Der Lauf der Geschichte wirkt manchmal
schon eigenartig, zumal wenn aus der Ferne darauf geschaut werden
kann. Im Abgeordnetenhaus des Berliner Senats gab es gestern im
Rahmen des hundertjährigen Geburtstags von Willy Brandt eine
Veranstaltung mit dem Titel: "Kampagnen, Spione, geheime
Kanäle. Die Stasi und Willy Brandt" mit der Vorstellung des
gleichnamigen, durch die Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU)
herausgegebenen Buches von Daniela Münkel.
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Äußerst interessant fand ich die
durch Daniela Münkel vorgetragene Herausstellung der wechselvollen
Einstellung der DDR-Regierung zu Willy Brandt. In der BRD in den
50ern von konservativer Seite als "Vaterlandsverräter" und
uneheliches Kind gebrandmarkt, versuchte man in der DDR umgekehrt,
ihn als "Gestapospitzel" und "Feind der
Arbeiterbewegung" zu verunglimpfen. 1961 sprang die Stasi dann
auf die Praxis fortgesetzter Schmähungen und Halbwahrheiten der
bundesrepublikanischen Brandt-Gegner auf, wie Roland Jahn,
BStU-Leiter, zur Kampagnentätigkeit des Geheimdienstes bemerkte.
Lüftung und Wand, Festsaal des Abgeordnetenhauses, Berlin, 2013. |
Mit der neuen deutschland-politischen
Positionierung Brandts (Annäherungspolitik und in der Folge
Passierscheinabkommen und Ostverträge) wandelte sich die Haltung der
DDR – und damit die Aufgabe der Stasi. Nun wurde offiziell die
Anerkennungspolitik der Brandt-Regierung unterstützt, zugleich aber
baute man weiterhin geheime Infokanäle aus. Laut
Autorin Münkel bestand die größtmögliche Wirksamkeit der Stasi in
der Politik der BRD im Kauf der Stimmen zweier Unionsabgeordneter,
die Brandt beim Konstruktiven Mißtrauensvotum am 27.04.1972 das
Vertrauen aussprachen und damit wohl entscheidend zur Verlängerung
der Kanzlerschaft Brandts beitrugen. Mit der anschließenden
"Guillaume-Affäre", der Entlarvung des Kanzler-Referenten
als Spitzel, kam es auch für die Stasi zur Katastrophe – nicht so
sehr wegen der Entdeckung eines ihrer vielversprechendsten
Untergrundmannes, sondern vor allem wegen der öffentlichen Wirkung
angesichts der deutsch-deutschen Annäherungsbemühungen.
Dementsprechend spielte die Stasi in
der Berichterstattung an die sozialistischen Bruderstaaten die
Bedeutung der Affäre herunter...
Ein für mich äußerst
faszinierend-absurdes Wechselspiel der geheimdienstlichen
Tätigkeiten.
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Mehr noch hat mich aber ein Satz von
Dettmar Cramer beschäftigt, der als Zeitzeuge und Journalist
eingeladen war. Über seine eigene, trotz vermutlicher
Teilvernichtung immer noch mehr als 7300 Seiten umfassende Stasi-Akte
sagte er: "Sie
haben alles gewusst, aber genutzt hat es ihnen nichts, wie man weiß."
Für den persönlichen Ausgang seiner
Biographie mag das (vorläufig) richtig sein. Auch mit Blick auf
Brandt sind Wissen und Aktionen der Stasi in der "Guillaume-Affäre"
wohl nur ein Baustein von mehreren, die neben Amtsmüdigkeit und
Gesundheitszustand Brandts, innerparteilichem Streit und weiteren
zusammenkamen.
Aus weltgeschichtlicher Perspektive
schließlich sind die Verlierer ebenfalls eindeutig: die Staaten des
"real existierenden Sozialismus". Die Rückschau über
weite (oder auch kürzere) abgeschlossene Epochen verleitet zum
langen Blick, der vorrangig das Ergebnis im Blick behält: "genutzt
hat es ihnen nichts".
Lampen, Festsaal des Abgeordnetenhauses, Berlin, 2013. |
Die Innensicht einer Zeit, der
zeitgeschichtlichen Begrenzung unterworfen, lässt die Gefahren und
unabsehbaren Möglichkeiten dagegen viel stärker in den Blick treten. Gerade
das macht ja auch literarische oder filmische Fiktionen über
historische Ereignisse immer wieder spannend.
Welche Angst hat die
Kubakrise ausgelöst? Welche Gefahren lagen in den letzten ungewissen
Tagen des Zweiten Weltkrieges noch in der Luft?Welches Leid, welche Verunsicherung und
welche Ängste haben die Stasi-Tätigkeiten ausgelöst – die immer
noch nachwirken?
Das bleibt in mir hängen: Aus der
Geschichte heraustreten und sie unter dem Modus ihrer
Abgeschlossenheit zu betrachten ist ein völlig anderes Herangehen
als das Verbleiben in der Binnenperspektive, zumal in der von leidvoll Betroffenen.
Was für ein Glück für jene, die
sagen können: "genutzt hat es ihnen nichts".