Der 20. Juli 1944 hat sich im
öffentlichen Gedächtnis nicht nur mit Stauffenbergs Attentat auf
Hitler, sondern auch ganz allgemein mit dem Widerstand gegen den
Nationalsozialismus verbunden. Dabei gab es neben dem eher
aristokratisch-konservativen Widerstand um Stauffenberg auch andere
Gruppen, die eher kommunistische, christliche oder
sozialdemokratische Motive hatten. Der gemeinsame Nenner, auf den
diese Widerstandsgruppen zu bringen sind, wären damit weder ihre
Methoden, noch ihre kurz- oder langfristigen Ziele, sondern nur der
Gegner.
Ein herausragendes Beispiel der
Zusammenarbeit von Widerständlern ganz unterschiedlicher Herkunft
und Stellung war der Kreisauer Kreis, der sich seit 1940 um den
Völkerrechtler Helmuth James von Moltke sammelte. Neben
Sozialdemokraten wie Julius Leber und Adolf Reichwein fanden sich
dort evangelische und katholische Theologen wie Eugen Gerstenmaier,
Harald Poelchau und Alfred Delp, aber auch adlige Militärs wie Peter
Yorck von Wartenburg oder eben der Jurist Moltke selbst.
Abwägend-zurückhaltende Kontakte zum konservativen Goerdeler-Kreis
bestanden ebenso wie zur Stauffenberg-Gruppe.
Gedenktätte deutscher Widerstand. Tiergarten, Berlin, 2012. |
Den Kreisauern war in erster Linie
nicht das Hinwirken auf einen Umsturz wichtig, sondern die Planung
für eine Zeit nach dem Nationalsozialismus – die Klarheit, dass es
mit dem Hitler-Regime keine lange Zukunft haben kann, verwundert
angesichts so vieler Verblendeter in dieser Zeit fast. Man wollte den
Staat von Grund auf neu zu denken und dafür sollten möglichst viele
(oft als gegensätzlich wahrgenommene) Positionen zusammengebracht
werden – Sozialdemokraten und Christen stehen beispielhaft dafür.
1
Schon bevor es 1942/1943 zu den großen
Treffen in Kreisau kam, führte Moltke viele Gespräche mit
Einzelnen. Vor allem mit Peter Yorck von Wartenburg kam es zu
heftigen Diskussionen über das Aussehen eines deutschen Staates nach
Kriegsende. Während Moltke den Staat vor allem als "Hüter
der Freiheit des Einzelnen" sah, wollte Yorck eher die
"Rückbezogenheit" des Einzelnen auf die
Gemeinschaft in den Vordergrund stellen.1
Schließlich einigten sich die beiden
weitgehend, so dass Moltke 1940 erste Gedanken über die Staatslehre
festhalten konnte: "Es ist der Sinn des Staates, Menschen die
Freiheit zu verschaffen, die es ihnen ermöglicht, die natürliche
Ordnung zu erkennen und zu ihrer Verwirklichung beizutragen."2
Der Bezug auf die "natürliche Ordnung" mag heute
befremden, drückt aber die Überzeugung vom Vorhandensein
überrechtlicher Grundsätze aus,3
die einen strikten Gegensatz zum rechtspositivistischen Führerkult
der Nationalsozialisten darstellt. Im Weiteren wurde diese Ordnung
inhaltlich gefüllt als ein Naturrecht, das durch "Offenbarung"
im Glauben erkannt oder mit der Vernunft eingesehen werden kann.
