Ein Thema, das mich immer mal wieder
beschäftigt: individuelle Biographien in
politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen. Diesbezüglich passte meine
gestrige Abendveranstaltung genau – ich war bei einem Vortrag
über eines der heikelsten Kapitel der jüngeren Kirchengeschichte:
die ideologisch-politische Verstrickung der Christen und Theologen in
der Zeit des Nationalsozialismus. Konkret ging es im Erinnerungs- und
Dokumentationszentrum "Topographie des Terrors" um den evangelischen Neutestamentler Walter Grundmann und das
"Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen
Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben".
Hauseingänge, Siedlung "Freie Scholle", Berlin Tegel, 2013 |
Die evangelischen "Deutschen Christen" hatten mit dieser in Eisenach ansässigen Institution einen Ort geschaffen, an dem, ideologisch auf dem Boden des nationalsozialistischen Antisemitismus stehend, der Nachweis eines "arischen Jesus" erbracht werden sollte und eine um ihre jüdischen Wurzeln bereinigte Bibel erarbeitet wurde.
Der am schwierigsten zu ertragende Punkt bei Vortrag und Diskussion von und mit Prof. Susannah Heschel aus den USA war aber für die meisten Hörerinnen und Hörer nicht in erster Linie die an sich schon erschreckende Tatsache der Existenz dieses Instituts – diese inhaltlichen Verirrungen sind weitgehend bekannt. Nein, das Erschütterndste war der spätere Umgang der Mitarbeiter mit ihrer eigenen Vergangenheit und der Umgang der beiden deutschen Staaten mit ihnen.
Weitere Tätigkeiten in ähnlichen
Funktionen – auch in der Theologenausbildung der Thüringischen
Landeskirche, keine klare Distanzierung vom Antisemitismus,
weitreichende Publikationsmöglichkeiten, Wiedereinsetzung als
Pastoren, internationale Kontaktermöglichung seitens der DDR, in der
BRD staatliche Auszeichnungen bis hin zum Bundesverdienstkreuz...
Und in all dem keine selbstkritische
Aufarbeitung der Geschichte des Instituts von den
Nachfolgeinstitutionen – bis die Vortragende, als erste Jüdin,
erste US-Amerikanerin, fast als erste Forscherin überhaupt Anfang
der Neunziger begann, die Geschichte zu erschließen und publik zu
machen.
Natürlich ist es bei
politisch-gesellschaftlichen Systemumbrüchen schwer, einen
geeigneten Modus des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit zu finden.
Die von den Besatzermächten geforderte Entnazifizierung in der
Bundesrepublik und die zugleich braunen Kontinuitäten in neuem
Gewand1
sprechen ebenso für sich wie die vergleichsweise scharfen
Erfahrungen, die Ostdeutsche nach der Wende durch die kollektive
Entwertung persönlicher Lebensleistungen machen mussten.
Ich will mich nicht zum Richter
aufschwingen und kann auch die jeweiligen historischen Bewegungen nur
laienhaft nachvollziehen, doch es stellen sich mir natürlich Fragen,
wenn sich beispielsweise der Theologe Grundmann im krassen Gegensatz
zu seiner ideologischen, auch publikatorisch nachvollziehbaren
Verbohrtheit, nach dem Krieg eine widerständische Gesinnung
bescheinigen lässt.
Wo ist da die existenzielle Bestürzung
angesichts der eigenen Vernebelung? Welches falsche Gewissen ist hier
kultiviert worden?
Hauseingang, Siedlung St. Joseph, Berlin Tegel, 2013 |
Aber auch gesellschaftlich liegen hier
große Herausforderungen: Wie geht eine Gesellschaft mit
gestrauchelten Existenzen nach einem Systemumbruch um? Wie viel Reue
der Individuen braucht der gesellschaftliche Frieden – und wie viel
inhaltliches Offenlassen und wiedererlangte Reputation sind für die
zuvor Benachteiligten noch erträglich?
Welche Irrwege und Schwächen erlaubt
sich jemand – im Nachhinein? Die Biographie ist ein elastisches
Material. Christen wissen aus der Heilsgeschichte außerdem, dass
große Reue und tiefe Vergebung(sbereitschaft) auch große
Liebeswerke und tiefe Hingabe(bereitschaft) wecken können – das zeigen Lebenszeugnisse von
Paulus über Augustinus und Ignatius von Loyola bis Martin Niemöller.
Vergebung und Neuanfang als Grundkonstanten christlicher Weltsicht ermöglichen aus diesem kollektiven Gedächtnis heraus auch die Hinneigung
zu den Gestrauchelten und Kollaborateuren, siehe zum Beispiel Zachäus und Matthäus, die beiden
bekanntesten Zöllner an Jesu Weg.
Aber Selbstbetrug und Blindheit werden
manchmal dort den Eindruck von Heilung erwecken, wo viel
Verstrickung und Verblendung bleibt - und wenig Einsicht. Traurige Beispiele sind genügend
bekannt. Auch in jeweils persönlichen Erfahrungen.
Ich nehme die
Veranstaltung jedenfalls zum Anlass, die Elastizität meines eigenen
autobiographischen Rückblickens neu auf den Prüfstand zu legen.
1 Ursula
Krechels Roman "Landgericht" singt davon ein
beindruckendes und leidvolles Lied.