welcher Kontext dahinter steht: Es geht in diesen Bildern und in der Ausstellung um Ostdeutschland. Und deshalb sind Erfahrungen und Geschichten ostdeutscher letzter Arbeitstage in dieses Bild eingeflossen.

Es zeichnet ein eher trübes Bild vom Leben nach der Erwerbsarbeit – denn in Ostdeutschland bedeutete das in den 90er Jahren in erster Linie Massenentlassungen. Aus den Betrieben, die neben der Erwerbsarbeit auch ein soziales Umfeld schufen und viel von den Möglichkeiten und Grenzen in der Freizeit prägten, aus diesen Betrieben, aus Kollektiven und Gruppen wurden viele hinaus entlassen. Und standen nun, in der Zeit der offenen innerdeutschen Grenzen und dann des vereinten Deutschland vor einer unklaren Situation. Anders als erhofft, kam es nicht sofort zu blühenden Landschaften, vielmehr traten Brache und Ödnis im Kontrast zum neuen Westen erst jetzt richtig krass hervor.

Eine Zeit zum Arbeiten – und eine Zeit, um entlassen zu werden.
Eine Zeit der offenen Grenzen – und eine Zeit der Orientierungslosigkeit.“

So könnte der Kontext Ostdeutschland das Bild erhellen.

Ich möchte jetzt aber noch einen weiteren, allgemeineren Blick wagen: Was heißt es, drinnen zu sein – und was, draußen?

Auch hier ist das Kunstwerk interessant: Wir befinden uns in einem Kirchenraum, in dem ein Bild einen Blick nach außen darstellt. Aber eben nicht den Blick auf ein Außen vor der Kirche oder in Frankfurt, sondern auf ein imaginiertes Außen irgendwo und nirgends.

Soweit, so normal. Das ist ja eine der Aufgaben von Kunst – zeigen, was nicht ist oder was sein könnte.

Für mich schließen sich daran einige Fragen an, die über das Bild hinausgehen:

1. Welches Außen zeigen wir als Kirchen in unserer Verkündigung?

Ist es die „böse Welt“, das fremde Außen, mit dem wir am liebsten nichts zu tun haben wollen? Ist es das Bild einer feindlichen Welt, vielleicht wüst und karg, weil hier im Osten das Christentum nicht mehr blüht?

Oder ist es das Bild von Gottes guter Schöpfung, die zu gestalten wir berufen sind, eine Welt, in der Spannungen dazugehören, die aber unser Zuhause ist und an deren Schönheit wir uns freuen können?

Eine Zeit der bösen Welt – und eine Zeit der guten Schöpfung Gottes“ – in welcher Zeit des Blicks nach draußen befinden wir uns gerade?

Natürlich gibt es auch hier eine gewisse Vielfalt, je nach Mentalität und Erfahrungen.

Ausstellungsansicht 
"Wo liegt eigentlich dieses Ostdeutschland?"
2. Und wenn wir unsere inneren Augen öffnen – das Studium, die Lage der Welt, die eigenen Pläne, Freunde und Familie…

Sehe ich dann vielleicht eher eines der farbenfroheren Bilder von Anja Beeken vor mir – oder doch die Wüste?

Welche Zeit ist in mir? Sind die Zäune schon durchbrochen – oder hänge ich noch an den Maschinen mit ihren Anzeigen und Reglern?

3. Und, weil wir ja in einem Gottesdienst die ganz grundsätzlichen Fragen angehen können:

Was ist dieses Draußen? Bin ich als Mensch wirklich im Gegenüber zum Draußen – oder gehöre ich nicht vielmehr an die frische Luft, in den Wald, ins Wasser?

Mit einem nicht wirklich berechenbaren Körper (und vom Geist ganz zu schweigen), bin ich selbst Teil des wilden Draußen, bin Natur und nicht eingehegt. Und nur teilweise ein „Innen“, das mir meine Kultur oder mein Verstand oder meine Kleidung manchmal nahelegen.

Mich inspiriert gerade ein Buch, das „Wilde Kirche“ heißt. Darin erzählt der Autor Jan Frerichs von seinen Erfahrungen mit sich selbst und der Natur – und mit Gott, den er ganz neu kennenlernt. Denn ohne die oft etwas verkopften Vorstellungen vom Glauben geht es ihm auch darum, dass wir (ähnlich wie ich es gerade beschrieben habe) uns selbst als Teil eines Ganzen wahrnehmen. Als Teil der Welt und als jene, die von Anfang an in der Wildnis Gott begegnen können. So wie es in der Bibel oft berichtet wird – Gott in der Wüste, auf einem Berg, in der Einsamkeit.

Wenn ich auf das Bild schaue, dann ist das Draußen nicht sehr einladend.
Aber vielleicht sind meine Augen auch vorgeprägt. Vielleicht sehen meine Augen ein Draußen, das stark von meinem Drinnen-Blick geprägt ist. Also von einem Blick, der ordnet und sortiert und vielleicht lieber auf Nummer Sicher geht.

Und wenn wir weiter über das Bild hinausgehen, dann stellt sich natürlich die Frage, wie ich drauf bin. Wie ich jetzt gerade bin. Wie ich in mich und auf Gott und auf die Welt um mich herum schaue.
Oder um mit dem Thema des Gottesdienstes zu sagen:

Alles hat seine Zeit – eine Zeit für drinnen und eine Zeit für draußen.“

Und wenn Drinnen für das Menschengemachte steht, für die den Fokus auf eine Hierarchie, auf eine geordnete Glaubensvermittlung durch Katechese und Glaubenskurse, dann ist das Draußen die eigene Erfahrung.

In diesem Drinnen haben wir ja sehr lang gelebt als Menschen, als Gläubige.

Mit Heiligen Schriften, mit Tempeln und Kirchen, mit Riten und Feiern – und die können uns auch wirklich helfen.

Aber schon mein Atem kann mich zu Gott führen – in mir und außerhalb, unsichtbar und belebend, immer in Bewegung.

Auch die Natur ist eine Spur Gottes – mit dem Blick über den Nebel der Oder an einem Herbstmorgen, mit den überwältigenden Ausblicken von Berggipfeln, mit dem unendlichen Kommen und Gehen der Wellen am Strand.

Nicht umsonst ist in der Bibel die Rede von Abraham, Mose, Elija, ja auch von Jesus, die Gott begegnen in der Wildnis – in der Wüste, auf Bergen, an Gewässern.

Die Wüste auf dem Werk von Oliver Barth scheint keine Verheißungskraft zu haben. Und das ist verständlich, wenn wir die ostdeutschen Erfahrungen im Hinterkopf haben. Aber mit der Erfahrung der Menschen aus den biblischen (und vielen anderen religiösen) Traditionen lässt sich sagen, auch in der Wüste gibt es:

Eine Zeit, in wüster Verzweiflung Gottes Spuren zu entdecken – und eine Zeit in großer Weite Hoffnung zu schöpfen.“

Und ganz allgemein: Wir können beide Wege nutzen – Gott zeigt sich uns in der Verkündigung der Kirche (hoffentlich) genauso gut wie in dem „bestirnten Himmel über mir“, von dem Immanuel Kant mit „Bewunderung und Ehrfurcht“ sprach.

Aber wer entscheidet, für was es jetzt Zeit ist – für mich – für dich?

Das müssen wir wohl selbst tun – und können darauf vertrauen, dass Gott unsere Bitte hört, wenn wir dabei Orientierung suchen.

 

Infos zum Ausstellungsprojekt: Wo liegt eigentlich dieses Ostdeutschland?

Träger: Oecumenisches Europa-Centrum Frankfurt (Oder) e.V.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen