Selbstreflexion
ist eine lang geübte Form christlicher Spiritualität. Schon frühe christliche Theologie und Frömmigkeit kennt das
Phänomen – von den Wüstenvätern und ihren Gedanken über die
inneren Dämonen über die augustinische Introspektion bis zu
frühneuzeitlichen Beichtspiegeln oder der Devotio moderna. Auch die mir am
nächsten stehende, die ignatianische Tradition, hat viele praktische
Hilfen dazu entwickelt.
Die
Grundfrage ist dabei: Wie sehen wir auf unser Leben und auf das
unserer Mitmenschen? Die einen sehen als erstes die Schattenseiten.
Die anderen sehen eher das Schöne. Durch unsere ganze
Lebensausrichtung, durch unsere Haltung zu bestimmten Dingen und auch
durch die Stimmung, in der wir jeweils gerade sind, wird unser Blick
eher auf das eine oder eher auf das andere gelenkt.
Glaswand, Dahlem, 2013. |
Als
Kriterium für den Blick dient für Christen ohne Zweifel der Blick
Gottes. Wenn Gott auf unser Leben schaut, dann hat sein Blick zwei
Eigenschaften: sein Blick ist einerseits klar und genau, andererseits
aber auch liebevoll und zärtlich.
Gott
schaut genau – er blickt nicht nur irgendwie mal mit einem halben
Auge auf uns, sondern sein Interesse an uns ist so groß, dass er uns
ganz genau kennen will. Er nimmt ernst, wie wir sind und verwischt
nicht um eines guten Eindruckes willen die Ecken unserer
Persönlichkeit.
Nach
biblischem Zeugnis kennt er uns tatsächlich und sieht uns genau an:
„Herr, du hast mich erforscht
und du kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir. Von
fern erkennst du meine Gedanken. Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir
bekannt; du bist vertraut mit all meinen Wegen.“ (Ps 139,1-3)
Glaswand, Schöneberg, 2013. |
Im
Neuen Testament wird berichtet, dass Jesus nach seiner Taufe im
Jordan eine Stimme hörte, die zu ihm sagte: „Du bist mein
geliebter Sohn, an Dir habe ich Gefallen.“ (Mk 1,11)
Gott
schaut liebevoll auf Jesus. Und genauso schaut er auf uns, die wir
seine geliebten Kinder sind. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott
uns genauso liebevoll anschaut wie Jesus, weil er uns in seinem Sohn
trotz Fehler und Sünden liebt. Nicht ohne unsere Tiefs zu sehen,
sondern gerade mit ihnen.
Wer
wir auch sind, was wir auch erlebt haben, wie wir auch leben und was
wir auch tun – Gott schaut liebevoll auf uns. Er übersieht dabei
nicht unsere abgründigen Dunkelheiten, nicht unsere komischen Macken
und auch nicht unsere Fehler – aber er liebt uns trotzdem.
Vielleicht
kann das Maßstab christlicher Selbstreflexion sein. Nicht
selbstzerfleischend und nicht nivellierend, nicht nebenher und nicht
aus der Ferne. Sondern
so wie Gott: Genau und liebevoll.
Adventlich
gewendet: weltzugewandt und nahekommend.