Samstag, 23. Juli 2016

"Bittet und euch wird gegeben." Eine Gegendarstellung und ein Erfahrungsbericht

Gestern Nacht wurden in München unter dem Hashtag #offenetueren Menschen, die ohne den Nahverkehr nicht mehr nach Hause kamen, auf Übernachtungszüge, Privatquartiere und nicht zuletzt auf Münchner Moscheen hingewiesen, in denen man Untschlupf finden konnte, solange die Lage nach dem Amoklauf noch nicht geklärt war.
Das war einfach die Herausforderung, angesichts einer solchen Greueltat Menschlichkeit zu beweisen und das Sonntagsevangelium (Lk 11,1-13) zu leben!
Denn eigentlich fordert es den Widerspruch geradezu heraus: "wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet." (v10)
Die Erfahrung, dass gerade dies nicht geschieht, kennt wohl jeder.
Darum möchte ich zunächst eine diese negative Erfahrungsperspektive bestätigende Antigeschichte zum Evangelium präsentieren und dann einige positive eigene Erfahrungen aus der Ukraine kundtun, die das Gegenteil zeigen.

1
Aharon Appelfeld beschreibt in seinem Buch "Zeit der Wunder" den Niedergang des österreichischen Judentums durch den Antisemitismus anhand der Geschichte des jungen Bruno und seiner Familie. Als der Vater, ein berühmter Schriftsteller, im Jahr 1938 mehr und mehr mit persönlichen Diffamierungen zu kämpfen hat, die verbalen Angriffe auf Juden sich häufen und der Bankrott droht, macht sich die Familie in ihrer Not auf den langen Weg zu einem Freund – Jesu Beispiel vom nächtlich anklopfenden Freund wird sozusagen in eine Geschichte gewoben:
Verschlossen. Rixdorf, Berlin, 2014.

"Auf einem hohen Hügel, den kleinere Hügel umgaben, stand das Haus, die Häusergruppe eigentlich. Das Morgenlicht hüllte sie in einen freinschattierten rosafarbenen Dunst. Nach unserem Irrweg durch die Nacht standen wir einen Augenblick wie verzaubert vor der ländlichen Idylle. ...
Am Tor stellte Vater sich als Jugendfreund des Fürsten vor, als Freund, der die Träume und Ideen seiner frühen Jahre geteilt hatte. Vater sprach Dialekt, was den Pförtner zu beeindrucken schien; er antwortete verlegen, dass der Fürst zu so früher Stunde noch schlafe. Vater sagte: 'Wenn er hört, dass ich hier bin, ist er sicher bereit, aufzustehen. Wir haben jahrelang zusammen studiert.'
Der Pförtner zögerte zunächst, willigte dann aber ein, ins Schloss zu telefonieren. Die Sekretärin sagte, sie habe strikte Anweisungen, denen sie nachkommen müsse. Sie sei bereit, die Einzelheiten zu notieren und sie dem Fürsten bei erster Gelegenheit zu übermitteln. Vater lachte: 'Er schläft noch!'
In der Pförtnerloge, einem Holzhäuschen, war es inzwischen warm geworden. Der Pförtner setzte uns Kaffee und Landbrot vor, und wieder erzählte Vater von den guten alten Zeiten in Wien, den gemeinsamen Studientagen. ...
Zwei Stunden vergingen, ohne dass das Telefon klingelte. Vater wollte ins Haus telefonieren. Vielleicht hatte die Sekretärin unsere Nachricht vergessen. Der Pförtner zögerte, willigte aber schließlich ein.
Es gäbe dringlichere Angelegenheiten, lautete die Antwort der Sekretärin. Unser Ersuchen sei notiert. Wir würden Bescheid erhalten, sobald eine Antwort vorläge.
Diese Erwiderung barg immer noch eine vage Hoffnung in sich, ein vages Versprechen, und der Pförtner blieb höflich. Er bot uns getrocknete Früchte an. ...
Der Morgen verstrich, und der Dunst um die Hügel löste sich auf. Mittag kam und ging, und der Anruf vom Schloss blieb aus. Jetzt musste der Pförtner mit einer Tafel Schweizer Schokolade bestochen werden, ehe er bereit war, die Sekretärin anzurufen. Ihre Antwort war eindeutig: Sie wünschte in dieser Sache nicht weiter belästigt zu werden. ...
Der Pförtner wechselte die Farbe. Vater raffte die Reste seiner Selbstachtung zusammen und sagte: 'Ich warte hier nicht ewig. Freundschaft ist keine Einbahnstraße. Ein Mensch ist kein Hund. Verzeihen Sie bitte die Belästigung.' Er sprach mit betonter Ehrerbietigkeit, doch der Pförtner, im ängstlichen Bestreben, sich aus der ganzen Sache herauszuhalten, antwortete nicht. ...
Wir gingen zur Bahnstation zurück."1

