Gestern Nacht wurden in München unter
dem Hashtag #offenetueren Menschen, die ohne den Nahverkehr nicht
mehr nach Hause kamen, auf Übernachtungszüge, Privatquartiere und
nicht zuletzt auf Münchner Moscheen hingewiesen, in denen man
Untschlupf finden konnte, solange die Lage nach dem Amoklauf noch
nicht geklärt war.
Das war einfach die Herausforderung, angesichts einer solchen Greueltat Menschlichkeit zu beweisen und das Sonntagsevangelium (Lk 11,1-13) zu leben!
Denn eigentlich fordert es den
Widerspruch geradezu heraus: "wer bittet, der empfängt; wer
sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet."
(v10)
Die Erfahrung, dass gerade dies nicht
geschieht, kennt wohl jeder.
Darum möchte ich zunächst eine diese
negative Erfahrungsperspektive bestätigende Antigeschichte zum
Evangelium präsentieren und dann einige positive eigene Erfahrungen
aus der Ukraine kundtun, die das Gegenteil zeigen.
1
Aharon Appelfeld beschreibt in seinem
Buch "Zeit der Wunder" den Niedergang des
österreichischen Judentums durch den Antisemitismus anhand der
Geschichte des jungen Bruno und seiner Familie. Als der Vater, ein
berühmter Schriftsteller, im Jahr 1938 mehr und mehr mit
persönlichen Diffamierungen zu kämpfen hat, die verbalen Angriffe
auf Juden sich häufen und der Bankrott droht, macht sich die Familie
in ihrer Not auf den langen Weg zu einem Freund – Jesu Beispiel vom
nächtlich anklopfenden Freund wird sozusagen in eine Geschichte
gewoben:
Verschlossen. Rixdorf, Berlin, 2014. |
"Auf einem hohen Hügel, den
kleinere Hügel umgaben, stand das Haus, die Häusergruppe
eigentlich. Das Morgenlicht hüllte sie in einen freinschattierten
rosafarbenen Dunst. Nach unserem Irrweg durch die Nacht standen wir
einen Augenblick wie verzaubert vor der ländlichen Idylle. ...
Am Tor stellte Vater sich als
Jugendfreund des Fürsten vor, als Freund, der die Träume und Ideen
seiner frühen Jahre geteilt hatte. Vater sprach Dialekt, was den
Pförtner zu beeindrucken schien; er antwortete verlegen, dass der
Fürst zu so früher Stunde noch schlafe. Vater sagte: 'Wenn er hört,
dass ich hier bin, ist er sicher bereit, aufzustehen. Wir haben
jahrelang zusammen studiert.'
Der Pförtner zögerte zunächst,
willigte dann aber ein, ins Schloss zu telefonieren. Die Sekretärin
sagte, sie habe strikte Anweisungen, denen sie nachkommen müsse. Sie
sei bereit, die Einzelheiten zu notieren und sie dem Fürsten bei
erster Gelegenheit zu übermitteln. Vater lachte: 'Er schläft noch!'
In der Pförtnerloge, einem
Holzhäuschen, war es inzwischen warm geworden. Der Pförtner setzte
uns Kaffee und Landbrot vor, und wieder erzählte Vater von den guten
alten Zeiten in Wien, den gemeinsamen Studientagen. ...
Zwei Stunden vergingen, ohne dass
das Telefon klingelte. Vater wollte ins Haus telefonieren. Vielleicht
hatte die Sekretärin unsere Nachricht vergessen. Der Pförtner
zögerte, willigte aber schließlich ein.
Es gäbe dringlichere
Angelegenheiten, lautete die Antwort der Sekretärin. Unser Ersuchen
sei notiert. Wir würden Bescheid erhalten, sobald eine Antwort
vorläge.
Diese Erwiderung barg immer noch
eine vage Hoffnung in sich, ein vages Versprechen, und der Pförtner
blieb höflich. Er bot uns getrocknete Früchte an. ...
Der Morgen verstrich, und der Dunst
um die Hügel löste sich auf. Mittag kam und ging, und der Anruf vom
Schloss blieb aus. Jetzt musste der Pförtner mit einer Tafel
Schweizer Schokolade bestochen werden, ehe er bereit war, die
Sekretärin anzurufen. Ihre Antwort war eindeutig: Sie wünschte in
dieser Sache nicht weiter belästigt zu werden. ...
Der Pförtner wechselte die Farbe.
Vater raffte die Reste seiner Selbstachtung zusammen und sagte: 'Ich
warte hier nicht ewig. Freundschaft ist keine Einbahnstraße. Ein
Mensch ist kein Hund. Verzeihen Sie bitte die Belästigung.' Er
sprach mit betonter Ehrerbietigkeit, doch der Pförtner, im
ängstlichen Bestreben, sich aus der ganzen Sache herauszuhalten,
antwortete nicht. ...
