Samstag, 21. April 2018

"Ich habe noch andere Schafe" – Jesus Christus als Hirte aller Religionen?

Ein Satz im heutigen Sonntagsevangelium (Joh 10,11-18) macht mir regelmäßig zu schaffen. Nachdem Jesus sich als guter Hirte eingeführt hat, sagt er:

"Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten." (v16)

Wenn alle Christen Jesus als ihren Hirten ansehen und als seine Herde von ihm zu Gott geführt werden wollen, dann kann es sich bei denen, die als "andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind" bezeichnet werden, nicht um Christen handeln.

Es scheint mir also die Frage nach Jesus und seinem Verhältnis zu den Anhängern anderen Religionen zu sein, die in oben genanntem Satz auftaucht (jedenfalls möchte ich ihn hier einmal so lesen). Unzählige Schriften sind zu dieser Problematik verfasst worden, das Problem wurde von den verschiedensten Seiten gewälzt.1
Hier nur ein paar Gedanken dazu:

Fast unsichtbarer Hirte ohne Schafe.
Friedhof Bergstraße, Steglitz, Berlin, 2018.
Wenn Jesus sagt, dass er auch der Hirte dieser Schafe ist, dann "erweitert" diese Aussage "ganz entscheidend den Radius der Verheißung" Gottes über seinen Bundesschluss mit Israel hinaus. So jedenfalls deutet es Joseph Ratzinger und er fügt hinzu: "Der Logos, der in Jesus Mensch wurde, ist der Hirte aller Menschen, denn sie alle sind durch das eine Wort erschaffen; sie sind in all ihren Zerstreuungen eins von ihm her und auf ihn hin."2
Und unter Hinweis auf die Vätertheologie fasst er das Hirtenbild zusammen:
"In seiner Menschwerdung und in seinem Kreuz trägt er [Jesus] das verirrte Schaf – die Menschheit – heim ... Der menschgewordene Logos ist der wahre 'Schafträger' – der Hirte, der uns nachgeht durch die Dornen und Wüsten unseres Lebens. Von ihm getragen, kommen wir nach Hause."3

Auf Jesu Schultern nach Hause kommen zu Gott – ein wunderbares Bild für das Heilswirken Jesu Christi. Jedenfalls für Christen.
Nun glauben aber bekanntermaßen nicht alle Menschen an Jesus Christus als den Retter der Menschheit – doch auch für sie soll diese Aussage gelten, dass Jesus ihr Hirte ist.

Ein kleiner Teil der Nichtchristen ist keiner Religion zugeneigt, diese Menschen bezeichnen sich als Atheisten oder Agnostiker. Der Terminus "nach Hause" zu kommen hat für sie keinen Sinn, der über die Zusammenhäge dieser Welt hinausginge. Auf sie möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen.
Der Großteil der Menschen nämlich hängt anderen Religionen an. Besonders für diese Gläubigen anderer Religionen stellt sich die Frage, ob für sie gesagt werden kann, dass sie "nach Hause" kommen, genauer: ob auch sie von Jesus dorthin getragen werden – und ob sie dies auch wollen.

Mir scheint Jesus hier sehr inklusivistisch zu sprechen – also in der Weise, dass seine Rolle als universaler Heilsmittler irgendwie auch für die Angehörigen anderer Religionen relevant ist, weil er es eben ist, der auch durch die anderen religiösen Traditionen hindurch zu Gottes Heil und Einheit führt. Schließlich sind alle seine Schafe, die seine Stimme hören und die er mit all den seinen zusammenführt.

Wenn Jesus nun sagt "auch sie muss ich führen", so scheint es nach diesem Satz seine genuine Aufgabe zu sein, sein Heilswirken in den anderen Religionen durchzusetzen, auch wenn dort (bei vielfacher Wertschätzung von Gestalt und Ethos Jesu) seine Stimme eben kein Gehör findet wie sie das bei Christen (theoretisch) tut.

Christlich oder nicht?
Französischer Dom, Berlin-Mitte, 2015.
Ob sie dann direkt "auf meine Stimme hören" müssen, ob dies implizit in den christförmigen Anteilen in ihrer eigenen Tradition möglich ist oder ob sie sich dafür von ihrer eigenen Religion wegbekehren müssten, ist eine sehr viel weitergehende Frage.4

Wie nicht anders zu erwarten, bricht der Jesus des Evangelisten Johannes keine Lanze für Stärke und Würde von Werten außerhalb der Christengemeinde. Immerhin gesteht er den "Anderen" zu, wahre Schafe zu sein und nicht Wölfe, Diebe oder Tagelöhner, die als Negativrollen reichlich im Johannesevangelium verteilt sind.

Wie steht es nun um Jesu Bedeutung für die Angehörigen anderer Religionen aus christlicher Sicht?

Wir kennen die Wege Gottes nicht und werden es, wenn überhaupt wohl auch erst am Jüngsten Tag erfahren.
Und ausgerechnet von Joseph Ratzinger kommt ein Aufruf zur Mäßigung, was die theologischen Gedankenspielereien zur Frage der Theologie der Religionen angeht:

"Müssen wir unbedingt eine Theorie erfinden, wie Gott retten kann, ohne der Einzigkeit Christi Abbruch zu tun? Ist es nicht vielleicht wichtiger, diese Einzigkeit von innen her zu verstehen und damit zugleich auch die Weite ihrer Ausstrahlung zu erahnen, ohne daß wir sie im einzelnen definieren können?"5

Ich belasse es einfach bei diesem Aufruf, sich auf die Spur der Weite des Hirten zu begeben...


1   Einführen in die Haltung der Katholischen Kirche kann zuerst die Erklärung "Nostra Aetate": http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html und als eine Art Fortschreibung ein Text der Internationalen Theologenkommission: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/arbeitshilfen/ah_136.pdf. Hilfreich zum Einstieg beispielsweise: J. Ratzinger, Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen. Freiburg i.Br. u.a. 3. Aufl 2004. Vertiefende Lektüre und eine Unmenge an Literatur bietet: J. Dupuis, Unterwegs zu einer christlichen Theologie des religiösen Pluralismus. Innsbruck 2010 (ital. Originalausgabe von 1997); oder: K. v. Stosch, Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen. 1. Aufl., Paderborn 2012.
2   J. Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Freiburg i.Br. 2007, 329.
3   Ebd., 331.
4   Bei J. Dupuis, a.a.O., 422 heißt es dazu: "Es geht um die Frage, ob die christliche Vorstellung der Heilsökonomie zu dem Schluss führt, dass die Mitglieder anderer religiöser Traditionen durch Christus neben oder sogar trotz der religiösen Tradition, der sie angehören und die sie aufrichtig ausüben, gerettet werden. Oder werden sie, im Gegenteil, in und durch diese Traditionen gerettet?"
5   J. Ratzinger, Glaube – Wahrheit – Toleranz. a.a.O., 44.