"Wie die meisten anderen
Menschen wahrscheinlich auch übersprang ich die Kapitel, in denen es
um die religiösen Pflichten, die Säulen des Islam und das Fasten
ging, um direkt zu Kapitel VII zu springen: 'Warum Polygamie?'"1
Eigentlich sagt dieser Satz alles, was
die Blickrichtung und den Stil des vieldiskutierten letzten Romans
von Michel Houellebecq angeht. Neben der (mehr oder weniger) subtil
ironischen Haltung zu inhaltlichen religiösen Fragen geht es
vorrangig um Sex. Dem französischen Klischee entsprechend kommt
natürlich auch die Darstellung der Vorzüge alkoholischer Getränke
und der französischen und arabischen Küche nicht zu kurz, aber was
den Ich-Erzähler eigentlich bewegt, sind nicht metaphysische Fragen,
sondern das Herausgelangen aus der Sinnlosigkeit seines einsamen
Akademikerlebens in einer liberalen Mehrheitsgesellschaft unserer
Tage hinein in die im Roman neu sich eröffnenden sexuellen
Möglichkeiten des politisch dominierenden Islam.
Sethlik-Moschee, Kreuzberg, Berlin, 2016. |
Dahinter treten die Fragen vieler
Kommentatoren, ob es nun ein den Islam verunglimpfendes oder (bzw.
und dabei) rechtsextrem argumentierendes, oder ob es ein sexistisches
Buch sei, in dem das Patriarchat verherrlicht wird, ob es visionär
die Entwicklungen in Europa voraussieht oder eine Dystopie malt,
meiner Meinung nach zurück.
In welchen Passagen der Autor
tatsächlich ironisch sein wollte und wann er seine eigene Meinung
durch die Protagonisten äußert, ist nicht immer leicht auszumachen
und wird durch nachträgliche Interviewaussagen Houellebecqs
ebenfalls nicht erleichtert. Beispielhaft genannt sei die im Buch
mehrfach erwähnte Parallelität der Anliegen der Identitären
Bewegung mit denen der islamischen Welt, zumal wenn es um die
Unterordnung der Frauen im privaten und ihren Ausschluss von
gesellschaftlicher Beteiligung im öffentlichen Leben geht. Dass
Houellebecq ein satirisch agierender Kryptofeminist sei, kann wohl
kaum unterstellt werden. Aber die entgegengesetzte ernsthafte Neigung
zum Autoritären kann ich den teilweise bis ins Absurde
übersteigerten Szenen auch nicht entnehmen.
Ein Beispiel: Im Zug sieht er zwei
(selbstverständlich verschleierte) junge Frauen mit ihrem arabischen
Ehemann. Während die Frauen sich mit Zeitschriften amüsieren,
beschreibt er den am PC arbeitenden Mann als bemitleidenswert: Der
Geschäftsmann "machte den Eindruck, als hätte er
schwerwiegende Sorgen; nachdem er seinen Posteingang geöffnet hatte,
lud er einen Anhang hoch, der zahlreiche Excel-Tabellen enthielt; die
Durchsicht dieser Dokumente schien seine Unruhe noch zu steigern. Er
tippte eine Nummer in sein Mobiltelefon und führte mit leiser Stimme
ein langes Gespräch. ..." Die Frauen dagegen haben ihren
Spaß, so dass der Beobachter resümiert: "Im islamischen
Regime hatten Frauen – zumindest diejenigen, die hübsch genug
waren, das Begehren eines reichen Ehemanns zu wecken – die
Möglichkeit, im Grunde ihr ganzes Leben lang Kinder zu bleiben. Kurz
nachdem sie den Kindesbeinen entwachsen waren, wurden sie selbst
Mütter und tauchten wieder in das kindliche Universum ein. Wenn ihre
Kinder herangewachsen waren, wurden sie Großmütter ... Natürlich
verloren sie ihre Autonomie, aber fuck
autonomy, ich kam nicht umhin, mir einzugestehen, dass ich
ohne Probleme und sogar mit großer Erleichterung auf jede Art von
beruflicher oder geistiger Verantwortung verzichtet hatte und diesen
Geschäftsmann, der auf der anderen Seite des Gangs unseres
TGV-Pro-Première-Abteils saß, dessen Gesicht beinahe grau wurde vor
Angst, während sein Telefonat andauerte, überhaupt nicht
beneidete".2
Nun ist ein Roman kein Essay, selbst
wenn sich essayistische Reflexionen zuhauf in diesem Roman finden. Da
dürfen sich auch die Anziehungskraft, die die Polygamie für den
Protagonisten darstellt, und die Ablehnung der männlichen
Verantwortung in einer patriarchal organisierten Gesellschaft
(inklusive der scheinbaren Verteidigung von aufs Kind reduzierten
Frauen) etwas widersprechen. Und die abseitige Argumentation der
Ich-Gestalt im Zitat braucht nun wirklich keine rationalisierende
Rechtfertigung oder Widerlegung.
