Mittwoch, 20. Juli 2016

Planungen für ein neues Deutschland. Christliche Widerstandsmotivation im Kreisauer Kreis

Der 20. Juli 1944 hat sich im öffentlichen Gedächtnis nicht nur mit Stauffenbergs Attentat auf Hitler, sondern auch ganz allgemein mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus verbunden. Dabei gab es neben dem eher aristokratisch-konservativen Widerstand um Stauffenberg auch andere Gruppen, die eher kommunistische, christliche oder sozialdemokratische Motive hatten. Der gemeinsame Nenner, auf den diese Widerstandsgruppen zu bringen sind, wären damit weder ihre Methoden, noch ihre kurz- oder langfristigen Ziele, sondern nur der Gegner.

Ein herausragendes Beispiel der Zusammenarbeit von Widerständlern ganz unterschiedlicher Herkunft und Stellung war der Kreisauer Kreis, der sich seit 1940 um den Völkerrechtler Helmuth James von Moltke sammelte. Neben Sozialdemokraten wie Julius Leber und Adolf Reichwein fanden sich dort evangelische und katholische Theologen wie Eugen Gerstenmaier, Harald Poelchau und Alfred Delp, aber auch adlige Militärs wie Peter Yorck von Wartenburg oder eben der Jurist Moltke selbst. Abwägend-zurückhaltende Kontakte zum konservativen Goerdeler-Kreis bestanden ebenso wie zur Stauffenberg-Gruppe.

Gedenktätte deutscher Widerstand.
Tiergarten, Berlin, 2012.
 Den Kreisauern war in erster Linie nicht das Hinwirken auf einen Umsturz wichtig, sondern die Planung für eine Zeit nach dem Nationalsozialismus – die Klarheit, dass es mit dem Hitler-Regime keine lange Zukunft haben kann, verwundert angesichts so vieler Verblendeter in dieser Zeit fast. Man wollte den Staat von Grund auf neu zu denken und dafür sollten möglichst viele (oft als gegensätzlich wahrgenommene) Positionen zusammengebracht werden – Sozialdemokraten und Christen stehen beispielhaft dafür.

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Schon bevor es 1942/1943 zu den großen Treffen in Kreisau kam, führte Moltke viele Gespräche mit Einzelnen. Vor allem mit Peter Yorck von Wartenburg kam es zu heftigen Diskussionen über das Aussehen eines deutschen Staates nach Kriegsende. Während Moltke den Staat vor allem als "Hüter der Freiheit des Einzelnen" sah, wollte Yorck eher die "Rückbezogenheit" des Einzelnen auf die Gemeinschaft in den Vordergrund stellen.1
Schließlich einigten sich die beiden weitgehend, so dass Moltke 1940 erste Gedanken über die Staatslehre festhalten konnte: "Es ist der Sinn des Staates, Menschen die Freiheit zu verschaffen, die es ihnen ermöglicht, die natürliche Ordnung zu erkennen und zu ihrer Verwirklichung beizutragen."2 Der Bezug auf die "natürliche Ordnung" mag heute befremden, drückt aber die Überzeugung vom Vorhandensein überrechtlicher Grundsätze aus,3 die einen strikten Gegensatz zum rechtspositivistischen Führerkult der Nationalsozialisten darstellt. Im Weiteren wurde diese Ordnung inhaltlich gefüllt als ein Naturrecht, das durch "Offenbarung" im Glauben erkannt oder mit der Vernunft eingesehen werden kann. Vorrangig müsse der "Glaube" gefördert werden, "da nur wenigen gegeben ist, diese Ordnung ohne und außerhalb der Offenbarung zu erkennen."4
Gleichzeitig war Moltke wichtig, dass es sich nicht um einen "christlichen Staat" handle, da nur die Menschen, nicht der Staat selbst theologische Größen seien.5

Deutlicher werden die Begriffe "Offenbarung" und "Glaube" konturiert, als es nach den drei Treffen in Kreisau am 09. August 1943 zu einem Schlussdokument kam, in dem es eingangs heißt, dass "im Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse Erneuerung unseres Volkes"6 liege. Das Versagen vieler Christen und auch ihrer Kirchenleitungen schien auf die Kreisauer wenig Eindruck zu machen. Ein Grund mag sein, dass der Protestant Moltke seit 1940 nicht nur mit den Jesuiten König, Rösch und Delp, sondern auch mit einer Reihe katholischer Bischöfe konspirative Kontakte pflegte und auf diese Weise von deren Distanz zum Nationalsozialismus wusste.7

