Mittwoch, 13. November 2013

Elastisches Material

Ein Thema, das mich immer mal wieder beschäftigt: individuelle Biographien in politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen. Diesbezüglich passte meine gestrige Abendveranstaltung genau – ich war bei einem Vortrag über eines der heikelsten Kapitel der jüngeren Kirchengeschichte: die ideologisch-politische Verstrickung der Christen und Theologen in der Zeit des Nationalsozialismus. Konkret ging es im Erinnerungs- und Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" um den evangelischen Neutestamentler Walter Grundmann und das "Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben".

Hauseingänge, Siedlung "Freie Scholle", Berlin Tegel, 2013

Die evangelischen "Deutschen Christen" hatten mit dieser in Eisenach ansässigen Institution einen Ort geschaffen, an dem, ideologisch auf dem Boden des nationalsozialistischen Antisemitismus stehend, der Nachweis eines "arischen Jesus" erbracht werden sollte und eine um ihre jüdischen Wurzeln bereinigte Bibel erarbeitet wurde.
Der am schwierigsten zu ertragende Punkt bei Vortrag und Diskussion von und mit Prof. Susannah Heschel aus den USA war aber für die meisten Hörerinnen und Hörer nicht in erster Linie die an sich schon erschreckende Tatsache der Existenz dieses Instituts – diese inhaltlichen Verirrungen sind weitgehend bekannt. Nein, das Erschütterndste war der spätere Umgang der Mitarbeiter mit ihrer eigenen Vergangenheit und der Umgang der beiden deutschen Staaten mit ihnen.
Weitere Tätigkeiten in ähnlichen Funktionen – auch in der Theologenausbildung der Thüringischen Landeskirche, keine klare Distanzierung vom Antisemitismus, weitreichende Publikationsmöglichkeiten, Wiedereinsetzung als Pastoren, internationale Kontaktermöglichung seitens der DDR, in der BRD staatliche Auszeichnungen bis hin zum Bundesverdienstkreuz...
Und in all dem keine selbstkritische Aufarbeitung der Geschichte des Instituts von den Nachfolgeinstitutionen – bis die Vortragende, als erste Jüdin, erste US-Amerikanerin, fast als erste Forscherin überhaupt Anfang der Neunziger begann, die Geschichte zu erschließen und publik zu machen.

Natürlich ist es bei politisch-gesellschaftlichen Systemumbrüchen schwer, einen geeigneten Modus des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit zu finden. Die von den Besatzermächten geforderte Entnazifizierung in der Bundesrepublik und die zugleich braunen Kontinuitäten in neuem Gewand1 sprechen ebenso für sich wie die vergleichsweise scharfen Erfahrungen, die Ostdeutsche nach der Wende durch die kollektive Entwertung persönlicher Lebensleistungen machen mussten.

Ich will mich nicht zum Richter aufschwingen und kann auch die jeweiligen historischen Bewegungen nur laienhaft nachvollziehen, doch es stellen sich mir natürlich Fragen, wenn sich beispielsweise der Theologe Grundmann im krassen Gegensatz zu seiner ideologischen, auch publikatorisch nachvollziehbaren Verbohrtheit, nach dem Krieg eine widerständische Gesinnung bescheinigen lässt.
Wo ist da die existenzielle Bestürzung angesichts der eigenen Vernebelung? Welches falsche Gewissen ist hier kultiviert worden?

Hauseingang, Siedlung St. Joseph,
Berlin Tegel, 2013
Aber auch gesellschaftlich liegen hier große Herausforderungen: Wie geht eine Gesellschaft mit gestrauchelten Existenzen nach einem Systemumbruch um? Wie viel Reue der Individuen braucht der gesellschaftliche Frieden – und wie viel inhaltliches Offenlassen und wiedererlangte Reputation sind für die zuvor Benachteiligten noch erträglich?

Welche Irrwege und Schwächen erlaubt sich jemand – im Nachhinein? Die Biographie ist ein elastisches Material. Christen wissen aus der Heilsgeschichte außerdem, dass große Reue und tiefe Vergebung(sbereitschaft) auch große Liebeswerke und tiefe Hingabe(bereitschaft) wecken können – das zeigen Lebenszeugnisse von Paulus über Augustinus und Ignatius von Loyola bis Martin Niemöller.
Vergebung und Neuanfang als Grundkonstanten christlicher Weltsicht ermöglichen aus diesem kollektiven Gedächtnis heraus auch die Hinneigung zu den Gestrauchelten und Kollaborateuren, siehe zum Beispiel Zachäus und Matthäus, die beiden bekanntesten Zöllner an Jesu Weg.

Aber Selbstbetrug und Blindheit werden manchmal dort den Eindruck von Heilung erwecken, wo viel Verstrickung und Verblendung bleibt - und wenig Einsicht. Traurige Beispiele sind genügend bekannt. Auch in jeweils persönlichen Erfahrungen. 
Ich nehme die Veranstaltung jedenfalls zum Anlass, die Elastizität meines eigenen autobiographischen Rückblickens neu auf den Prüfstand zu legen.


1    Ursula Krechels Roman "Landgericht" singt davon ein beindruckendes und leidvolles Lied.