Dienstag, 24. Dezember 2013

Abgrund der Freude

Unsere Erkenntnisse: fragmentarisch und konstruiert; unsere Traditionen: belastend und weitgehend abgestreift; unsere Normen: unverbindlich oder durch eigene ersetzt.

Und dann liegt da dieses Kind. Und es steht einer und spricht mit einer Gewissheit und einer Ehrfurcht, dass es (mich jedenfalls) fast zu Tränen rührt:

Ich sehe dich mit Freuden an
Und kann mich nicht satt sehen.
Und weil ich nun nichts weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O dass mein Sinn ein Abgrund wär
Und meine Seel ein weites Meer,
Dass ich dich könnte fassen!
1

So viel Sehnsucht, so viel Glaubenskraft!
Heute noch mit einem solchen Vertrauen singen zu können, ist ein zutiefst widerständiger Akt angesichts der Denkmuster in der aufgeklärt-rationalen Moderne.

Stern über Rixdorf, Berlin 2013.

Auch theologisch oder religiös Engagierten ist die Vorstellung konkreter Greifbarkeit des allumfassend-überweltlichen Gottes oftmals anstößig:

Gott kann als unsagbare, unumgreifbare Voraussetzung, als Grund und Abgrund, als unsagbares Geheimnis in seiner Welt nicht antreffbar sein, er scheint in die Welt, mit der wir umgehen, nicht einrücken zu können, weil er dadurch gerade das würde, was er nicht ist: ein einzelnes, neben dem es anderes gibt, das er nicht ist. Wollte er in seiner Welt erschwingen, so würde er anscheinend sofort aufhören, er selber zu sein, der Grund aller Erscheinungen, der selbst keine Erscheinung ist und hat.Gott scheint per definitionem nicht innerweltlich sein zu können. [...] Es kommt uns nur zu leicht als eine unfromme Indiskretion gegenüber diesem gleichsam schweigend-frommen Auf-sich-beruhen-Lassen des absoluten Geheimnisses vor, beinahe als eine Geschmacklosigkeit, wenn wir nicht nur über das Unsagbare reden, sondern wenn wir darüber hinaus in der normalen Frömmigkeit innerhalb unserer Erfahrungswelt auf dieses und jenes Bestimmte gleichsam mit dem Finger hinweisen und sagen: Da ist Gott."2

Und doch können wir Gottes Widerständigkeit feiern, feiern ihn in dieser Welt als Mensch – feiern seine Geburt in Jesus von Nazareth! 
Und auch der Autor der zitierten Zeilen, Karl Rahner, tut dies natürlich:
Wenn wir sagen: es ist Weihnacht, dann sagen wir: Gott hat sein letztes, sein tiefstes, sein schönstes Wort in die Welt hineingesagt, ein Wort, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, weil es Gottes endgültige Tat, weil es Gott selbst in der Welt ist.“3

Die Ankunft eines neugeborenen Kindes gibt denen, die sie erleben, möglicherweise eine Ahnung dessen, was Paul Gerhard, Altmeister des evangelischen Kirchenliedes, in seinem oben zitierten Klassiker "Ich steh an deiner Krippen hier" beschreibt.
Das Wunder des Lebens als bloße Ahnung – denn in diesem "Überwunder" nun legt der Schöpfer der Welt selbst sich als Säugling hinein in die Arme einer menschlichen Mutter.
"Das Herz weiß", Neukölln, Berlin, 2013.

Die zerbrochene Absolutheit unserer Erkenntnisse, Traditionen, Normen und Werte, das Beharren auf der Distanz und Ferne der Gottheit in (post)moderner Religiosität – alles das führt Gott ad absurdum, wenn er Mensch wird.
Seine wahre Absolutheit ist seine Konkretheit.

Weihnachten feiern wir diese göttliche Anstößigkeit, das Verbleiben, die Greifbarkeit, das Vertrauen, die Ehrfurcht, die Direktheit, die tiefe Freude.

Vielleicht ist Gesang der einzig angemessene Ausdruck für diesen Abgrund an Freude, den wir als Paul Gerhards Mitsänger beim Blick in die Krippe empfinden können.


1  So die Version des katholischen Gesangsbuches von 1975: http://www.liederlexikon.de/lieder/ich_steh_an_deiner_krippen_hier/editiond.
2
   K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums. Freiburg i.Br. 1991, 90.91.

3   Ders., Kleines Kirchenjahr. München 1954, 15.