Davon abgesehen bietet der erste Teil
des Romans eine spannende Darstellung der satten Kultur des Westens
und ein meistenteils überzeugendes Nachvollziehen ihres
schleichenden politischen Übergangs in eine muslimisch geprägte
Lebenswirklichkeit.
Verschleierung? Grünheide, 2016. |
Spezifisch religiösen Fragen widmet sich das Buch nur
an wenigen Stellen. Kontakt mit dem Christentum entsteht einerseits durch die Faszination der
Marienstatue im Wallfahrtsort Rocamadour, deren Darstellung des
Jesuskindes auf den Armen der Gottesmutter auf Francois den "Eindruck
von spiritueller Macht und unantastbarer Kraft"3
macht. Hier wird eine mystische Offenheit angedeutet, die jedoch nur
dazu dient, die in den nächsten Szenen einsetzende Lesung von
patriotisch-nationalistischen Texten von Charles Péguy im Angesicht
der Statue zu demontieren. Die Vermischung von Nation und Religion
war ja von jeher eine gefährliche, und auch Houellebecq scheint sie
nur kritisch zu sehen.
Der Autor, auf den sich der
Literaturhistoriker Francois spezialisiert hat, ist Joris-Karl
Huysmans, der sich nach seiner Konversion in einen Drittorden
zurückzog. Auf dessen Spuren wird auch die klösterliche Welt
angedeutet: "Die Stimmen der Mönche erklangen in der
eiskalten Luft, rein, demütig und weich; sie waren voller Milde,
Hoffnung und Erwartung. Unser Herr Jesus Christus würde
wiederkehren, er würde bald wiederkehren, und die Wärme seiner
Gegenwart erfüllte schon jetzt ihre Seelen mit Freude."
Dieser scheinbar einfühlsamen Erfassung monastischer Spiritualität
folgt die zustimmend referierte zynische Einsicht Nietzsches, "dass
das Christentum im Grunde eine weibliche Religion war."4
Damit ist das Christentum für die
Hauptfigur auch fast schon abgehakt, bevor es gegen Schluss des
Romans noch seine endgültige Abreibung bekommt: "... ich
interessierte mich mehr für Elohim, den erhabenen Schöpfergott des
Universums, als für seinen blassen Sprössling. Jesus hatte die
Menschen zu sehr geliebt, das war das Problem; sich für sie
kreuzigen zu lassen, zeugte mindestens von schlechtem
Geschmack ... Auch seine übrigen Taten deuteten nicht
gerade auf besonders große Besonnenheit hin, das belegt die
Vergebung für die ehebrecherische Frau mit Argumenten wie 'Wer von
euch ohne Sünde ist' usw. Das dürfte nicht besonders schwer gewesen
sein, man hätte nur irgendein siebenjähriges Kind herbeirufen
müssen, das hätte ihn schon geworfen, den ersten Stein, das
verdammte Gör."5
Immerhin, ist diesen Gedanken zugute zu
halten, begegnet Christentum nicht nur in Gestalt der heutigen Kirche
oder seiner historisch mehr oder weniger wichtigen Zeugnisse, sondern
auch in Referenz auf seinen Gründer. Und dass manche kitschigen oder
verklärenden Jesusbilder oder ihre naiven Auslegungen kritisch
hinterfragt werden müssen, versteht sich von selbst.
Die christliche Liebe der Hingabe steht
eben in hartem Kontrast zu dem Ideal, das im Roman vorgestellt wird
und das (hier finden sich die Fäden wieder) zugleich eine sexuelle
und eine religiöse Seite hat. Houellebecq lässt nämlich den
religiösen Protegé seiner Hauptfigur, den bekehrten Identitären
Robert Rediger, sagen:
"Es ist die Unterwerfung. ...
Der nie zuvor mit dieser Kraft zum Ausdruck gebrachte grandiose und
zugleich einfache Gedanke, dass der Gipfel des menschlichen Glücks
in der absoluten Unterwerfung besteht."6
Sobald dies als Ziel muslimischer
Religion und sexuellen Glücks angesehen wird, kann in der Logik des
Romans nur noch die der liberalen Freiheitsidee entsagende Konversion
des atheistischen Francois folgen. In diesem Sinne wäre der Roman am
ehesten eine Entlarvung des opportunistischen Hedonismus in der
Postmoderne.
Überreste abendländischer Kultur? KdF-Bauten in Prora, Rügen, 2016. |
1 M.
Houellebecq, Unterwerfung. Köln 2015, 241.
2 Ebd.,
200ff.
3 Ebd.,
145.
4 Ebd.,
194.195.
5 Ebd.,
245f.
6 Ebd.,
234.