Menschen und Tiere haben mehr
gemeinsam, als viele von uns, besonders von uns Fleischessern,
wahrhaben wollen.
Zugleich sind sie nach christlicher
Überlieferung stark voneinander unterschieden, ist der Mensch
bestimmt, über das Reich der Tiere und Pflanzen zu herrschen (vgl.
Gen 1,26.28).
Diese beiden Meinungen müssen sich
nicht ausschließen. Aber Menschen, die eine dieser Meinungen
vertreten, neigen dazu, die Unhaltbarkeit der je anderen Meinung zu
betonen. Oder sie wenigstens nicht mehr hören zu müssen.
Hinter diesen Meinungen verbirgt sich
auch die umfassendere Frage nach der Stellung des Menschen in der
Welt, nach seiner Würde und seiner Aufgabe.
Zwei aktuelle Romane bieten für beide
Meinungen prägnante Texte an.
Einbeinigkeit schützt vor Fehlern nicht. Venedig, 2012. |
In Monika Marons Buch "Munin
oder Chaos im Kopf" unterhält sich die Protagonisten Mina
Wolf mit einer einbeinigen Krähe. Ihr philosophisch-theologischer
Disput bringt die skeptische Ich-Erzählerin zunehmend ins Grübeln.
Nicht nur, dass die (nach einer von Odins geflügelten Begleiterinnen
benannten) Krähe Munin ständig die Frage nach Gott stellt und die
Irrationalität der Menschen in bezug auf deren Gottesvorstellungen
herausstreicht, sondern dass sie, die Krähe, sich schließlich
selbst als Gott ausgibt, bringt die menschliche Hauptperson zunehmend
ins Wanken.
Darüber hinaus schilt die Krähe die
Menschheit, weil sie die Tiere geringschätzt und nicht mehr als
Götter verehrt. Selbst die als Mischwesen aus Mensch und Tier
vorgestellten Götter hätten doch mehr Potential geboten als ein
Gott, als dessen Ebenbild sich die Menschen nun aufspielen. Darauf
antwortet die religionsferne Ich-Erzählerin:
"Ach, ... das Lachen vergeht
uns gerade, seit sie das Genom entschlüsselt haben und wir wissen,
dass sogar die Maus und der Mensch zu neunundneunzig Prozent
genetisch übereinstimmen. Besonders für die Gottgläubigen muss das
ein Schock sein. Denn wenn der Mensch Gottes Ebenbild ist, dann
müsste ja auch Gott zu neunundneunzig Prozent eine Maus sein oder
ein Affe oder sogar ein Biber. Dann ist alles Gott."1
Trotz der Fragwürdigkeit dieser Logik
stellt sich doch tatsächlich die Frage, was es mit dem Gottesbild
macht, wenn Tier und Mensch so sehr zusammenrücken, dass eine
Höherstellung des Menschen nicht mehr erkennbar ist. Wird die
Tier-Mensch-Gott-Linie als biologistischer Zusammenhang gedacht, gibt
es keine Möglichkeit, Gott als den je Größeren und den Menschen
als Hüter der Schöpfung anzusehen.
Auch in J.M. Coetzees neuem Roman "Die
Schulzeit Jesu" gibt es einen Charakter, der den Vergleich
zwischen Menschen- und Tierreich zieht. Der wegen Mordes Angeklagte
wehrt sich gegen die angebotene Barmherzigkeit des Gerichts mit
folgenden knallharten Sätzen:
"Wenn der Fuchs die Gans bei
der Kehle gepackt hat, ... dann sagt er nicht: 'Liebe Gans, als
Zeichen meiner Gnade gebe ich dir die Chance, mich davon zu
überzeugen, dass du am Ende gar keine Gans bist.' Nein, er beißt
ihr den Kopf ab und reißt ihr die Brust auf und frisst ihr Herz. Sie
haben mich bei der Kehle. Los, beißen Sie mir den Kopf ab!"2
Der Angeklagte scheint so überzeugt
von seiner Schuld und der daraus folgenden legitimen Bestrafung zu
sein, dass er jegliches weitere Reden und Abwägen ablehnt, sogar das
Differenzieren und die Suche nach Entlastungsgründen nicht gelten
lassen will. Sein Credo lautet: Fressen muss ohne Rücksicht
stattfinden. Die Eindeutigkeit lässt keine Abwägungsstufen zu. Das
Tierreich ist mörderisch, daran sollte der Mensch sich orientieren.
Bei Marons Protagonistin spricht für
eine solche Maxime die Geschichte der Menschheit, die nicht erzählt
werden könne, "ohne auch von Kriegen und vom Morden zu
sprechen."3
Die logische Konsequenz dieses Gedankens formuliert später
unmissverständlich die Krähe: "Sterben lassen, was nicht
leben kann."4
Das sei für sie das einzig Richtige,
Humanität und Hilfe gegenüber den Schwachen dagegen seien auf Dauer
nicht leistbar.
