Der christlichen
Spiritualität (und auch mir in meiner eigenen Gottesbeziehung) kam
es lange Zeit darauf an, Gottes Stärke ins Gegenüber zu setzen zu
unserer menschlichen Schwachheit. Gott zu begegnen hieß dann in
erster Linie, demütig und schuldbewusst zu sein. Christliche
Apologetik setzte dort an, wo die Grenzen des Menschen sich auftaten
und versuchte, Menschen im Moment der Erfahrung eigener Kleinheit mit
der übermächtigen Gnade zu erreichen.
Und das ist theologisch
schließlich auch nicht grundsätzlich falsch. Gottesgnade schlägt
Menschenwerke, seien sie nun evangelisch oder katholisch.
Die eigene Bedürftigkeit
erkennen und sich persönlicher Schatten und Grenzen bewusst zu
werden, ist demzufolge auch eine vielgeliebte religiöse Übung. Zu
merken, dass etwas fehlt im Leben, kann ein gewaltiger Schritt nach
vorne sein. Vor allem ist es wohl auch ein Schritt auf Gott zu. Nicht
umsonst heißt es über die Sendung Jesu im Markusevangelium: „Nicht
die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.“ (Mk 2,17).
Mit anderen Worten: Gott ist den Menschen besonders nahe, die innere
Bedürfnisse haben, die einen Durst in sich wahrnehmen, die ihrer
Endlichkeit nicht ausweichen. Die spüren, dass noch etwas fehlt,
dass sie noch etwas brauchen.
Nudeln, Küche in Neukölln, 2012. |
Und vielleicht gilt ja
der Ausschnitt aus Bonhoeffers Gedanken in „Widerstand und
Ergebung“ heute noch viel mehr als unter den Bedingungen einer
mörderischen Diktatur:
„Wir sind aufgewachsen
in der Erfahrung unserer Eltern und Großeltern, der Mensch könne
und müssen sein Leben selbst planen, aufbauen und gestalten, es gebe
ein Lebensziel, zu dem der Mensch sich entschließen und das er dann
mit ganzer Kraft auszuführen habe und auch vermöge. Es ist aber
unsere Erfahrung geworden, dass wir nicht einmal für den kommenden
Tag zu planen vermögen, dass das Aufgebaute über Nacht zerstört
wird und unser Leben im Unterschied zu dem unserer Eltern gestaltlos
oder doch fragmentarisch geworden ist.“1
Ähnliches schrieb zur
selben Zeit Alfred Delp in seiner Haft: „[Der Mensch] erfährt sich
immer wieder an die Grenze und das Ungenügen des Kreatürlichen
verwiesen und ihm ausgeliefert. Auch das habe ich erfahren. Wie auf
einmal alles zuschanden wird und man nur noch Scherben in der Hand
hält, wo man noch an die vollen Krüge glaubte. Wie man nur ein
blutiges Wimmern und Stöhnen ist, wo man doch ein Heldenlied singen
wollte. Der Mensch allein schafft es nicht.“2
Aber schleicht sich hier
nicht manchmal allzu leicht der Selbstbetrug ein? Wird Gott hier
nicht sukzessive überflüssig gemacht? Dazu ein markanter
Gedankengang, wieder von Bonhoeffer:
„Die Religiösen
sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus
Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen - es
ist eigentlich immer der deus ex machina, den sie aufmarschieren
lassen, entweder zur Scheinlösung unlösbarer Probleme oder als
Kraft bei menschlichem Versagen, immer also in Ausnutzung
menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen; das hält
zwangsläufig immer nur solange vor, bis die Menschen aus eigener
Kraft die Grenzen etwas weiter hinausschieben und Gott als deus ex
machina überflüssig wird; das Reden von den menschlichen Grenzen
ist mir überhaupt fragwürdig geworden (ist der Tod heute, da die
Menschen ihn kaum noch fürchten und die Sünde die die Menschen kaum
noch begreifen, noch eine echte Grenze?), es scheint mir immer, wir
wollten dadurch nur ängstlich Raum aussparen für Gott; - ich möchte
von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den
Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld,
sondern im Leben du im Guten des Menschen sprechen. An den Grenzen
scheint es mir besser, zu schweigen und das Unlösbare ungelöst zu
lassen.“3
Buchstaben, Gärten der Welt, Berlin, 2012. |
Ich halte das für eine
sehr ehrliche und mutige, ja sogar radikale Theologie: Gott mitten im
Leben zur Sprache bringen, dort wo wir uns selbst als stark erleben.
Bei aller bleibenden menschlichen Begrenztheit dreht Gott den Spieß in Jesus Christus ja gerade um: „Er,
der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich
zu machen.“ (2Kor 8,9)
„Hier liegt der
entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität des
Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt,
Gott ist der Deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die
Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen.“4
Das ist die eigentliche
Übermächtigkeit Gottes – seine Schwachheit.
1 D.
Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus
der Haft. 3., erweiterte Auflage, Berlin (Ost) 1972, 324 (Gedanken
zum Tauftag von D.W.R. Bethge, Mai 1944).
2 A.
Delp, Vater unser. In: StdZ 1946, 5-15, hier: 9.
3 D.
Bonhoeffer, a.a.O., 307 (an E. Bethge, 30. April 1944).
4 D. Bonhoeffer, ebd., 394 (an E. Bethge, 16. Juli 1944).