Donnerstag, 5. Dezember 2013

genau und liebevoll

Selbstreflexion ist eine lang geübte Form christlicher Spiritualität. Schon frühe christliche Theologie und Frömmigkeit kennt das Phänomen – von den Wüstenvätern und ihren Gedanken über die inneren Dämonen über die augustinische Introspektion bis zu frühneuzeitlichen Beichtspiegeln oder der Devotio moderna. Auch die mir am nächsten stehende, die ignatianische Tradition, hat viele praktische Hilfen dazu entwickelt.

Glaswand, Dahlem, 2013.
Die Grundfrage ist dabei: Wie sehen wir auf unser Leben und auf das unserer Mitmenschen? Die einen sehen als erstes die Schattenseiten. Die anderen sehen eher das Schöne. Durch unsere ganze Lebensausrichtung, durch unsere Haltung zu bestimmten Dingen und auch durch die Stimmung, in der wir jeweils gerade sind, wird unser Blick eher auf das eine oder eher auf das andere gelenkt. 
 


Als Kriterium für den Blick dient für Christen ohne Zweifel der Blick Gottes. Wenn Gott auf unser Leben schaut, dann hat sein Blick zwei Eigenschaften: sein Blick ist einerseits klar und genau, andererseits aber auch liebevoll und zärtlich.


Gott schaut genau – er blickt nicht nur irgendwie mal mit einem halben Auge auf uns, sondern sein Interesse an uns ist so groß, dass er uns ganz genau kennen will. Er nimmt ernst, wie wir sind und verwischt nicht um eines guten Eindruckes willen die Ecken unserer Persönlichkeit.

Nach biblischem Zeugnis kennt er uns tatsächlich und sieht uns genau an:

„Herr, du hast mich erforscht und du kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir. Von fern erkennst du meine Gedanken. Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt; du bist vertraut mit all meinen Wegen.“ (Ps 139,1-3)



Glaswand, Schöneberg, 2013.
Gott schaut genau auf uns, aber eben nicht wie ein distanzierter Beobachter oder eine Kontrollkamera, sondern vor allem schaut er uns liebevoll an.

Im Neuen Testament wird berichtet, dass Jesus nach seiner Taufe im Jordan eine Stimme hörte, die zu ihm sagte: „Du bist mein geliebter Sohn, an Dir habe ich Gefallen.“ (Mk 1,11)

Gott schaut liebevoll auf Jesus. Und genauso schaut er auf uns, die wir seine geliebten Kinder sind. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott uns genauso liebevoll anschaut wie Jesus, weil er uns in seinem Sohn trotz Fehler und Sünden liebt. Nicht ohne unsere Tiefs zu sehen, sondern gerade mit ihnen.


Wer wir auch sind, was wir auch erlebt haben, wie wir auch leben und was wir auch tun – Gott schaut liebevoll auf uns. Er übersieht dabei nicht unsere abgründigen Dunkelheiten, nicht unsere komischen Macken und auch nicht unsere Fehler – aber er liebt uns trotzdem.

Vielleicht kann das Maßstab christlicher Selbstreflexion sein. Nicht selbstzerfleischend und nicht nivellierend, nicht nebenher und nicht aus der Ferne. Sondern so wie Gott: Genau und liebevoll. 
 

Adventlich gewendet: weltzugewandt und nahekommend.