Mittwoch, 20. November 2013

"Sie haben alles gewusst, aber genutzt hat es ihnen nichts"

Der Lauf der Geschichte wirkt manchmal schon eigenartig, zumal wenn aus der Ferne darauf geschaut werden kann. Im Abgeordnetenhaus des Berliner Senats gab es gestern im Rahmen des hundertjährigen Geburtstags von Willy Brandt eine Veranstaltung mit dem Titel: "Kampagnen, Spione, geheime Kanäle. Die Stasi und Willy Brandt" mit der Vorstellung des gleichnamigen, durch die Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) herausgegebenen Buches von Daniela Münkel.
Zwei Bemerkungen zu diesem speziellen Blick zurück:

1
Äußerst interessant fand ich die durch Daniela Münkel vorgetragene Herausstellung der wechselvollen Einstellung der DDR-Regierung zu Willy Brandt. In der BRD in den 50ern von konservativer Seite als "Vaterlandsverräter" und uneheliches Kind gebrandmarkt, versuchte man in der DDR umgekehrt, ihn als "Gestapospitzel" und "Feind der Arbeiterbewegung" zu verunglimpfen. 1961 sprang die Stasi dann auf die Praxis fortgesetzter Schmähungen und Halbwahrheiten der bundesrepublikanischen Brandt-Gegner auf, wie Roland Jahn, BStU-Leiter, zur Kampagnentätigkeit des Geheimdienstes bemerkte. 
Lüftung und Wand, Festsaal des Abgeordnetenhauses,
Berlin, 2013.
Mit der neuen deutschland-politischen Positionierung Brandts (Annäherungspolitik und in der Folge Passierscheinabkommen und Ostverträge) wandelte sich die Haltung der DDR – und damit die Aufgabe der Stasi. Nun wurde offiziell die Anerkennungspolitik der Brandt-Regierung unterstützt, zugleich aber baute man weiterhin geheime Infokanäle aus. Laut Autorin Münkel bestand die größtmögliche Wirksamkeit der Stasi in der Politik der BRD im Kauf der Stimmen zweier Unionsabgeordneter, die Brandt beim Konstruktiven Mißtrauensvotum am 27.04.1972 das Vertrauen aussprachen und damit wohl entscheidend zur Verlängerung der Kanzlerschaft Brandts beitrugen. Mit der anschließenden "Guillaume-Affäre", der Entlarvung des Kanzler-Referenten als Spitzel, kam es auch für die Stasi zur Katastrophe – nicht so sehr wegen der Entdeckung eines ihrer vielversprechendsten Untergrundmannes, sondern vor allem wegen der öffentlichen Wirkung angesichts der deutsch-deutschen Annäherungsbemühungen.
Dementsprechend spielte die Stasi in der Berichterstattung an die sozialistischen Bruderstaaten die Bedeutung der Affäre herunter...
Ein für mich äußerst faszinierend-absurdes Wechselspiel der geheimdienstlichen Tätigkeiten.

2
Mehr noch hat mich aber ein Satz von Dettmar Cramer beschäftigt, der als Zeitzeuge und Journalist eingeladen war. Über seine eigene, trotz vermutlicher Teilvernichtung immer noch mehr als 7300 Seiten umfassende Stasi-Akte sagte er: "Sie haben alles gewusst, aber genutzt hat es ihnen nichts, wie man weiß."
Für den persönlichen Ausgang seiner Biographie mag das (vorläufig) richtig sein. Auch mit Blick auf Brandt sind Wissen und Aktionen der Stasi in der "Guillaume-Affäre" wohl nur ein Baustein von mehreren, die neben Amtsmüdigkeit und Gesundheitszustand Brandts, innerparteilichem Streit und weiteren zusammenkamen.
Aus weltgeschichtlicher Perspektive schließlich sind die Verlierer ebenfalls eindeutig: die Staaten des "real existierenden Sozialismus". Die Rückschau über weite (oder auch kürzere) abgeschlossene Epochen verleitet zum langen Blick, der vorrangig das Ergebnis im Blick behält: "genutzt hat es ihnen nichts".

Lampen, Festsaal des Abgeordnetenhauses, Berlin, 2013.

Die Innensicht einer Zeit, der zeitgeschichtlichen Begrenzung unterworfen, lässt die Gefahren und unabsehbaren Möglichkeiten dagegen viel stärker in den Blick treten. Gerade das macht ja auch literarische oder filmische Fiktionen über historische Ereignisse immer wieder spannend. 
Welche Angst hat die Kubakrise ausgelöst? Welche Gefahren lagen in den letzten ungewissen Tagen des Zweiten Weltkrieges noch in der Luft?Welches Leid, welche Verunsicherung und welche Ängste haben die Stasi-Tätigkeiten ausgelöst – die immer noch nachwirken?
Das bleibt in mir hängen: Aus der Geschichte heraustreten und sie unter dem Modus ihrer Abgeschlossenheit zu betrachten ist ein völlig anderes Herangehen als das Verbleiben in der Binnenperspektive, zumal in der von leidvoll Betroffenen.
Was für ein Glück für jene, die sagen können: "genutzt hat es ihnen nichts".