Kurz vor seinem gestrigen Tod habe ich
das letzte Buch von Péter Esterházy gelesen: "Die
Markus-Version". Es handelt sich um eine formal sehr
extravagante Geschichte, in der ein sich taubstumm gebenden Junge als
Ich-Erzähler von sich und seiner Familie im kommunistischen Ungarn
erzählt.
Die fromme Großmutter und die vertriebenen Großbauern,
der trinkende Vater und die distanzierte Mutter, der auftrumpfende
Stiefbruder und immer wieder sexuelle Gewalt werden auf gut 100
Seiten angedeutet und zu einem irrlichternden Panorama über
existenzielle Fragen von Glauben und Unglauben aufgestellt. Daneben
öffnet Esterházy immer wieder Teile des Geschehens auf das
Markus-Evangelium hin und lässt den Ich-Erzähler in eine sehr
eigenwillige Identifikation mit dem unverstandenen und leidenden
Jesus gleiten.
Reste vom Ei in dunklem Wasser. Rixdorf, Berlin, 2016. |
Ehrlich gesagt, es handelt sich um ein
eher anstrengendes Buch: kein durchgehender Erzählfaden, Begrenzung
von einzelnen Sinnsequenzen auf maximal eine Seite, nicht immer
nachvollziehbare Bezugnahmen auf das Markus-Evangelium, distanziert
bleibende Figuren und als Handlung merkwürdig blasse, manchmal ins
traumhafte gleitende Szenen.
Daneben finden sich viele innere
Dialoge und Reflexionssequenzen, die unterschiedlich gut in das
Geschehen eingefügt sind und oftmals auf Assoziationen des Autors zu
eigenen und fremden Werken beruhen, wie ein umfagreicher
Anmerkungsapparat am Ende kundtut.
Kein wirklich entspanntes Lesevergnügen
also.
Trotzdem werfen, gerade vor dem
Hintergrund von Esterházys Tod, einige spannende Sätze und Gedanken
ein neues Licht auf das Ringen um den Glauben, zumal angesichts von
Ungerechtigkeit und Leid in der Welt.
"Im Prinzip thront dort, wo die
Wolke ist, der Herrgott. Aber schon wird sie vom Wind
auseinandergeweht. Mein Bruder meinte, auf Golgatha wehte pausenlos
der Wind."1
Verweht der Glauben so leicht?
Zerstreut das Geschehen auf dem Todesberg Jesu den Glauben an Gott
oder festigt es ihn? Es ist dieses Wehen und Wirbeln, das den jungen
Ich-Erzähler und seine Zeit erschüttern. Die klassische
Theodizeeproblematik erscheint mit der Vorstellung des guten Gottes
angesichts des Schmerzes und des Bösen in der Welt: „Es gibt
also den guten Gott, den gütigen Gott, deshalb sagen wir auch
‚Grundgütiger‘, und es gibt das Schluchzen auf der Erde, weil
etwas schmerzt. Das bedeutet, das Gute und das Schluchzen, das kann
man nicht verstehen. Dieses Rätsel ist Gott.“2
Während manche an diesem Rätsel
verzweifeln, wird der Ich-Erzähler immer wieder zur Wirklichkeit
Gottes hingezogen – und zwar durch das Gebet. Vorbild ist die
ständig betende Großmutter, die er als Kontrast zur gottfernen
Mitwelt, aber auch als Kontrast zu sich selbst und seiner magischen
Gebetspraxis erfährt : „… ich bete, um zu glauben. Glaube
ich. Damit jemand ist, an den ich glaube. Damit Gott ist. Deshalb
muss ich ständig beten. Wie der Herzschlag, ohne auszusetzen.“
– Die Großmutter dagegen ist ruhig, denn „Gott beruhigt
sie.“3
Und das färbt ab.
