Dienstag, 23. August 2016

Christsein als Bundesgeschehen

In letzter Zeit kommt mir dieses Thema immer plausibler vor – dass für das Verständnis des christlichen Lebensvollzugs beim durch Gott vorgeschlagenen Bund anzusetzen ist, bei einem Bund, der seit den Bundesschlüssen, von denen das Alte Testament berichtet, bis zu jeder einzelnen heutigen Person reicht.

Schon unsere normale Bezeichnung für die beiden Teile der Bibel erinnert daran, denn es ist das "Wort 'Testament', das über das griechische diathéké das alttestamentliche Wort für Bund (beríth) wiedergibt".1 In den biblischen Büchern geht es mithin nicht um das Erzählen von Geschichten, sondern um das Zeugnis von diesem Bund Gottes mit den Menschen.
Joseph Ratzinger verweist in diesem Zusammenhang auf die rabbinische Theologie, nach der der Bundesgedanke sogar der innerste Grund der Schöpfung der Welt sei: "Der Kosmos wird geschaffen, nicht damit es vielerlei Gestirne und Dinge gebe, sondern damit ein Raum sei für den 'Bund', für das Ja der Liebe zwischen Gott und dem ihm antwortenden Menschen."2
Bundesverheißung?
Was aber heißt Bund?
Beim Beantworten der Frage drängt sich ein ganzes Geflecht biblisch-theologischer Begriffe und Motive auf: Erwählung und Verpflichtung, Heilsverheißung, Treue, Verantwortungsübernahme, Gebote, Partnerschaft unter Ungleichen, Vertrauen usw.
Ich will mich an dieser Stelle nur auf einige Momente am alttestamentlichen Bundesbegriff konzentrieren, die meiner Meinung nach für unser heutiges Verständnis von Religiosität erhellend sein können.

1
Christsein verstanden als Bundesgeschehen bedeutet die biblisch bezeugte Erfahrung des Angesprochenseins von Gott in einer Welt, die diesen Gott nicht (mehr) kennt.
Gott will eine personale Beziehung aufnehmen
– Christsein meint mich persönlich, und das nicht (nur) im ethischen Sinne, sondern ganzheitlich. Ich, in meiner unverwechselbaren Individualität, bin von ihm gemeint und zur Antwort in ein Verantwortungsverhältnis gerufen. Denn nicht nur mir selbst und meinen Vorstellungen vom Leben, sondern auch einer weiteren Inanspruchnahme soll ich gerecht werden. Doch die scheinbar externe Herkunft des Anspruchs erweist sich als der innerste Ruf zu mir selbst, zur Selbstwerdung durch Angleichung an das Bild, das Gott von mir hat – an sein Ebenbild, das ich im Innersten schon bin.
Natürlich ist die Fähigkeit, Gott zu hören, also die "religiöse Musikalität", wie Max Weber sie nennt, unterschiedlich stark ausgeprägt und entwickelt. Ein personales Gegenüber anzunehmen, das ich nicht sehe, mag in Zeiten digitaler Kommunikation in gewissen, technisch unterstützten Situationen einleuchten, aber mich als Person in allem, was ich bin und tue, der Gegenwart eines Anderen ausgesetzt anzunehmen, hat für viele Menschen etwas von Überwachung. Doch Gott schaut uns liebevoll an – und zugleich genau. Und diese genaue Liebe will uns verwandeln.
Die biblische Ausdrucksweise dafür lautet: "Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig." (Lev 19,2) Denn das ist der Kern unserer Gottebenbildlichkeit: uns von Gott ansprechen zu lassen und ihm in Heiligkeit gleich zu werden.

2
Doch auf dieses Bundesangebot einzugehen meint mehr: es bedeutet zugleich eine Herausforderung. Nicht Herausforderung im Sinne einer "challenge", wie sie heute als Mutprobe oder Wettbewerb verstanden wird, sondern das Hinausgerufensein zu neuen Möglichkeiten.
Im Sinne des Bundesschlusses, der uns am nächsten ist: auch in der Ehe schließen zwei einen Bund, um miteinander voranzugehen und sich gegenseitig weiterzuführen – und nicht, damit jede Person bleibt (und wird), die sie schon ist (zur Ehesymbolik vgl. Hos 1-2)
Zu Abraham sagt Gott in seinem Bundesangebot daher: "Ich will einen Bund stiften zwischen mir und dir und dich sehr zahlreich machen. ... Ich schließe meinen Bund zwischen mir und dir samt deinen Nachkommen, Generation um Generation, einen ewigen Bund: Dir und deinen Nachkommen werde ich Gott sein. Dir und deinen Nachkommen gebe ich ganz Kanaan, das Land, in dem du als Fremder weilst, für immer zu Eigen und ich will ihnen Gott sein." (Gen 17,2.7f.) 
Ästhetische Herausforderung.
Oberwiesenthal 2013.
Dorthin also geht die Reise: Nachkommenschaft, neues Land, eigener Gott. Und die damit in Verbindung stehende Herausforderung ist nicht nur der lange herausgeforderte Glaube an das Geschenk einer reichen Nachkommenschaft, sondern der symbolische Verlust der sexuellen Selbstbestimmung durch das Zeichen der Beschneidung: "Die Beschneidung bezeichnet den Bund nicht auf eine willkürliche und rein äußerliche Weise, so als sei sie eine Tonsur oder eine rituelle Narbe. Abrams Penis ist – wie auch die Penisse, die sexuelle Potenz seiner Abkömmlinge – der Gegenstand des Bundes. Gott verlangt von Abram das symbolische Zugeständnis, daß seine Fruchtbarkeit nicht sein Eigentum ist, das er ohne göttliche Einschränkung ausüben kann."3
Die sich aus einer solchen (im wahrsten Sinne des Wortes) Beschneidung gewisser Freiheiten ergebenden Möglichkeiten erscheinen nur auf den ersten Blick als geringer. Denn hier zeigt sich die wechselseitige Verschränkung in jedem personellen Geschehen: es bedarf einer inneren Relation von Gabe und Gegengabe. Geld oder andere Wert-Stoffe können den Beziehungsgehalt einer inhaltlich angemessenen Gegengabe nicht ersetzen.
Gott schenkt die Überfülle eines großen Volkes als Nachkommenschaft eben indem er die Möglichkeit dazu übertragen bekommt.
Für die eigene Religiosität: Gott will mich durch den Bund mit ihm wachsen lassen und mein Gott sein – aber dazu muss ich mein Ja sagen und das aufgeben, was mich davon abhält.
Also: Aus was ruft Gott mich heraus?

