Mittwoch, 6. November 2013

Nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte

Der christlichen Spiritualität (und auch mir in meiner eigenen Gottesbeziehung) kam es lange Zeit darauf an, Gottes Stärke ins Gegenüber zu setzen zu unserer menschlichen Schwachheit. Gott zu begegnen hieß dann in erster Linie, demütig und schuldbewusst zu sein. Christliche Apologetik setzte dort an, wo die Grenzen des Menschen sich auftaten und versuchte, Menschen im Moment der Erfahrung eigener Kleinheit mit der übermächtigen Gnade zu erreichen.

Und das ist theologisch schließlich auch nicht grundsätzlich falsch. Gottesgnade schlägt Menschenwerke, seien sie nun evangelisch oder katholisch.

Die eigene Bedürftigkeit erkennen und sich persönlicher Schatten und Grenzen bewusst zu werden, ist demzufolge auch eine vielgeliebte religiöse Übung. Zu merken, dass etwas fehlt im Leben, kann ein gewaltiger Schritt nach vorne sein. Vor allem ist es wohl auch ein Schritt auf Gott zu. Nicht umsonst heißt es über die Sendung Jesu im Markusevangelium: „Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.“ (Mk 2,17). Mit anderen Worten: Gott ist den Menschen besonders nahe, die innere Bedürfnisse haben, die einen Durst in sich wahrnehmen, die ihrer Endlichkeit nicht ausweichen. Die spüren, dass noch etwas fehlt, dass sie noch etwas brauchen. 

Nudeln, Küche in Neukölln, 2012.
Und vielleicht gilt ja der Ausschnitt aus Bonhoeffers Gedanken in „Widerstand und Ergebung“ heute noch viel mehr als unter den Bedingungen einer mörderischen Diktatur:
Wir sind aufgewachsen in der Erfahrung unserer Eltern und Großeltern, der Mensch könne und müssen sein Leben selbst planen, aufbauen und gestalten, es gebe ein Lebensziel, zu dem der Mensch sich entschließen und das er dann mit ganzer Kraft auszuführen habe und auch vermöge. Es ist aber unsere Erfahrung geworden, dass wir nicht einmal für den kommenden Tag zu planen vermögen, dass das Aufgebaute über Nacht zerstört wird und unser Leben im Unterschied zu dem unserer Eltern gestaltlos oder doch fragmentarisch geworden ist.“1
Ähnliches schrieb zur selben Zeit Alfred Delp in seiner Haft: „[Der Mensch] erfährt sich immer wieder an die Grenze und das Ungenügen des Kreatürlichen verwiesen und ihm ausgeliefert. Auch das habe ich erfahren. Wie auf einmal alles zuschanden wird und man nur noch Scherben in der Hand hält, wo man noch an die vollen Krüge glaubte. Wie man nur ein blutiges Wimmern und Stöhnen ist, wo man doch ein Heldenlied singen wollte. Der Mensch allein schafft es nicht.2

Aber schleicht sich hier nicht manchmal allzu leicht der Selbstbetrug ein? Wird Gott hier nicht sukzessive überflüssig gemacht? Dazu ein markanter Gedankengang, wieder von Bonhoeffer:
Die Religiösen sprechen von Gott, wenn menschliche Erkenntnis (manchmal schon aus Denkfaulheit) zu Ende ist oder wenn menschliche Kräfte versagen - es ist eigentlich immer der deus ex machina, den sie aufmarschieren lassen, entweder zur Scheinlösung unlösbarer Probleme oder als Kraft bei menschlichem Versagen, immer also in Ausnutzung menschlicher Schwäche bzw. an den menschlichen Grenzen; das hält zwangsläufig immer nur solange vor, bis die Menschen aus eigener Kraft die Grenzen etwas weiter hinausschieben und Gott als deus ex machina überflüssig wird; das Reden von den menschlichen Grenzen ist mir überhaupt fragwürdig geworden (ist der Tod heute, da die Menschen ihn kaum noch fürchten und die Sünde die die Menschen kaum noch begreifen, noch eine echte Grenze?), es scheint mir immer, wir wollten dadurch nur ängstlich Raum aussparen für Gott; - ich möchte von Gott nicht an den Grenzen, sondern in der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben du im Guten des Menschen sprechen. An den Grenzen scheint es mir besser, zu schweigen und das Unlösbare ungelöst zu lassen.3

Buchstaben, Gärten der Welt, Berlin, 2012.
Ich halte das für eine sehr ehrliche und mutige, ja sogar radikale Theologie: Gott mitten im Leben zur Sprache bringen, dort wo wir uns selbst als stark erleben. Bei aller bleibenden menschlichen Begrenztheit dreht Gott den Spieß in Jesus Christus ja gerade um: „Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.“ (2Kor 8,9)
Hier liegt der entscheidende Unterschied zu allen Religionen. Die Religiosität des Menschen weist ihn in seiner Not an die Macht Gottes in der Welt, Gott ist der Deus ex machina. Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann helfen.“4

Das ist die eigentliche Übermächtigkeit Gottes – seine Schwachheit.



1  D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. 3., erweiterte Auflage, Berlin (Ost) 1972, 324 (Gedanken zum Tauftag von D.W.R. Bethge, Mai 1944).
2  A. Delp, Vater unser. In: StdZ 1946, 5-15, hier: 9.
3  D. Bonhoeffer, a.a.O., 307 (an E. Bethge, 30. April 1944).
4  D. Bonhoeffer, ebd., 394 (an E. Bethge, 16. Juli 1944).