Unsere Erkenntnisse: fragmentarisch und
konstruiert; unsere Traditionen: belastend und weitgehend abgestreift; unsere
Normen: unverbindlich oder durch eigene ersetzt.
Und dann liegt da dieses Kind. Und
es steht einer und spricht mit einer Gewissheit und einer Ehrfurcht, dass es
(mich jedenfalls) fast zu Tränen rührt:
Ich sehe dich mit Freuden an
Und kann mich nicht satt sehen.
Und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O dass mein Sinn ein Abgrund wär
Und meine Seel ein weites Meer,
Dass ich dich könnte fassen!1
Und kann mich nicht satt sehen.
Und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O dass mein Sinn ein Abgrund wär
Und meine Seel ein weites Meer,
Dass ich dich könnte fassen!1
So viel Sehnsucht, so viel Glaubenskraft!
Heute noch mit einem solchen Vertrauen singen zu können, ist ein zutiefst widerständiger Akt angesichts der Denkmuster in der aufgeklärt-rationalen Moderne.
Stern über Rixdorf, Berlin 2013. |
Auch theologisch oder religiös Engagierten ist die Vorstellung konkreter Greifbarkeit des allumfassend-überweltlichen Gottes oftmals anstößig:
“Gott kann als unsagbare,
unumgreifbare Voraussetzung, als Grund und Abgrund, als unsagbares
Geheimnis in seiner Welt nicht antreffbar sein, er scheint in die
Welt, mit der wir umgehen, nicht einrücken zu können, weil er
dadurch gerade das würde, was er nicht ist: ein einzelnes, neben dem
es anderes gibt, das er nicht ist. Wollte er in seiner Welt
erschwingen, so würde er anscheinend sofort aufhören, er selber zu
sein, der Grund aller Erscheinungen, der selbst keine Erscheinung ist
und hat.Gott scheint per definitionem nicht innerweltlich sein zu
können. [...] Es kommt uns nur zu leicht als eine unfromme
Indiskretion gegenüber diesem gleichsam schweigend-frommen
Auf-sich-beruhen-Lassen des absoluten Geheimnisses vor, beinahe als
eine Geschmacklosigkeit, wenn wir nicht nur über das Unsagbare
reden, sondern wenn wir darüber hinaus in der normalen Frömmigkeit
innerhalb unserer Erfahrungswelt auf dieses und jenes Bestimmte
gleichsam mit dem Finger hinweisen und sagen: Da ist Gott."2
Und doch können wir Gottes
Widerständigkeit feiern, feiern ihn in dieser Welt als Mensch –
feiern seine Geburt in Jesus von Nazareth!
Und auch der Autor der
zitierten Zeilen, Karl Rahner, tut dies natürlich:
„Wenn wir sagen: es ist Weihnacht, dann sagen wir: Gott hat sein letztes, sein tiefstes, sein schönstes Wort in die Welt hineingesagt, ein Wort, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, weil es Gottes endgültige Tat, weil es Gott selbst in der Welt ist.“3
„Wenn wir sagen: es ist Weihnacht, dann sagen wir: Gott hat sein letztes, sein tiefstes, sein schönstes Wort in die Welt hineingesagt, ein Wort, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, weil es Gottes endgültige Tat, weil es Gott selbst in der Welt ist.“3
Die Ankunft eines neugeborenen Kindes
gibt denen, die sie erleben, möglicherweise eine Ahnung dessen, was
Paul Gerhard, Altmeister des evangelischen Kirchenliedes, in seinem
oben zitierten Klassiker "Ich steh an deiner Krippen hier"
beschreibt.
Das Wunder des Lebens als bloße Ahnung
– denn in diesem "Überwunder" nun legt der Schöpfer der Welt selbst sich als
Säugling hinein in die Arme einer menschlichen Mutter.
Die zerbrochene Absolutheit unserer
Erkenntnisse, Traditionen, Normen und Werte, das Beharren auf der
Distanz und Ferne der Gottheit in (post)moderner Religiosität –
alles das führt Gott ad absurdum, wenn er Mensch wird.
Seine wahre Absolutheit ist seine
Konkretheit.
Weihnachten feiern wir diese göttliche
Anstößigkeit, das Verbleiben, die Greifbarkeit, das Vertrauen, die
Ehrfurcht, die Direktheit, die tiefe Freude.
Vielleicht ist Gesang der einzig
angemessene Ausdruck für diesen Abgrund an Freude, den wir als Paul
Gerhards Mitsänger beim Blick in die Krippe empfinden können.
1 So
die Version des katholischen Gesangsbuches von 1975:
http://www.liederlexikon.de/lieder/ich_steh_an_deiner_krippen_hier/editiond.
2 K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg i.Br. 1991, 90.91.
2 K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg i.Br. 1991, 90.91.