3
Diese letzte Frage weist schon hin auf einen weiteren Aspekt des biblisch fundierten Bundesverständnisses: Mit dem Bund schenkt Gott Befreiung.
Das Volk Israel gründet einen gewichtigen Teil seiner Gotteswahrnehmung auf die Exodustradition. Eine klassische Bundesformel lautet darum: "Ich nehme euch als mein Volk an und werde euer Gott sein. Und ihr sollt wissen, dass ich Jahwe bin, euer Gott, der euch aus dem Frondienst führt." (Ex 6,7)
Gott als Gott annehmen und sich auf diesem Wege von allen anderen unfrei machenden Göttern befreien, das scheint ein nachvollziehbarer Gedanke, der auch in unsere Zeit passt.
Mich erinnert dieser Aspekt an das Suscipe-Gebet des Ignatius, der im Rahmen der Exerzitien vorschlägt, wie folgt zu beten:
"Nehmt, Herr, und empfangt meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen, all mein Haben und mein Besitzen. Ihr habt es mir gegeben; Euch, Herr, gebe ich es zurück. Alles ist Euer, verfügt nach Eurem ganzen Willen. Gebt mir Eure Liebe und Gnade, denn diese genügt mir."4
Auch hier wieder erscheinen Geben und Nehmen in personalem Zusammenhang. Der Verpflichtungscharakter des Bundesschlusses ist nämlich eine innere Entscheidung, die freier macht indem sie Gott in der Haltung des Angebots begegnet.
Nicht die Aufgabe der spärlich gegen Gott zusammengeklaubten Souveränität ist Inhalt dieses Gebets, sondern ein Freiwerden von inneren Abhängigkeiten und dem Wunsch, "alle ungeordneten Anhänglichkeiten von sich zu entfernen",5 um so in innerer Freiheit Gott begegnen zu können.
Aber sogar dieser Wunsch oder Akt selbst ist schon ein Geschenk der Gnade, es ist Gottes Güte, die zur Umkehr treibt (vgl. Röm 2,4) und ein Geschenk der Bundesbeziehung zu ihm, das Freiheit ermöglicht und zum Ergreifen dieser Freiheit einlädt.

Ich weiß nicht, ob durch diese Erläuterungen klar machen konnte, worum es mir mit diesen Anknüpfungen an den Bundesgedanken geht.
Sich in der Anonymität der unbelebten Welt, in der Anonymität einer großen Stadt, in der Anonymität des leeren Alls gemeint zu fühlen, bedeutet oft eine Herausforderung. Doch die ungleich größere Herausforderung ist das Herausgehen aus meinen Bequemlichkeiten in die Freiheit derer, die Kinder Gottes sein wollen. Christsein bedeutet mehr als nur Glauben an irgendwelche Wahrheiten, sogar mehr als Vertrauen auf irgendjemanden. Es ist ein Ruf ins Involviertsein, eine In-Verantwortungnahme.
Davon lebt Religiosität als Bundesgeschehen: vom beidseitigen freien Hineingehen in die Beziehung. Ignatius nennt das in seinem Exerzitienbuch Liebe: "Die Liebe besteht in Mitteilung von beiden Seiten: nämlich darin, daß der Liebende dem Geliebten gibt und mitteilt, was er hat, oder von dem, was er hat oder kann; und genauso umgekehrt der Geliebte dem Liebenden."6

Halten und Gehaltenwerden. Pforte der Barmherzigkeit in St. Paulus. Moabit, Berlin, 2016.
1   C. Westermann, Tausend Jahre und ein Tag. Unsere Zeit im Alten Testament. Stuttgart, Berlin 1965, 66.
2   J. Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil. Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Freiburg i.Br. 2011, 96.
3   J. Miles, Gott. Eine Biographie. 3. Aufl. München 2000, 70.
4   Ignatius v. Loyola, Geistliche Übungen und erläuternde Texte. Leipzig 1978, No. 234.
5   Ebd., No. 1.
6   Ebd., No. 231.