Montag, 8. Februar 2016

Beschnitten – Eine Entdeckung zur Nacktheit

Vor kurzer Zeit habe ich in der Sauna einen beschnittenen Mann nackt gesehen, zum ersten Mal in meinem Leben.
Im Nachdenken darüber ist mir auf einmal schlagartig klar geworden, was für eine wahnsinnige und nicht mehr aufhebbare Bindung diese Art von religiöser Initiation erzeugt.
Wie sehr die Zugehörigkeit zur Religion in den eigenen Körper eingeschrieben ist, so dass eine mentale Distanzierung vielleicht möglich ist, aber durch den eigenen Körper immer wieder konterkariert wird. 
Ich bin allenfalls durch meine Kette mit Kreuz und meinen Ehering ansatzweise ausdeutbar, beides ist aber reversibel an meinen Körper und kann jederzeit abgenommen werden. Für einen beschnittenen Mann dagegen kann jedes Duschen und jede Erfahrung von Nacktheit eine Erfahrung oder wenigstens Bewusstwerdung der eigenen Religion sein.

Beschnitten. Baum beim Kirschbachtal, Weimar, 2016.
Das war mir vorher nie so recht klar.
Unser mitteleuropäisches Konzept von Religion ist ja mittlerweile das einer inneren Bindung, die irgendetwas mit Überzeugungen und rationaler Verantwortbarkeit zu tun hat. Ein geistiges Erfahren, das vielleicht einem "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" entspringt oder dem Bedürfnis nach Transzendenz oder sonst etwas. Körperlichkeit kommt da in der Regel nicht vor.

Das liegt nur zum Teil am Einfluss des Paulus: Der hatte zwar geschrieben, "es kommt nicht darauf an, ob einer beschnitten oder unbeschnitten ist, sondern darauf, dass er neue Schöpfung ist." (Gal 6,15) Andererseits war ihm aber wichtig, dass er selbst "die Zeichen Jesu an meinem Leib" (Gal 6,17) trägt und er fragt die Gemeinden provokativ: wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?" (1Kor 6,19) Darum fordert er sie auch auf: "Verherrlicht also Gott in eurem Leib!" (1Kor 6,20)

Die Beschneidung der Söhne Israels als körperliches Zeichen eines Volkes für seine Hingabe an Gott ist für ihn zwar obsolet geworden, seitdem sich die Botschaft Gottes durch Jesus Christus an alle Menschen aus allen Völkern richtet, die nicht mehr in der leiblichen Verbindung mit dem Stammvater Abraham stehen.
Der Leib selbst aber ist eben nicht so nebensächlich für unsere Religion, wie wir es heute glauben. Dazu ließe sich eine Menge an Gedanken zur Leibtheologie in der Schrift und in der frühen Kirche finden.

Unbeschnitten. Bäume an der Kindlbrauerei,
Neukölln, Berlin, 2016.
Ich will hier nur auf das neue Initiationsritual der Christen hindenken: Die Taufe.
Dass jemand getauft ist, sieht man nicht in der Sauna, es ist kein äußeres Zeichen wie die Beschneidung. Das hat seine Nachteile, weil sie dem Vergessen anheimfallen kann. "Was ich nicht sehe, gilt für mich auch nicht mehr", scheint manchmal dahinter zu lauern. Aber auch die Taufe ist nicht wiederholbar oder abwaschbar. Und auch die Taufe hat mit Nacktheit zu tun.

Der Körper wird, jedenfalls im Idealfall der Taufe wie er in der Alten Kirche (und heute noch in den Orthodoxen Kirchen) sinnenfällig praktiziert wurde, ins Wasser getaucht. Ganz nackt und ausgeliefert wird so deutlich, dass vor Gott nichts zählt, was von außen dazukommt. Dieser Moment der Nacktheit stellt einen Durchgang durch die völlige Verwundbarkeit, durch die Teilnahme an Christi Tod (vgl. Röm 6,3ff) dar – bis die getaufte Person anschließend die das Leben und die Identität Christi wie ein Gewand angezogen hat (vgl. Gal 3,27).
Die Taufe zeigt sich nicht am Geschlecht, sondern soll sichtbar werden in den Taten des Glaubens und der Liebe.
Die Taufe ist eine Vorgabe, die regelmäßig ihre Aktualisierung in freier Entscheidung fordert.

In der christliche Initiation zeigt die Nacktheit zwar nicht die Zugehörigkeit zur Gemeinde eindeutig an, Nacktheit ist aber sehr wohl ein zentrales Element der Eingliederung in die Gemeinschaft.
Für Beschnittene dagegen ist Nacktheit ihre stete Erinnerung an das ganz körperliche Hineingenommensein in die Beziehung zu Gott.


P.S. Perverserweise war das Beschnittensein in Auschwitz und den nationalsozialistischen Lagern auch das Erkennungsmerkmal der Juden, die nicht mit Gesinnung oder Glaube oder sonst etwas gegen diese erzwungene Identifizierung ankonnten. Die Nacktheit und das Erkanntwerden führte in den Tod.

Geschnittene Bäume. Wald bei Alt-Buchhorst, 2016.