Vorrangig müsse der "Glaube" gefördert werden, "da
nur wenigen gegeben ist, diese Ordnung ohne und außerhalb der
Offenbarung zu erkennen."4
Gleichzeitig war Moltke wichtig, dass
es sich nicht um einen "christlichen Staat" handle,
da nur die Menschen, nicht der Staat selbst theologische Größen
seien.5
Deutlicher werden die Begriffe
"Offenbarung" und "Glaube" konturiert, als es
nach den drei Treffen in Kreisau am 09. August 1943 zu einem
Schlussdokument kam, in dem es eingangs heißt, dass "im
Christentum die Grundlage für die sittliche und religiöse
Erneuerung unseres Volkes"6
liege. Das Versagen vieler Christen und auch ihrer Kirchenleitungen
schien auf die Kreisauer wenig Eindruck zu machen. Ein Grund mag
sein, dass der Protestant Moltke seit 1940 nicht nur mit den Jesuiten
König, Rösch und Delp, sondern auch mit einer Reihe katholischer
Bischöfe konspirative Kontakte pflegte und auf diese Weise von deren
Distanz zum Nationalsozialismus wusste.7
2
Treffpunkt der Kreisauer: Yorcks Haus in der Hortensienstraße 50. Berlin-Steglitz, 2012. |
Spannend sind im Rahmen dieser Gedanken
die Ausführungen Alfred Delps zur katholischen Soziallehre, aus der
er für den Kreisauer Kreis einen "dritten Weg"
extrahierte, mit dem er sich zwischen die nach seiner Meinung
gescheiterten Lehren von Kapitalismus und Kommunismus stellen wollte:
"Eine Wirtschafts- und
Gesellschaftsverfassung, die die Rechte der Gemeinschaft wie des
einzelnen wahren will, die beides zu garantieren sucht, soziale
Sicherheit für alle und Freiheit des einzelnen, muss also zugleich
sozialistisch und personal sein. Wir heißen sie deshalb: Personaler
Sozialismus."8
Auf diese Weise kam man auch den
Interessen und Vorstellungswelten der Arbeiter von christlicher Seite
her entgegen. Inhaltlich bedeutete es außerdem eine radikale
Entideologisierung, wie sie sich auch beim Sozialdemokraten Carlo
Mierendorff findet, der mit seinen Einwürfen bewies, dass es
innerhalb des Kreisauer Kreises tatsächlich um die "radikale
Erprobung von Möglichkeiten der Neuordnung"9
ging.
Im vornehmlich an die Arbeiterschaft
gerichteten Aufruf für eine übergreifende "Sozialistische
Aktion" nimmt er die Anliegen der anderen Kreisauer auf und
betont einerseits, dass es um eine "Wiederherstellung von
Recht und Gerechtigkeit" gehe, die sich u.a. verwirklichen
müsse in "Achtung vor den Grundlagen unserer Kultur, die
ohne das Christentum nicht denkbar ist" andererseits sieht
er eine "Enteignung der Schlüsselbetriebe der
Schwerindustrie" vor.
Dass auch die anderen Kreisauer hinter
den jeweiligen Kernforderungen der vor ganz anderen Hintergründen
argumentierenden und denkenden Mitglieder standen und sich bei allen
Spannungen auf eine gemeinsame Linie einlassen konnten, ist für mich
ein eindrucksvoller Ausdruck der interessenübergreifenden
Fähigkeiten zur Kooperation unterschiedlichster Menschen, die
gemeinsam das bonum commune suchen.
3
Der gedachte Staatsaufbau ist geprägt
von einer starken Distanzierung vom Parteiensystem der Weimarer
Republik. Statt dessen sollen "kleine Gemeinschaften"
die Basis einer "Selbstverwaltung" bilden. Durch die
damit einhergehende Überschaubarkeit sollte die "persönliche
Verantwortung" gefördert die traditionelle
Obrigkeitshörigkeit gebrochen werden.10
Diese Vorstellungen sind sicher geprägt vom Geist der kirchlichen
Soziallehre, der vornehmlich von Delp eingebracht wurde und das
Subsidiaritätsprinzip stark macht. Im Beschluss der zweiten
Kreisauer Tagung (Oktober 1942) heißt es darum: "Die
Aufgabenverteilung erfolgt nach dem Grundsatz, daß jede Körperschaft
für die selbständige Erledigung aller Aufgaben zuständig ist, die
sie sinnvollerweise selbst durchführen kann."11
Auf der anderen Seite sah man starke
Männer an der Spitze der größeren Einheiten, so genannte
"Verweser", wodurch eine "merkwürdige Mischung aus
basisdemokratischen und autoritär-patriarchalischen Elementen"12
entsteht. Es scheint, dass im Vertrauen auf die mündige
Erkenntnisfähigkeit verantwortungsbewusster Menschen der Fokus der
Kreisauer eher auf den Tugenden Einzelner als auf funktionierenden
demokratischen Mechanismen liegt. Stütze dessen sollte die von unten
aufgebaute Verwaltung von den kleinsten Einheiten aus sein.