Versperrter Himmel? Frauenhagen, Brandenburg, 2016. |
Denn auch der Erzähler selbst rückt
immer weiter hinein ins Gebet – und trotz aller äußeren
Ärgernisse und Widrigkeiten, Todesfällen und Abschieden, wird die
Erinnerung an Gott zum stärkeren und festeren Gebet, das eine eigene
Kraft entfaltet: „Alle Gebete sind eines. Nur die Wörter der
Gebete unterscheiden sich, doch die Wörter spielen keine Rolle. …
Man muss nicht mit eigenen Worten beten. Das Gebet ist nicht da, es
kommt.“4
Mit dieser Art von Reflexion setzt Esterházy natürlich nicht mehr
die Psyche eines Kindes voraus, sondern übersteigt seine Handlung
trotz ihrer relativ einfachen Sprache in mystische Aussagen. Die
Stärke des Buches liegt für mich gerade hier: religiöse
Grundbegriffe jenseits von konfessionellen Verständnisvoraussetzungen
werden in die Geschichte eingetragen und helfen ihr mehr noch als die
lutherdeutschen Passagen aus dem Markus-Evangelium zu Stringenz.
Doch auch ganz profane Zweifel kommen
immer wieder zu ihrem Recht: „Das Gebet ist das vielmalige
Wecken des Gedächtnisses des Herzens. Man muss sich häufiger an
Gott erinnern, als wir Luft holen. Barmherziger Gott, verlass mich
nicht. Wie weiter? Darauf erwarte ich von dir eine Antwort, denn das
ist meine Frage. Du pflegst zu antworten, indem du nicht antwortest.
Du kannst schön schweigen, mein Herr. Wenn ich dich frage, schweigst
du, und wenn es keine weiteren Fragen mehr gibt, wird das die wahre
Antwort sein. Dennoch frage ich jetzt, zu welchem Ende. Wer bist du,
mein Herr, und wer bin ich? Ich weiß, eine schlechte Frage. Mach
mich sehen. Erfülle die toten Adern meines einsamen Herzens,
himmlische Güte.“5
Eingebettet in einen Dialog mit Gott
aber ist zweifeln und ist sogar die Verzweiflung ein Glaubensakt und
eine Hinwendung in die Beziehung mit Gott. Selbst Gottes Schweigen
erscheint dann als Bestätigung seiner Existenz und Zuneigung, wenn
die eigene Erdenschwere es auch nicht zu fassen vermag.
Angesichts der eigenen vorgespielten
Taubstummheit des Erzählers erscheinen solche Aussagen über Gottes
"schönes" Schweigen nun in anderem Licht.
Denn obgleich die Rätselhaftigkeit
Gottes und die des Menschen einander sehr ähnlich sind, konstatiert
Esterházy hervorgehoben mit einem einzigen Satz auf Seite 70: „Nein,
Gott ist kein Vorbild.“6
Und durchschlägt auch diese Aussage
wieder durch die nebenlaufenden Passagen aus dem Evangelium, in denen
alles auf die zunehmende Einsamkeit Jesu und in seiner Nachfolge des Erzähler-Ichs hinausläuft.
Mit Jesu Tod
in des Jungen Worten endet auch das Buch: "Aber ich schrie laut
und verschied."7
Beziehungsweise endet es fast – denn
die Geschichte von 100 Seiten streckt das Sterben Jesu über drei
Seiten, die Seite 100 heißen und denselben Text aus Mk 15,37-39
bieten.
Nur die dritte Seite 100 ergänzt dazu
als Anschluss an den Beginn den Anfang des Markus-Evangeliums und
kommentiert voll mystisch belebter Hoffnung auf ein Weiterleben über den gerade
geschilderten Tod hinaus: "Es gibt kein Ende. Das ist der
Schluss."8
Möge dies auch für Péter Esterházy
selbst gelten.
Alter Wasserturm und wilder Platz unter großem Himmel. Teupitz, Brandenburg, 2016. |
1 P.
Eserházy, Die Markus-Version. Einfache Geschichte Komma Hundert
Seiten. München 2016, 91.
2 Ebd.,
14.
3 Ebd.,
21.
4 Ebd.,
78.
5 Ebd.,
83.
6 Ebd.,
70.
7 Ebd.,
100.101.102.
8 Ebd.,
102.