Samstag, 30. November 2013

Adventlich: Hunger und Desinfektion


Manchmal gerät die Lektüre passend zur Zeit. Ich lese momentan Walter Kempowskis Erinnerungen an seine Zeit im Bautzener Gefängnis, wo er von 1948-1956 wegen „Spionage“ sitzen musste. 1969 erschien „Im Block. Ein Haftbericht“ als Erstlingswerk. Grandios im Sprachduktus mit der für ihn typischen Verknappung, bisweilen lakonisch, manchmal absurd, oft erschütternd.
Die geschilderten Erlebnisse und Begegnungen lassen sich gut in der beginnenden Adventszeit spiegeln.


Nach der Verhaftung schreibt er:

Ich war drei Schritte hinter mir. Große Entfernung trotz Naheinstellung. Zahlenziffern am Fadenkreuz. Kein Hätte-doch, kein Gedanke an Morgen, keinerlei Reim.
Reines Heute.1

Schockzustände haben zuweilen die gleiche Wirkung wie meditative Übungen. Im Augenblick sein – starr oder verweilend, gefangen oder gehalten. Gelassenheit erleben und Distanz zum Geschehen, dabei ganz darin seiend.

Backblech, Neukölln, 2013.

Ein sich in den ersten Haftjahren durchziehendes Thema ist der Hunger:

Die Verpflegung kam uns reichlich vor. Morgens 3/4 Liter Graupensuppe, mittags 1 Liter Gemüsesuppe und abends 400g Brot und sogenannte „Produkte“, abwechselnd Butter, Marmelade und Zucker. Erst mit der Zeit kriegten wir mit, dass das eben doch nicht reichte.“2

Die Erfahrung des Ungenügens am alltäglich Erhaltenen zeigt sich in vielen Lebenssituationen. Kempowski schildert die Taktiken des Rationierens, das Teilen mit anderen Häftlingen, die Wünsche nach mehr und das Kreisen um das immer selbe Thema – Essen wollen. Der Hunger beherrscht alle Gedanken.

Ich hatte angenehme Geruchshalluzinationen, schmeckte Vanillepudding mit Himbeersauce oder, öfter noch, frische Brötchen mit Kalbsleberwurst.3

Hoffnung und Halluzination verschwimmen ineinander. Die Phantasie hält ihn in der Entbehrungszeit aufrecht, die Halluzination wird im guten Sinn zur Stärkung. Auch der Advent kann Erfahrung von Beidem sein – hoffende Erwartung und gläubiges Ankommen. Hunger nach der Nähe Gottes und seine Gegenwart greifen ineinander. Die Intensität dieses Hungers variiert auch je nach den persönlichen Erfahrungen.

Die Häftlinge erhalten nach und nach Haftverbesserungen. Manche Hoffnung, wie eine Amnestie, entpuppt sich allerdings als Illusion:

Kurz vor dem Fest wischte das Arbeitskommando die Pritschen mit Desinfektionslösung ab. Das gab ein widerwärtiges Durcheinander. Man schob sich durch die Gänge und wusste nicht wohin. Überall Staub und Dreck.
Der Sinn dieser Aktion war fragwürdig. Jetzt vor Weihnachten rechnete doch jedermann mit einer Großamnestie, und zwar von bisher nicht gekanntem Ausmaß.4

Das Großreinemachen in einer Welt, die dazu bestimmt ist, wieder verlassen zu werden, hat dennoch Sinn. Zumal dann, wenn Entlassung und Aufbruch sich als immer wieder enttäuschte Hoffnung erweisen. Wenn Wartenmüssen das letzte Wort behält.
Und: es kommt darauf an, wie gesäubert wird – das Ausmaß an Aufwirbeln alten Drecks will auch in der adventlichen Vorbereitung auf das hohe Fest gut überlegt sein.



1 W. Kempowski, Im Block. Ein Haftbericht. München / Hamburg 1987, 6.
2
Ebd., 56.
3
Ebd., 74.
4 Ebd., 176.