Vor kurzer Zeit habe ich in der Sauna
einen beschnittenen Mann nackt gesehen, zum ersten Mal in meinem
Leben.
Im Nachdenken darüber ist mir auf
einmal schlagartig klar geworden, was für eine wahnsinnige und nicht mehr aufhebbare Bindung
diese Art von religiöser Initiation erzeugt.
Wie sehr die Zugehörigkeit zur
Religion in den eigenen Körper eingeschrieben ist, so dass eine
mentale Distanzierung vielleicht möglich ist, aber durch den eigenen
Körper immer wieder konterkariert wird.
Ich bin allenfalls durch
meine Kette mit Kreuz und meinen Ehering ansatzweise
ausdeutbar, beides ist aber reversibel an meinen Körper und kann
jederzeit abgenommen werden. Für einen beschnittenen Mann dagegen
kann jedes Duschen und jede Erfahrung von Nacktheit eine Erfahrung
oder wenigstens Bewusstwerdung der eigenen Religion sein.
Beschnitten. Baum beim Kirschbachtal, Weimar, 2016. |
Das war mir vorher nie so recht klar.
Unser mitteleuropäisches Konzept von
Religion ist ja mittlerweile das einer inneren Bindung, die
irgendetwas mit Überzeugungen und rationaler Verantwortbarkeit zu
tun hat. Ein geistiges Erfahren, das vielleicht einem "Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit" entspringt oder dem Bedürfnis
nach Transzendenz oder sonst etwas. Körperlichkeit kommt da in der
Regel nicht vor.
Das liegt nur zum Teil am Einfluss des
Paulus: Der hatte zwar geschrieben, "es kommt nicht darauf
an, ob einer beschnitten oder unbeschnitten ist, sondern darauf, dass
er neue Schöpfung ist." (Gal 6,15) Andererseits war ihm
aber wichtig, dass er selbst "die Zeichen Jesu an meinem
Leib" (Gal 6,17) trägt und er fragt die Gemeinden
provokativ: wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des
Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?"
(1Kor 6,19) Darum fordert er sie auch auf: "Verherrlicht also
Gott in eurem Leib!" (1Kor 6,20)
Die Beschneidung der Söhne Israels als
körperliches Zeichen eines Volkes für seine Hingabe an Gott ist für
ihn zwar obsolet geworden, seitdem sich die Botschaft Gottes durch
Jesus Christus an alle Menschen aus allen Völkern richtet, die nicht
mehr in der leiblichen Verbindung mit dem Stammvater Abraham stehen.
Der Leib selbst aber ist eben nicht so
nebensächlich für unsere Religion, wie wir es heute glauben. Dazu
ließe sich eine Menge an Gedanken zur Leibtheologie in der Schrift
und in der frühen Kirche finden.
Unbeschnitten. Bäume an der Kindlbrauerei, Neukölln, Berlin, 2016. |
Ich will hier nur auf das neue
Initiationsritual der Christen hindenken: Die Taufe.
Dass jemand getauft ist, sieht man
nicht in der Sauna, es ist kein äußeres Zeichen wie die
Beschneidung. Das hat seine Nachteile, weil sie dem Vergessen
anheimfallen kann. "Was ich nicht sehe, gilt für mich auch
nicht mehr", scheint manchmal dahinter zu lauern. Aber auch die
Taufe ist nicht wiederholbar oder abwaschbar. Und auch die Taufe hat
mit Nacktheit zu tun.
Der Körper wird, jedenfalls im
Idealfall der Taufe wie er in der Alten Kirche (und heute noch in den
Orthodoxen Kirchen) sinnenfällig praktiziert wurde, ins Wasser
getaucht. Ganz nackt und ausgeliefert wird so deutlich, dass vor Gott
nichts zählt, was von außen dazukommt. Dieser Moment der Nacktheit
stellt einen Durchgang durch die völlige Verwundbarkeit, durch die
Teilnahme an Christi Tod (vgl. Röm 6,3ff) dar – bis die getaufte
Person anschließend die das Leben und die Identität Christi wie ein
Gewand angezogen hat (vgl. Gal 3,27).
Die Taufe zeigt sich nicht am
Geschlecht, sondern soll sichtbar werden in den Taten des Glaubens
und der Liebe.
Die Taufe ist eine Vorgabe, die
regelmäßig ihre Aktualisierung in freier Entscheidung fordert.
In der christliche Initiation zeigt die
Nacktheit zwar nicht die Zugehörigkeit zur Gemeinde eindeutig an,
Nacktheit ist aber sehr wohl ein zentrales Element der Eingliederung
in die Gemeinschaft.
Für Beschnittene dagegen ist Nacktheit
ihre stete Erinnerung an das ganz körperliche Hineingenommensein in
die Beziehung zu Gott.
P.S. Perverserweise war das
Beschnittensein in Auschwitz und den nationalsozialistischen Lagern
auch das Erkennungsmerkmal der Juden, die nicht mit Gesinnung oder
Glaube oder sonst etwas gegen diese erzwungene Identifizierung
ankonnten. Die Nacktheit und das Erkanntwerden führte in den Tod.
Geschnittene Bäume. Wald bei Alt-Buchhorst, 2016. |