Manchmal gerät die
Lektüre passend zur Zeit. Ich lese momentan Walter Kempowskis
Erinnerungen an seine Zeit im Bautzener Gefängnis, wo er von
1948-1956 wegen „Spionage“ sitzen musste. 1969 erschien „Im
Block. Ein Haftbericht“ als Erstlingswerk. Grandios im Sprachduktus
mit der für ihn typischen Verknappung, bisweilen lakonisch, manchmal
absurd, oft erschütternd.
Die geschilderten
Erlebnisse und Begegnungen lassen sich gut in der beginnenden
Adventszeit spiegeln.
Nach der Verhaftung schreibt er:
„Ich war drei
Schritte hinter mir. Große Entfernung trotz Naheinstellung.
Zahlenziffern am Fadenkreuz. Kein Hätte-doch, kein Gedanke an
Morgen, keinerlei Reim.
Reines Heute.“1
Schockzustände haben
zuweilen die gleiche Wirkung wie meditative Übungen. Im Augenblick
sein – starr oder verweilend, gefangen oder gehalten.
Gelassenheit erleben und Distanz zum Geschehen, dabei ganz darin seiend.
Backblech, Neukölln, 2013. |
Ein sich in den ersten
Haftjahren durchziehendes Thema ist der Hunger:
„Die Verpflegung kam
uns reichlich vor. Morgens 3/4 Liter Graupensuppe, mittags 1 Liter
Gemüsesuppe und abends 400g Brot und sogenannte „Produkte“,
abwechselnd Butter, Marmelade und Zucker. Erst mit der Zeit kriegten
wir mit, dass das eben doch nicht reichte.“2
Die Erfahrung des
Ungenügens am alltäglich Erhaltenen zeigt sich in vielen
Lebenssituationen. Kempowski schildert die Taktiken des Rationierens,
das Teilen mit anderen Häftlingen, die Wünsche nach mehr und das
Kreisen um das immer selbe Thema – Essen wollen. Der Hunger
beherrscht alle Gedanken.
„Ich hatte angenehme
Geruchshalluzinationen, schmeckte Vanillepudding mit Himbeersauce
oder, öfter noch, frische Brötchen mit Kalbsleberwurst.“3
Hoffnung und Halluzination
verschwimmen ineinander. Die Phantasie hält ihn in der
Entbehrungszeit aufrecht, die Halluzination wird im guten Sinn zur
Stärkung. Auch der Advent kann Erfahrung von Beidem sein –
hoffende Erwartung und gläubiges Ankommen. Hunger nach der Nähe
Gottes und seine Gegenwart greifen ineinander. Die Intensität dieses
Hungers variiert auch je nach den persönlichen Erfahrungen.
Die Häftlinge erhalten
nach und nach Haftverbesserungen. Manche Hoffnung, wie eine Amnestie, entpuppt sich
allerdings als Illusion:
„Kurz vor dem Fest
wischte das Arbeitskommando die Pritschen mit Desinfektionslösung
ab. Das gab ein widerwärtiges Durcheinander. Man schob sich durch
die Gänge und wusste nicht wohin. Überall Staub und Dreck.
Der Sinn dieser Aktion
war fragwürdig. Jetzt vor Weihnachten rechnete doch jedermann mit
einer Großamnestie, und zwar von bisher nicht gekanntem Ausmaß.“4
Das Großreinemachen in
einer Welt, die dazu bestimmt ist, wieder verlassen zu werden, hat
dennoch Sinn. Zumal dann, wenn Entlassung und Aufbruch sich als immer
wieder enttäuschte Hoffnung erweisen. Wenn Wartenmüssen das letzte Wort behält.
Und: es kommt darauf an,
wie gesäubert wird – das Ausmaß an Aufwirbeln alten Drecks will auch in der
adventlichen Vorbereitung auf das hohe Fest gut überlegt sein.