Samstag, 14. Dezember 2013

Alles ist schon da

Johannes vom Kreuz, den die Kirche heute feiert, schreibt in seinem Hauptwerk "Aufstieg auf den Berg Karmel", wie Gott auf die menschlichen Wünsche nach einem persönlichen Zeichen, nach Wundern und Visionen oder privaten Offenbarungen antworten würde – ein Text, der meiner Meinung nach ein zeitloses Meisterwerk christozentrischer spiritueller Literatur ist und den ich hier kommentarlos einstellen will:

Glaswand, Neukölln, 2013.
"Wenn ich dir doch schon alles in meinem Wort, das mein Sohn ist, gesagt habe und kein anderes mehr habe, was könnte ich dir dann jetzt noch antworten oder offenbaren, was mehr wäre als dieses?
Richte deine Augen allein auf ihn, denn in ihm habe ich dir alles gesagt und geoffenbart, und du wirst in ihm noch viel mehr finden, als du erbittest und ersehnst. Du bittest nämlich um innere Ansprachen und Offenbarungen über Teilbereiche, doch wenn du deine Augen auf ihn richtest, wirst du es im Ganzen finden, denn er ist meine ganze Rede und Antwort, er ist meine ganze Vision und Offenbarung. Das habe ich euch schon gesagt, geantwortet, kundgetan und geoffenbart, als ich ihn euch zum Bruder, zum Gefährten und Lehrmeister, als Lösegeld und Lohn gab.
Denn seit dem Tag, als ich auf dem Berg Tabor mit meinem Geist auf ihn herabkam, und sagte Hic est filius meus dilectus, in quo mihi bene complacui, ipsum audite, das heißt: Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe; auf ihn höret! habe ich meine Hand von all jenen Arten von Unterweisungen und Antworten zurückgezogen und sie ihm gereicht.
Hört auf ihn, denn ich habe nicht noch mehr Glauben zu offenbaren, noch mehr Dinge kundzutun. Denn wenn ich früher sprach, war es, weil ich Christus verhieß, und wenn sie mich befragten, erbaten und erhofften sie mit ihren Fragen Christus, in dem sie alles Gute finden sollten, wie es jetzt die ganze Lehre der Evangelisten und Apostel zu verstehen gibt.
Wer mich jetzt aber noch nach jener Methode befragen sollte oder sich wünschte, dass ich zu ihm spreche oder ihm etwas offenbare, der würde mich gewissermaßen ein zweites Mal um Christus bitten und mich um mehr Glauben bitten, während er in dem, der in Christus bereits geschenkt ist, versagte.
Und so würde er meinem geliebten Sohn schweres Unrecht zufügen, denn er würde damit nicht nur im Glauben versagen, sondern er zwänge ihn, nochmals Fleisch anzunehmen und sein erstes Leben und Sterben durchzustehen. Du wirst nichts finden, was du von mir erbitten, noch was du an Offenbarungen oder Visionen von mir ersehnen könntest.
Schau ihn dir nur gut an, denn dort in ihm wirst du all das schon getan und gegeben finden, und noch viel mehr.“1

Jahrhunderte später schreibt Dietrich Bonhoeffer wie einen Kommentar dazu: 

"Alles, was wir mit recht von Gott erwarten, erbitten dürfen, ist in Jesus Christus zu finden. Was ein Gott, so wie wir ihn uns denken, alles tun müsste und könnte, damit hat der Gott Jesu Christi nichts zu tun. Wir müssen uns immer wieder sehr lange und sehr ruhig in das Leben, Sprechen, Handeln, Leiden und Sterben Jesu versenken, um zu erkennen, was Gott verheißt und was er erfüllt."2  



1  Johannes vom Kreuz, Aufstieg auf den Berg Karmel. Freiburg i.Br. 1999, 262f. [2. Buch, Kapitel 22]
2   D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. 3., erweiterte Auflage, Berlin (Ost) 1972, 425 (an E. Bethge, 21.August 1944).