Ein Freund, der sich in der Notlage als hartherzig erweist, ist eben kein Freund. Die Demütigung des Vaters, der sich auf den alten Studienkollegen verlassen hatte, spüren wir heute sicher nicht, wenn wir von Gott nicht erhalten, was wir erbitten. Aber es ist ebenfalls eine Frage der Beziehung, die darin zum Ausdruck kommt. Der Vater selbst bestätigt ja: "Freundschaft ist keine Einbahnstraße." Genau so in der Gottesbeziehung: Würde sich unser Leben mit Gott auf das Bitten in Notlagen beschränken, es wäre keine echte Beziehung. Ich wüsste nicht, was Gott mit mir vorhat, wenn ich sonst nicht im Kontakt mit ihm stehe und bloß mit Bitten oder gar Forderungen an ihn herantrete. Was für eine Freundschaft wäre das? Eben, eine Einbahnstraße.

2
Während des Noviziats in der Gesellschaft Jesu steht ein so genanntes Pilgerexperiment auf dem Programm. Im Sinne der ersten Apostel gehen die Novizen ohne Geld in der Hose zu zweit los (vgl. Lk 9,3), um sich auf Gottes Führung vertrauensvoll einzulassen.

Sychiw, Lviv, 2008.
Ich habe dies Mitte Juli 2008 in der Ukraine getan – also vor ganz genau 8 Jahren. Unterwegs war ich mit einem ukrainischen Mitnovizen, wir sind von der Kommunität in Lviv einige Tage zum orthodoxen Kloster Potschajiw, das zugleich ein beliebter Wallfahrtsort ist, gelaufen und haben auf dem Rückweg noch zwei griechisch-katholische Klöster, nämlich das ruinöse Pidkamin und das in diesem Raum sehr bekannte Uniw, besucht.
In den Klöstern, die mit Pilgern rechnen, war das Unterkommen einfach – und auch auf dem Weg haben wir erklärt, dass wir als Pilger unterwegs sind. Nichtsdestotrotz ist es eine große Überwindung, um Essen und Unterkunft zu betteln.
Aber, wie ich meinem Reisetagebuch entnehme, war gleich das erste Bitten im Dorf Chriniw übererfolgreich: "Wir bitten einmal um Brot und bekommen drei Mal, durch die umherlaufenden kleinen Mädchen, die noch dieser und jener Babuschka erzählen, dass wir da sind."
Auf dem Land ist es nicht schwer, Essen zu bekommen; während der nächsten Tage erhalten wir auf unsere Frage nach etwas Brot (oft selbstgebackenes) Brot, Gurken, Eier, Zwiebeln, Salo (Speck). Manchmal ist es so viel, dass wir noch Ärmeren etwas geben können. Und was für ein Glanz auf erbetteltem Brot liegt!
Auch zu warmen Speisen werden wir eingeladen: Als das Essen alle ist, beginnen wir zu bitten – um "prompt ein Abendessen bei einem älteren Ehepaar mit tauber 94jähriger (!) Babuschka zu bekommen: Placki [Kartoffelpuffer] mit Zwiebeln im Hof und später Suppe und Tee im Haus. Wiederum beim ersten Fragen."
Schwieriger war es mit den Übernachtungen. Wer möchte schon zwei wildfremde junge Burschen im Hause haben, von denen einer nur sehr gebrochen ukrainisch spricht? Doch wir kommen immer unter! Manchmal braucht es viele viele Fragen, manchmal geht es ganz schnell. Bisweilen sind es leerstehende Häuser, von Leuten, die in "Europa" arbeiten, manchmal das Haus eines Verstorbenen, aber auch ein Drei-Generationen-Haus, das aus Mutter und Tochter sowie einem Baby besteht. Ich bewundere den Mut dieser Frauen und bin beim Lesen des Tagebuchs wieder dankbar.

Hier also das genaue Gegenteil zu Appelfelds Schilderungen: zwei Unbekannte dürfen hereinkommen und brauchen nie zu hungern. Wer klopft, dem wird geöffnet! Wer bittet, der empfängt.
Ist es die Fremdheit, die Menschen so freigiebig schenken lässt? Oder, was manche ja vermuten, die eigene relative Bedürftigkeit, die noch das Wenige teilt? Oder die slawische Gastfreundschaft? Oder das Landleben? Oder Gottes Fügung allein?
Ich weiß es nicht, was ich aber weiß, ist, dass auch unser Bitten keine Einbahnstraße war! Bereitwillig haben wir dem erzählt, der hören wollte, und haben gegeben, was wir hatten.

Dank sei Gott für diese Erfahrung, dass ich seinem Wort trauen kann!
Dank sei Gott für alle, die offene Türen finden konnten und können!
Überfülle an Futterrüben. Alte Schäferei bei Petershagen, 2015.

1   A. Appelfeld, Zeit der Wunder. Reinbeck bei Hamburg 2014, 135.136f.