Angesichts dessen bleibt festzuhalten: "Die Pläne der
Kreisauer zielten auf eine demokratische Erneuerung aus dem Geist des
Humanismus und des Christentums, nicht aber auf eine repräsentative
parlamentarische Demokratie nach westlichem Vorbild".13
Die Ansätze und Gedankenspiele, die
sich für uns heute aus den Vorstellungen der Kreisauer ergeben
können, müssen diese zeitbedingte Geringschätzung der
parlamentarisch und parteilich organisierten Demokratiegestaltung mit
einbeziehen. Positive Erfahrungen standen in Deutschland nach dem
Versagen der Weimarer Parteien freilich auch nicht zur Verfügung.
4
Nach Moltkes Verhaftung Anfang 1944
(wegen einer Warnung an den oppositionellen Solf-Kreis) muss er lange
auf seine Verhandlung warten. Immer wieder kurz vor der Entlassung
stehend, kommt schließlich der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944
dazwischen, wodurch auch sein eigenes widerständisches Engagement
nach und nach ans Licht kommt. Vor dem Volksgerichtshof trifft Moltke
dann auf den "Blutrichter" Freisler, als dessen
"Rechtsgrundsatz" er seiner Frau Freya gegenüber
unter anderem benennt: "Vorbereitung zum Hochverrat begeht
schon der, der hochpolitische Fragen mit Leuten erörtert, die in
keiner Weise dafür kompetent sind, insbesondere nicht irgendwie
tätig der Partei angehören."14
Fenster in Plötzensee. Berlin-Moabit, 2014. |
Es zeigte sich schließlich, dass viele
Anklagepunkte gar nicht bewiesen werden können, aber schon das bloße
Nachdenken über eine Zeit nach dem Nationalsozialismus wurde als so
gefährlich angesehen, dass die Todesstrafe weiterhin gefordert wird.
Moltke folgert lakonisch: "Vor den Gedanken dieser drei
einsamen Männer [Eugen Gerstenmaier, Alfred Delp und Moltke
selbst], den bloßen Gedanken, hat der N.S. eine solche Angst,
dass er alles, was damit infiziert ist, ausrotten will. Wenn das
nicht ein Kompliment ist."15
Genau das freie und
gruppenübergreifende Denken, auch heute wieder vielerorts
politischen Angriffen ausgesetzt, scheint mir ein wesentliches Erbe
dieser widerständigen Menschen zu sein.