Wir gingen zur Bahnstation zurück."1
Ein Freund, der sich in der Notlage als
hartherzig erweist, ist eben kein Freund. Die Demütigung des Vaters,
der sich auf den alten Studienkollegen verlassen hatte, spüren wir
heute sicher nicht, wenn wir von Gott nicht erhalten, was wir
erbitten. Aber es ist ebenfalls eine Frage der Beziehung, die darin
zum Ausdruck kommt. Der Vater selbst bestätigt ja: "Freundschaft
ist keine Einbahnstraße." Genau so in der Gottesbeziehung:
Würde sich unser Leben mit Gott auf das Bitten in Notlagen
beschränken, es wäre keine echte Beziehung. Ich wüsste nicht, was
Gott mit mir vorhat, wenn ich sonst nicht im Kontakt mit ihm stehe
und bloß mit Bitten oder gar Forderungen an ihn herantrete. Was für
eine Freundschaft wäre das? Eben, eine Einbahnstraße.
2
Während des Noviziats in der
Gesellschaft Jesu steht ein so genanntes Pilgerexperiment auf dem
Programm. Im Sinne der ersten Apostel gehen die Novizen ohne Geld in
der Hose zu zweit los (vgl. Lk 9,3), um sich auf Gottes Führung
vertrauensvoll einzulassen.
Sychiw, Lviv, 2008. |
Ich habe dies Mitte Juli 2008 in der
Ukraine getan – also vor ganz genau 8 Jahren. Unterwegs war ich mit
einem ukrainischen Mitnovizen, wir sind von der Kommunität in Lviv
einige Tage zum orthodoxen Kloster Potschajiw, das zugleich ein
beliebter Wallfahrtsort ist, gelaufen und haben auf dem Rückweg noch
zwei griechisch-katholische Klöster, nämlich das ruinöse Pidkamin
und das in diesem Raum sehr bekannte Uniw, besucht.
In den Klöstern, die mit Pilgern
rechnen, war das Unterkommen einfach – und auch auf dem Weg haben
wir erklärt, dass wir als Pilger unterwegs sind. Nichtsdestotrotz
ist es eine große Überwindung, um Essen und Unterkunft zu betteln.
Aber, wie ich meinem Reisetagebuch
entnehme, war gleich das erste Bitten im Dorf Chriniw
übererfolgreich: "Wir bitten einmal um Brot und bekommen
drei Mal, durch die umherlaufenden kleinen Mädchen, die noch dieser
und jener Babuschka erzählen, dass wir da sind."
Auf dem Land ist es nicht schwer, Essen
zu bekommen; während der nächsten Tage erhalten wir auf unsere
Frage nach etwas Brot (oft selbstgebackenes) Brot, Gurken, Eier,
Zwiebeln, Salo (Speck). Manchmal ist es so viel, dass wir noch
Ärmeren etwas geben können. Und was für ein Glanz auf erbetteltem Brot liegt!
Auch zu warmen Speisen werden wir
eingeladen: Als das Essen alle ist, beginnen wir zu bitten – um
"prompt ein Abendessen bei einem älteren Ehepaar mit tauber
94jähriger (!) Babuschka zu bekommen: Placki [Kartoffelpuffer] mit
Zwiebeln im Hof und später Suppe und Tee im Haus. Wiederum beim
ersten Fragen."
Schwieriger war es mit den
Übernachtungen. Wer möchte schon zwei wildfremde junge Burschen im
Hause haben, von denen einer nur sehr gebrochen ukrainisch spricht?
Doch wir kommen immer unter! Manchmal braucht es viele viele Fragen,
manchmal geht es ganz schnell. Bisweilen sind es leerstehende Häuser,
von Leuten, die in "Europa" arbeiten, manchmal das Haus
eines Verstorbenen, aber auch ein Drei-Generationen-Haus, das aus
Mutter und Tochter sowie einem Baby besteht. Ich bewundere den Mut
dieser Frauen und bin beim Lesen des Tagebuchs wieder dankbar.
Hier also das genaue Gegenteil zu
Appelfelds Schilderungen: zwei Unbekannte dürfen hereinkommen und
brauchen nie zu hungern. Wer klopft, dem wird geöffnet! Wer bittet,
der empfängt.
Ist es die Fremdheit, die Menschen so
freigiebig schenken lässt? Oder, was manche ja vermuten, die eigene
relative Bedürftigkeit, die noch das Wenige teilt? Oder die
slawische Gastfreundschaft? Oder das Landleben? Oder Gottes Fügung
allein?
Ich weiß es nicht, was ich aber weiß,
ist, dass auch unser Bitten keine Einbahnstraße war! Bereitwillig
haben wir dem erzählt, der hören wollte, und haben gegeben, was wir
hatten.
Dank sei Gott für diese Erfahrung,
dass ich seinem Wort trauen kann!
Dank sei Gott für alle, die offene
Türen finden konnten und können!
Überfülle an Futterrüben. Alte Schäferei bei Petershagen, 2015. |
1 A.
Appelfeld, Zeit der Wunder. Reinbeck bei Hamburg 2014, 135.136f.