Eines der anregendsten und spannendsten
Bücher der letzten Jahre ist das!
Dank der Sprachkraft des Nobelpreisträgers J. M. Coetzee wird man bei der Lektüre in eine Geschichte voller Dramatik und existenzieller Fragestellungen gezogen, die das eigene Denken anregt und Erhellendes über Jesus und sein Selbstbewusstsein andeutet.
Dank der Sprachkraft des Nobelpreisträgers J. M. Coetzee wird man bei der Lektüre in eine Geschichte voller Dramatik und existenzieller Fragestellungen gezogen, die das eigene Denken anregt und Erhellendes über Jesus und sein Selbstbewusstsein andeutet.
Zugleich bleibt die Erzählform seltsam
nüchtern und gegenüber den eigenen Charakteren ambivalent.
Augenscheinlich liegt Coetzee daran, eine gewisse Distanz aufrecht zu
erhalten, wodurch das über die konkreten Begebenheiten
hinausführende Nachdenken angeregt wird.
Worum geht es? Ein Mann und ein Junge gelangen durch Todesgefahren hindurch mit dem Schiff in ein neues Land, in dem andere Regeln zu gelten scheinen als sie es bisher gewohnt waren - eine klassische Flüchtlingserfahrung.
Es ist dies ein Land des Neuanfangs, in dem, wie es
mehrfach heißt, "die Vergangenheit weggewaschen"
ist. Doch der Mann und das Kind scheinen dort nicht hinzupassen. Mit
ihren hochphilosophischen bis religiösen Fragen stoßen sie gegen
Mauern des Verstehens derer, die dort zwar ebenfalls nur gestrandet
sind, sich aber mit der neuen Lebensweise arrangiert haben.
Abgeschnittenes Wachstum. Rixdorf, Berlin, 2016. |
Je mehr der Mann und das Kind
eintauchen in den Alltag dieser neuen Welt, desto stärker tritt, für
jeden einzeln und für beide zusammen, die Distanz zu den schon
Anwesenden hervor – in der Volkshochschule werden keine weiteren
Sprachkurse als das allgegenwärtige Spanisch angeboten, es gibt
stets Obst und kein Fleisch, der Mann findet keine sinnvollere
Arbeit, als immer nur Korn von Schiffen zu Fuß in übervolle
Speicher zu entladen.
In einer Diskussion auf dem Amt kommt
das zum Ausdruck: "Wir haben die ganze Zeit Hunger. Sie sagen
mir, unser Hunger sei etwas Befremdliches, das wir mitgebracht haben
und das nicht hierher gehört, dass wir ihn aushungern müssen. Wenn
wir unseren Hunger vernichtet haben, haben wir bewiesen, dass wir uns
anpassen können, sagen Sie, und wir können dann für immer
glücklich sein. Aber ich will den Hungerhund nicht aushungern! Ich
will ihn füttern! Du nicht auch?"1
Den inneren Hunger zuzulassen und dann
zu stillen, ist eine andere Annäherung an das Leben als sich des
Hungers entledigen zu wollen. Hier zeigt sich die Sehnsucht nach
einer Ernsthaftigkeit, die im korrekt organisierten, aber blutarm
bleibenden Neuland auf der Strecke bleibt.
An anderer Stelle bringt der Mann es
auf den Punkt: "Die Dinge haben hier nicht ihr wahres
Gewicht. ... Der Nahrung, die wir essen, unserer traurigen Brotdiät,
fehlt Substanz – fehlt das Gehaltvolle von tierischem Fleisch, mit
all dem Ernst des Blutvergießens und des Opferns dahinter."2
Was aber der Welt Gewicht verleiht, ist
das Sich-Einlassen auf die Höhen und Tiefen des Menschseins. Während
die Volkshochschulkurse nur über das Stuhlsein des Stuhles
philosophieren und damit in akademisch abgehobenen Abstraktionen
schwelgen, wünscht sich der Mann mehr.
Er lebt in einer anderen Logik, die
Welt anzuschauen. Und das kennzeichnet auch den Jungen, der nicht
sein Sohn ist, sondern nach seiner Mutter sucht. Hier beginnen die
Parallelen zum Leben Jesu – ein Ziehvater und eine Frau, die Mutter
sein soll, ohne dass sie ihn im üblichen sexuellen Sinne empfangen
hat. Auf solchen Ebenen führt der Roman die beiden Protagonisten
immer wieder auf biblische Spuren.