Gleichheit im Tod Wächserne Falterfalle in Binz, 2016. |
"Ihr seid Tiere."
erwidert die Frau. "Ihr auch." kontert die Krähe,5
woraufhin sich die Frau auf Vernunft und Verstand als
Alleinstellungsmerkmal des Menschlichen zurückziehen will.
Angesichts des zuvor erwähnten
kriegerischen Schlachtens in den unzähligen Kriegen von Menschen
gegen Menschen kann dieses Argument natürlich nicht überzeugen.
Und eine andere Antwort bietet der
Roman auch nicht.
Die hergestellte Verbindung von Tier
und Mensch und Gott ist hier letztlich ein Hinunterziehen aller Wesen
auf die Ebene des Tierischen. Das ist nicht nur das abslute Gegenbild
zum christlichen Gottesbild. Es ist zugleich auch eine apokalyptisch
beunruhigende Perspektive für den Menschen.
Ähnlich scheint es sich beim
Angeklagten in Coetzees Roman zu verhalten.
Anders aber lautet die Antwort des
Richters auf den Vergleich des Angeklagten:
"Sie sind kein Tier ... und wir
sind auch keine Tiere. Sie sind ein Mensch und wir sind Menschen,
betraut mit der Aufgabe, Gerechtigkeit herzustellen, oder
zumindestens eine Annäherung an Gerechtigkeit."6
So also wird eine Unterscheidung
markiert. Das Suchen nach Gerechtigkeit ist eine Aufgabe, die den
Menschen ausmacht und auch wenn er geschichtlich immer wieder
schrecklich scheitert, so hat er doch die Möglichkeit, den Instinkt
zuzubeißen zu überwinden und, indem er einen Schritt zurücktritt,
eine andere Entscheidung zu treffen. Ob dies immer zu Gerechtigkeit
führt, sei zunächst einmal dahingestellt. Und auch, ob diese
reflektierende Distanz schon gleich mit Vernunft gleichzusetzen ist,
wird damit noch nicht gesagt.
Aber es offenbart sich hier eine nach
christlicher Auffassung göttliche Eigenschaft im Menschen. Denn auch
wenn irdische Gerechtigkeit nie erreichbar sein wird, so vollendet
Gott doch das, was im Leben auf der Erde unvollendet geblieben ist,
in Gericht und Auferstehung. Die Hoffnung auf letzte Gerechtigkeit
jedenfalls ist nach Kants praktischer Vernunft der Angelpunkt des
Auferstehungsglaubens. Der Berliner Philosoph Holm Tetens hat dies
vor einiger Zeit noch einmal betont, wenn er die richtige Einstellung
"zu den ungetrösteten Opfern der Weltgeschichte"7
anmahnt, die selbst nur in einer postmortalen Wirklichkeit
Gerechtigkeit erfahren könnten. Dann aber kann Gerechtigkeit nur als
göttliche Erlösung gedacht werden.
Wo Menschen das Streben nach
Gerechtigkeit als ihre Aufgabe wahrnehmen und nicht zuletzt auch auf
ihre Mitgeschöpfe, die Tiere anwenden, dort erweisen sie sich als
Ebenbilder Gottes.
In Coetzees Roman tut das der Junge
David, die Jesusgestalt des Autors. Er sorgt sich nicht nur um
eingeschläferte Hunde, sondern will auch die von anderen Kindern im
brutalen Spiel verletzte Ente retten.
Das gelingt ihm zwar nicht –
aber seine kindliche Zuneigung und sein Wille, Heilung und Rettung zu
ermöglichen, machen ihn zur wahrhaft menschlichen Gestalt des
Romans und zum Ebenbild Gottes.
Ausgleichende Gerechtigkeit. Neukölln, Berlin, 2018. |
1 M.
Maron, Munin oder Chaos im Kopf. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2018, 221.
2 J.M.
Coetzee, Die Schulzeit Jesu. Frankfurt a.M. 2018, 183f.
3 M.
Maron, a.a.O., 59.
4 Ebd.,
114.
5 Ebd.
6 J.M. Coetzee, a.a.O., 184.
7 Auferstehung
der Toten, Gericht, Vergebung. Ein Interview mit dem Philosophen
Holm Tetens. In: Herder Korrespondenz, 1/2017, 18-22, hier: 21.
Ferner führt Tetens dort aus: "Es wäre eine merkwürdige
Verhöhnung der Opfer, würde das Erlösungsgeschehen über die in
dieser Welt geschehenen Verbrechen sozusagen schweigend
hinweggehen. Es braucht also so etwas wie ein Gericht."
(Ebd., 20.)