Freitag, 12. Februar 2016

"Was hab ich denn verbrochen?" – Berlinale-Empfehlung "Auf einmal" von Asli Özge

Die Berlinale ist seit gestern eröffnet und es scheinen wieder eine Menge sehenswerter Filme im Programm zu sein. Heute habe ich "Auf einmal" ("All of a sudden") von Asli Özge gesehen, der eindeutig zu den besten Filmen der letzten Monate gehört.
Der Titel deutet es an – "auf einmal" ist alles anders, eine kleine Begebenheit bringt plötzlich eine große Geschichte in Gang und wirbelt viele Leben durcheinander.

Berlinale-Vorhang von 2015.
Es beginnt mit der Annäherung von Karsten und Anne nach einer Party. Sie flirten ohne einander zu kennen – als Anna scheinbar grundlos und völlig unerwartet stirbt. Nun beginnt für Karsten eine Reise der Unsicherheit und Angst. Die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin Laura, das Verhältnis zu seinen Eltern, seine Freundschaften, sein Job in einer Bank, alles wird im Verauf des Filmes einer ungeheuren Belastungsprobe ausgesetzt. Die Ereignisse spülen Karstens vorheriges gutsituiertes und wohlgeordnetes Leben von einem Tag auf den anderen fort.

Die Frage, die im Hintergrund des Filmes permanent mitschwingt, stellt er auf dem Höhepunkt seiner Krise, nach dem Verhandlungsbeginn vor Gericht, selbst:
"Was hab ich denn verbrochen, dass ich so bestraft werde?"

Tatsächlich kann die Frage, was denn nun Schuld sei und was eigentlich das ist, das Karsten falsch gemacht haben soll, als Schlüsselfrage des Films angesehen werden.
Hätte er schneller Hilfe holen können? Muss der Flirt als Seitensprung gewertet werden? Verheimlicht Karsten seinen Freunden etwas? Servieren diese ihn einfach kalt ab? Treibt den Vater bei seinen Hilfsangeboten nur die Angst vor eigenem Reputationsverlust?
Ein emotionaler Tornado aus Misstrauen, Unterstellung, Verlust, Lüge, Angriff und Gegenangriff, Herabwürdigung und Zorn droht jede Beziehung und auch die materielle Basis von Karstens Leben zu zerstören.

So weit, so bekannt auch aus anderen Filmen mit dem Motiv der tragischen Verzahnung einzelner Umstände zu einer Katastrophe; hier freilich besonders fein beobachtet und gut durchkomponiert in stimmungsstarke Bilder gesetzt.

An diesem Punkt aber gewinnt der Film eine neue Qualität durch eine Peripetie nach klassischem Muster: Auf dem besagten Höhepunkt der Krise flüchtet Karsten in die Berge. Dort steht er während seines persönlichen Tiefpunkts auf einem Berggipfel zwischen einer deutschen Flagge und einem Gipfelkreuz. Dergestalt symbolisch bedrängt durch staatliche und göttliche Gerechtigkeit reckt er sich auf und schleudert der Welt seine Verachtung entgegen.
Lebensblase, bereit zum Aufstich.
Berlinale am Potsdamer Platz, Berlin, 2016.
Kurz darauf erreicht ihn die Nachricht über die Einstellung des Strafprozesses gegen ihn. Nun erfährt die Geschichte des Filmes ihre bitterste Wendung – sobald Karsten sich vor dem Recht als schuldlos empfindet, beginnt er, Schuld auf sich zu laden. 

Ohne dem Film seine Pointen zu nehmen, kann gesagt werden: Im Versuch, die Ordnung seines Lebens wieder herzustellen und einen Ausgleich für das in Form der Anschuldigungen erfahrene Unrecht zu erlangen, dreht Karsten sich aus der Rolle des Beschuldigten heraus und nimmt sein Leben wieder in die Hand.
Doch auf diese Weise beginnt seine eigentliche Schuld an der Stelle, wo er sich selbst nicht mehr in der Schuld sieht.

Was das bedeutet und auf welches furiose Ende der Film zusteuert, will ich hier nicht verraten.
Darum nur mein Fazit: Mit dieser Schwungmasse entfaltet der Film eine wuchtige Dynamik und wird zur eindrücklichen Parabel über Schuld und Unschuld.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen