Dienstag, 19. November 2013

bekennen, sich

Manchmal reißt mich Lyrik aus den wirren Verengungen meiner alltäglichen Verrichtungen. Dazu, wird mancher mit Funktionsblick sagen, wurde sie ja auch gemacht. Augenweitend, neues Land eröffnend, zum Aufatmen.
Interessanterweise sprechen mich oft jene Dichterinnen und Dichter besonders an, die Enge und Grauen des 20. Jahrhunderts existenziell erlitten haben: Mascha Kaléko, Paul Celan, Hilde Domin, Nelly Sachs – und eben Rose Ausländer.
Themen wie Heimat und Heimatverlust, Vertrauen auf das menschliche Miteinander und die nicht vergehende Hoffnung prägen die Gedichte dieser überlebenden jüdischen weltzugewandten Frau aus Czernowitz. 
So auch dieses, das mich sehr berührt:

Bekenntnis1

Ich bekenne mich

zur Erde und ihren
gefährlichen Geheimnissen

zu Regen Schnee
Baum und Berg

zur mütterlichen mörderischen
Sonne zum Wasser und
seiner Flucht

zu Milch und Brot

zur Poesie
die das Märchen vom Menschen
spinnt

zum Menschen

bekenne ich mich
mit allen Worten
die mich erschaffen

Das meist religiös besetzte und im Sprachgebrauch weit oben schwingende Wort "Bekenntnis" für die profanen Weltdinge und den Menschen verwenden – das wendet dort existenzielles Pathos an, wo meist nur nach Funktion und Zweck gefragt wird. Das ist Affirmation, Überzeugung und Engagement. Dergestalt zu bejahen und sich damit unmissverständlich zu positionieren erfordert Mut.
Gerade dort, wo auch die mütterlich-mörderischen und flüchtig-kontingenten Seiten bekannt sind, gilt das um so mehr. Bei Sonne und Wasser ebenso wie beim Menschen. 

Eis, gebrochen. Spree, Berlin, 2012.

Der Ausdruck "Märchen vom Menschen" lässt in der Schwebe, ob es der Autorin um die illusorische-hoffend-hoffnungslose Mär geht oder um das traumhaft Schöne, das im Menschen isr. Sie bekennt sich. Menschsein haißt poetisch-worthaft und damit dem Logos verbunden – dem Wort, dem Sinn, der Rede und der Vernunft. Auch ein solches Bekenntnis zum Menschen beweist Mut, gerade angesichts des mörderisch rational-irrationalen 20. Jahrhunderts. Noch dazu, wenn es so unzweideutig und deutlich, klar und entschieden "mit allen Worten" erfolgt.
Vielleicht geht das wirklich nur im Vertrauen darauf, selbst mit Sinn "erschaffen", gewollt und ausgerichtet zu sein.


1 In: Rose Ausländer, Aschensommer. Ausgewählte Gedichte. Köln 1977, S.117.