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Treffpunkt der Kreisauer:
Yorcks Haus in der Hortensienstraße 50.
Berlin-Steglitz, 2012.
Spannend sind im Rahmen dieser Gedanken die Ausführungen Alfred Delps zur katholischen Soziallehre, aus der er für den Kreisauer Kreis einen "dritten Weg" extrahierte, mit dem er sich zwischen die nach seiner Meinung gescheiterten Lehren von Kapitalismus und Kommunismus stellen wollte: "Eine Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung, die die Rechte der Gemeinschaft wie des einzelnen wahren will, die beides zu garantieren sucht, soziale Sicherheit für alle und Freiheit des einzelnen, muss also zugleich sozialistisch und personal sein. Wir heißen sie deshalb: Personaler Sozialismus."8
Auf diese Weise kam man auch den Interessen und Vorstellungswelten der Arbeiter von christlicher Seite her entgegen. Inhaltlich bedeutete es außerdem eine radikale Entideologisierung, wie sie sich auch beim Sozialdemokraten Carlo Mierendorff findet, der mit seinen Einwürfen bewies, dass es innerhalb des Kreisauer Kreises tatsächlich um die "radikale Erprobung von Möglichkeiten der Neuordnung"9 ging.
Im vornehmlich an die Arbeiterschaft gerichteten Aufruf für eine übergreifende "Sozialistische Aktion" nimmt er die Anliegen der anderen Kreisauer auf und betont einerseits, dass es um eine "Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit" gehe, die sich u.a. verwirklichen müsse in "Achtung vor den Grundlagen unserer Kultur, die ohne das Christentum nicht denkbar ist" andererseits sieht er eine "Enteignung der Schlüsselbetriebe der Schwerindustrie" vor.
Dass auch die anderen Kreisauer hinter den jeweiligen Kernforderungen der vor ganz anderen Hintergründen argumentierenden und denkenden Mitglieder standen und sich bei allen Spannungen auf eine gemeinsame Linie einlassen konnten, ist für mich ein eindrucksvoller Ausdruck der interessenübergreifenden Fähigkeiten zur Kooperation unterschiedlichster Menschen, die gemeinsam das bonum commune suchen.

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Der gedachte Staatsaufbau ist geprägt von einer starken Distanzierung vom Parteiensystem der Weimarer Republik. Statt dessen sollen "kleine Gemeinschaften" die Basis einer "Selbstverwaltung" bilden. Durch die damit einhergehende Überschaubarkeit sollte die "persönliche Verantwortung" gefördert die traditionelle Obrigkeitshörigkeit gebrochen werden.10 Diese Vorstellungen sind sicher geprägt vom Geist der kirchlichen Soziallehre, der vornehmlich von Delp eingebracht wurde und das Subsidiaritätsprinzip stark macht. Im Beschluss der zweiten Kreisauer Tagung (Oktober 1942) heißt es darum: "Die Aufgabenverteilung erfolgt nach dem Grundsatz, daß jede Körperschaft für die selbständige Erledigung aller Aufgaben zuständig ist, die sie sinnvollerweise selbst durchführen kann."11
Auf der anderen Seite sah man starke Männer an der Spitze der größeren Einheiten, so genannte "Verweser", wodurch eine "merkwürdige Mischung aus basisdemokratischen und autoritär-patriarchalischen Elementen"12 entsteht. Es scheint, dass im Vertrauen auf die mündige Erkenntnisfähigkeit verantwortungsbewusster Menschen der Fokus der Kreisauer eher auf den Tugenden Einzelner als auf funktionierenden demokratischen Mechanismen liegt. Stütze dessen sollte die von unten aufgebaute Verwaltung von den kleinsten Einheiten aus sein. Angesichts dessen bleibt festzuhalten: "Die Pläne der Kreisauer zielten auf eine demokratische Erneuerung aus dem Geist des Humanismus und des Christentums, nicht aber auf eine repräsentative parlamentarische Demokratie nach westlichem Vorbild".13
Die Ansätze und Gedankenspiele, die sich für uns heute aus den Vorstellungen der Kreisauer ergeben können, müssen diese zeitbedingte Geringschätzung der parlamentarisch und parteilich organisierten Demokratiegestaltung mit einbeziehen. Positive Erfahrungen standen in Deutschland nach dem Versagen der Weimarer Parteien freilich auch nicht zur Verfügung.


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Nach Moltkes Verhaftung Anfang 1944 (wegen einer Warnung an den oppositionellen Solf-Kreis) muss er lange auf seine Verhandlung warten. Immer wieder kurz vor der Entlassung stehend, kommt schließlich der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 dazwischen, wodurch auch sein eigenes widerständisches Engagement nach und nach ans Licht kommt. Vor dem Volksgerichtshof trifft Moltke dann auf den "Blutrichter" Freisler, als dessen "Rechtsgrundsatz" er seiner Frau Freya gegenüber unter anderem benennt: "Vorbereitung zum Hochverrat begeht schon der, der hochpolitische Fragen mit Leuten erörtert, die in keiner Weise dafür kompetent sind, insbesondere nicht irgendwie tätig der Partei angehören."14
 
Fenster in Plötzensee. Berlin-Moabit, 2014.
Es zeigte sich schließlich, dass viele Anklagepunkte gar nicht bewiesen werden können, aber schon das bloße Nachdenken über eine Zeit nach dem Nationalsozialismus wurde als so gefährlich angesehen, dass die Todesstrafe weiterhin gefordert wird. Moltke folgert lakonisch: "Vor den Gedanken dieser drei einsamen Männer [Eugen Gerstenmaier, Alfred Delp und Moltke selbst], den bloßen Gedanken, hat der N.S. eine solche Angst, dass er alles, was damit infiziert ist, ausrotten will. Wenn das nicht ein Kompliment ist."15

Genau das freie und gruppenübergreifende Denken, auch heute wieder vielerorts politischen Angriffen ausgesetzt, scheint mir ein wesentliches Erbe dieser widerständigen Menschen zu sein.