Als sie eine Frau treffen, in der der
Mann des Jungen Mutter zu erkennen glaubt, nimmt sie, Inés ("die
Erwählte"), sich des Jungen an. Er, der den Namen David
erhalten hat, wird zur Schule geschickt, wo seine außergewöhnliche
Art zunächst verblüfft und im Verlauf für immer größeren Ärger
sorgt. Sein Verhältnis zu Zahlen ist ein eher emotionales, er
jongliert mit erfundenen Wörtern und als einziges lesenswertes Buch
dient ihm der Don Quichotte.
In diesem Ritter von der traurigen
Gestalt scheint er sein eigenes Schicksal zu erkennen. Wo der Ritter
ungeheure Riesen sieht, kann seine Umwelt nur Windmühlen entdecken –
wo der Junge die Abgründe zwischen den Zahlen überbrücken möchte,
sieht sein Lehrer nur die Abneigung gegen das Lernen.
Neue Kombinationen. Kleistpark, Schöneberg, Berlin, 2015. |
Der Junge lebt in einer kindlichen
Logik des Umsonst, die keiner um ihn herum zu teilen vermag: wer
Hunger hat, geht in den Laden – woher die Lebensmittel dorthin
kommen sollen, wenn sie nicht für Geld gekauft werden, ist ihm egal.
Gleiches bei der Lohnauszahlung: wer Geld will, bekommt vom
Zahlmeister, so viel er will – eine Anspielung auf das Gleichnis
von den Arbeitern im Weinberg, die so ungleich-gleich bezahlt werden
(vgl. Mt 20,1-16).
Vor dieser Logik nun kapituliert selbst
der Mann. Warnend weist er ihn auf zu erwartende Ablehnung hin, wenn
er sich nicht an die anderen Kinder anpasst und will auch Inés
hindern, dass sie dem Jungen beibringt, "sich als höheres
Wesen zu betrachten. Andere Kinder werden sich gegen ihn
zusammenrotten."3
Erschwerend kommt hinzu, dass der Junge
Zauberkünstler oder Rettungsschwimmer werden will, verwandeln und
retten sieht er als sein Ziel – die Anklänge an Jesus werden
überdeutlich. Als der Mann in einer Kiste ein Sammelsurium an
Fundstücken von der Straße (vgl. Mt 22,9) entdeckt und ihn dazu
bewegen will, es fortzuwerfen, wehrt der sich gegen die Einschätzung
seiner Schätze als Gerümpel: "Das sind Dinge, die ich
rette."4
– für ihn haben sie individuellen Wert: "Er sagt, die
alten Dinge tun ihm leid."5
Die Zuwendung Jesu zu den Zerbrochenen, die für den Großteil seiner
Zeitgenossen nur als Reste der Gesellschaft wahrnehmbar sind, steht
wohl im Hintergrund solcher Sätze, die eine Art "Restspiritualität"
beweisen: "Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die
Kranken." (Mt 9,12)
Dem eigensinnigen Widerstand des Jungen
gegen die Konventionen will der Mann durch Relativierung
entgegentreten: "Wir möchten gern glauben, dass wir etwas
Besonderes sind, mein Junge, jeder von uns. Aber genau genommen kann
das nicht sein. Wenn wir alle etwas Besonderes wären, würde nichts
Besonderes übrig bleiben. Doch wir glauben weiter an uns."6
Aber diese Belehrung hilft nichts –
und ist an dieser Stelle ja auch ganz fehl am Platze.
Es geht nämlich tatächlich etwas
Besonderes von dem Jungen aus, das keine der handelnden Figuren genau
bestimmen kann und das doch so klar hervortritt, dass es evident ist.
Wäre das nicht auch eine geeignete
Anfangsdefinition für den religiösen Glaubensprozess?
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass
"Die Kindheit Jesu" eine faszinierende Lektüre war,
die zwar nie eindeutige Zuschreibungen zulässt, aber immer wieder
Spielräume für religiöses Denken öffnet. Wäre nicht der Titel,
müsste niemand es so lesen – mit dem Titel aber drängen
sich viele der oben referierten Assoziationen nur so auf.
Neues säen. Berlin-Moabit, 2016. |
1 J.M.
Coetzee, Die Kindheit Jesu. Frankfurt a.M. 2013, 44.
2 Ebd.,
86.
3 Ebd.
241.
4 Ebd.,
214.
5 Ebd.,
215.
6 Ebd.,
67.