5
Einbeziehung möglichst vieler
Positionen, strukturelle Förderung der Freiheit des Individuums bei
gleichzeitiger Rückbindung an Prinzipien von Gerechtigkeit und
Rechtsgleichheit, föderaler Staatsaufbau von überschaubaren
Gemeinschaften aus, freies Denken, letztlich Einbindung in ein Europa
– all das war für Moltke auch Konsequenz aus seinem christlichen
Glauben. Neben intensiver Lutherlektüre und vielen philosophischen
und theologischen Werken las er in der Zeit der Haft auch regelmäßig
die Losungen und viele seiner Gedanken aus den letzten Wochen wurzeln
in der biblischen Lektüre. Von seinen vielfältigen Buchwünschen
zeugt vor allem der Briefwechsel mit seiner Frau.16
Freisler erkannte die Unvereinbarkeit
des absoluten Anspruchs von Christentum auf der einen und
Nationalsozialismus auf der anderen Seite, Moltke zitiert ihn: "Nur
in einem sind das Christentum und wir uns gleich: wir fordern den
ganzen Menschen." Moltke konstatiert darum: "Von der
ganzen Bande hat nur Freisler mich erkannt, und von der ganzen Bande
ist er auch der einzige, der weiß, weswegen er mich umbringen
muss."17
Diese Wissen um die bittere Konsequenz aus seinem Tun in einem Brief
vom 11.01.1945 steht in starkem Kontrast zur lang noch bestehenden
Hoffnung auf eine mögliche Rettung einerseits und zur letzten
Gelassenheit gegenüber dem kommenden Schicksal andererseits. Nach
einer ernüchternden Mitteilung über seine schwindenden
Überlebenschancen schreibt er: "Ich weiß nicht, warum, aber
es war, als wäre ein Druck von mir gewichen, und dieser Druck war
eben die menschliche Hoffnung; mir wurde es leichter, als die nun
vergangen war und ich sozusagen keine Kräfte mehr aufwenden
brauchte, um sie aufrecht zu erhalten."18
Sicher genau so gestärkt durch die
beständigen Kontakte mit dem Gefängnispfarrer Harald Poelchau (über
den auch die Nachrichten übermittelt wurden), kann Moltke am Tage
seiner Hinrichtung endlich schreiben: "Mir geht es gut, mein
Herz. Ich bin nicht unruhig oder friedlos. Nein kein bisschen. Ich
bin ganz bereit und entschlossen, mich Gottes Führung nicht nur
gezwungen, sondern willig und freudig anzuvertrauen und zu wissen,
dass er unser, auch Dein, meiner Liebsten, Bestes will."19
Mit diesem Gottvertrauen wird Moltke am
23.01.1945 in Berlin Plötzensee gehängt.
Gedenkstätte Plötzensee. Hinrichtungsort. Berlin-Moabit, 2014. |
1 Vgl.
dazu: V. Ullrich, Der Kreisauer Kreis. Reinbeck bei Hamburg 2008,
69.
2 Über
die Grundlagen der Staatslehre. zit. n.: Ger van Roon (Hg.), Helmuth
James von Moltke. Völkerrecht im Dienste der Menschen. Dokumente.
Berlin 1994, 165.
3 Vgl.
dazu auch R. Bleistein, Die Menschenrechte im
Kreisauer Kreis. In: StdZ 11/1998, 723-734.
4 Über
die Grundlagen, a.a.O., 166.
5 Vgl.
ebd., 165.
6 Zit.
n. V. Ullrich, a.a.O., 71.
7 Vgl.
R. Bleistein, Helmuth
James von Moltke (1907-1945) und der Kreisauer Kreis.
In: StdZ 1/89, 63-65: Bleistein nennt Faulhaber, Preysing, Dietz und
Gröber.
8 Zit.
n. R. Bleistein, Alfred Delp und die soziale
Frage. Reflexionen zur Aktualität des "Kreisauer Kreises".
In: StdZ 2/1995, 106-116.
9 P.
Steinbach, Widerstand gegen den Nationalsozialismus - eine
'sozialistische Aktion'? : Zum 100. Geburtstag Carlo Mierendorffs
(1897 – 1943). In:
http://www.fes.de/fulltext/historiker/00145.htm.
10 Vgl.
V. Ullrich, a.a.O., 73.
11 Ebd.,
72.
12 Ebd.,
74.
13 Ebd.,
81.
14 H.
J. v. Moltke an Freya v Moltke, in: H. J. v. Moltke, Im Land der
Gottlosen. Tagebuch und Briefe aus der Haft 1944/45. 2. Aufl.
München 2009,329.
15 Ebd.,
334.
16 Vgl.
ebd.
17 Ebd.,
339.
18 H.
J. und F. von Moltke, Abschiedsbriefe. Gefängnis Tegel.
September 1944 – Januar 1945. 2. Aufl. München 2011, 532.