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Einbeziehung möglichst vieler Positionen, strukturelle Förderung der Freiheit des Individuums bei gleichzeitiger Rückbindung an Prinzipien von Gerechtigkeit und Rechtsgleichheit, föderaler Staatsaufbau von überschaubaren Gemeinschaften aus, freies Denken, letztlich Einbindung in ein Europa – all das war für Moltke auch Konsequenz aus seinem christlichen Glauben. Neben intensiver Lutherlektüre und vielen philosophischen und theologischen Werken las er in der Zeit der Haft auch regelmäßig die Losungen und viele seiner Gedanken aus den letzten Wochen wurzeln in der biblischen Lektüre. Von seinen vielfältigen Buchwünschen zeugt vor allem der Briefwechsel mit seiner Frau.16
Freisler erkannte die Unvereinbarkeit des absoluten Anspruchs von Christentum auf der einen und Nationalsozialismus auf der anderen Seite, Moltke zitiert ihn: "Nur in einem sind das Christentum und wir uns gleich: wir fordern den ganzen Menschen." Moltke konstatiert darum: "Von der ganzen Bande hat nur Freisler mich erkannt, und von der ganzen Bande ist er auch der einzige, der weiß, weswegen er mich umbringen muss."17 Diese Wissen um die bittere Konsequenz aus seinem Tun in einem Brief vom 11.01.1945 steht in starkem Kontrast zur lang noch bestehenden Hoffnung auf eine mögliche Rettung einerseits und zur letzten Gelassenheit gegenüber dem kommenden Schicksal andererseits. Nach einer ernüchternden Mitteilung über seine schwindenden Überlebenschancen schreibt er: "Ich weiß nicht, warum, aber es war, als wäre ein Druck von mir gewichen, und dieser Druck war eben die menschliche Hoffnung; mir wurde es leichter, als die nun vergangen war und ich sozusagen keine Kräfte mehr aufwenden brauchte, um sie aufrecht zu erhalten."18
Sicher genau so gestärkt durch die beständigen Kontakte mit dem Gefängnispfarrer Harald Poelchau (über den auch die Nachrichten übermittelt wurden), kann Moltke am Tage seiner Hinrichtung endlich schreiben: "Mir geht es gut, mein Herz. Ich bin nicht unruhig oder friedlos. Nein kein bisschen. Ich bin ganz bereit und entschlossen, mich Gottes Führung nicht nur gezwungen, sondern willig und freudig anzuvertrauen und zu wissen, dass er unser, auch Dein, meiner Liebsten, Bestes will."19

Mit diesem Gottvertrauen wird Moltke am 23.01.1945 in Berlin Plötzensee gehängt.

Gedenkstätte Plötzensee. Hinrichtungsort. Berlin-Moabit, 2014.

1   Vgl. dazu: V. Ullrich, Der Kreisauer Kreis. Reinbeck bei Hamburg 2008, 69.

2   Über die Grundlagen der Staatslehre. zit. n.: Ger van Roon (Hg.), Helmuth James von Moltke. Völkerrecht im Dienste der Menschen. Dokumente. Berlin 1994, 165.

3   Vgl. dazu auch R. Bleistein, Die Menschenrechte im Kreisauer Kreis. In: StdZ 11/1998, 723-734.

4   Über die Grundlagen, a.a.O., 166.

5   Vgl. ebd., 165.

6   Zit. n. V. Ullrich, a.a.O., 71.

7   Vgl. R. Bleistein, Helmuth James von Moltke (1907-1945) und der Kreisauer Kreis. In: StdZ 1/89, 63-65: Bleistein nennt Faulhaber, Preysing, Dietz und Gröber.

8   Zit. n. R. Bleistein, Alfred Delp und die soziale Frage. Reflexionen zur Aktualität des "Kreisauer Kreises". In: StdZ 2/1995, 106-116.

9   P. Steinbach, Widerstand gegen den Nationalsozialismus - eine 'sozialistische Aktion'? : Zum 100. Geburtstag Carlo Mierendorffs (1897 – 1943). In: http://www.fes.de/fulltext/historiker/00145.htm.

10   Vgl. V. Ullrich, a.a.O., 73.

11   Ebd., 72.

12   Ebd., 74.

13   Ebd., 81.

14   H. J. v. Moltke an Freya v Moltke, in: H. J. v. Moltke, Im Land der Gottlosen. Tagebuch und Briefe aus der Haft 1944/45. 2. Aufl. München 2009,329.

15   Ebd., 334.

16   Vgl. ebd.

17   Ebd., 339.

18   H. J. und F. von Moltke, Abschiedsbriefe. Gefängnis Tegel. September 1944 – Januar 1945. 2. Aufl. München 2011, 532.


19   Ebd., 537.