Die Berlinale ist seit gestern eröffnet
und es scheinen wieder eine Menge sehenswerter Filme im Programm zu
sein. Heute habe ich "Auf einmal" ("All of a sudden") von Asli Özge
gesehen, der eindeutig zu den besten Filmen der letzten Monate gehört.
Der Titel deutet es an – "auf
einmal" ist alles anders, eine kleine Begebenheit bringt
plötzlich eine große Geschichte in Gang und wirbelt viele Leben
durcheinander.
Berlinale-Vorhang von 2015. |
Es beginnt mit der Annäherung von
Karsten und Anne nach einer Party. Sie flirten ohne einander zu
kennen – als Anna scheinbar grundlos und völlig unerwartet stirbt.
Nun beginnt für Karsten eine Reise der Unsicherheit und Angst. Die
Beziehung zu seiner Lebensgefährtin Laura, das Verhältnis zu seinen
Eltern, seine Freundschaften, sein Job in einer Bank, alles wird im
Verauf des Filmes einer ungeheuren Belastungsprobe ausgesetzt. Die
Ereignisse spülen Karstens vorheriges gutsituiertes und
wohlgeordnetes Leben von einem Tag auf den anderen fort.
Die Frage, die im Hintergrund des
Filmes permanent mitschwingt, stellt er auf dem Höhepunkt seiner
Krise, nach dem Verhandlungsbeginn vor Gericht, selbst:
"Was hab ich denn verbrochen, dass
ich so bestraft werde?"
Tatsächlich kann die Frage, was denn
nun Schuld sei und was eigentlich das ist, das Karsten falsch gemacht
haben soll, als Schlüsselfrage des Films angesehen werden.
Hätte er schneller Hilfe holen können?
Muss der Flirt als Seitensprung gewertet werden? Verheimlicht Karsten
seinen Freunden etwas? Servieren diese ihn einfach kalt ab? Treibt
den Vater bei seinen Hilfsangeboten nur die Angst vor eigenem
Reputationsverlust?
Ein emotionaler Tornado aus Misstrauen,
Unterstellung, Verlust, Lüge, Angriff und Gegenangriff,
Herabwürdigung und Zorn droht jede Beziehung und auch die materielle
Basis von Karstens Leben zu zerstören.
So weit, so bekannt auch aus anderen
Filmen mit dem Motiv der tragischen Verzahnung einzelner Umstände zu
einer Katastrophe; hier freilich besonders fein beobachtet und gut
durchkomponiert in stimmungsstarke Bilder gesetzt.
An diesem Punkt aber gewinnt der Film
eine neue Qualität durch eine Peripetie nach klassischem Muster: Auf
dem besagten Höhepunkt der Krise flüchtet Karsten in die Berge.
Dort steht er während seines persönlichen Tiefpunkts auf einem
Berggipfel zwischen einer deutschen Flagge und einem Gipfelkreuz.
Dergestalt symbolisch bedrängt durch staatliche und göttliche
Gerechtigkeit reckt er sich auf und schleudert der Welt seine
Verachtung entgegen.
Lebensblase, bereit zum Aufstich. Berlinale am Potsdamer Platz, Berlin, 2016. |
Kurz darauf
erreicht ihn die Nachricht über die Einstellung des Strafprozesses
gegen ihn. Nun erfährt die Geschichte des Filmes
ihre bitterste Wendung – sobald Karsten sich vor dem Recht
als schuldlos empfindet, beginnt er, Schuld auf sich zu laden.
Ohne dem Film seine Pointen zu nehmen,
kann gesagt werden: Im Versuch, die Ordnung seines Lebens wieder
herzustellen und einen Ausgleich für das in Form der Anschuldigungen
erfahrene Unrecht zu erlangen, dreht Karsten sich aus der Rolle des
Beschuldigten heraus und nimmt sein Leben wieder in die Hand.
Doch auf diese Weise beginnt seine eigentliche Schuld an der Stelle,
wo er sich selbst nicht mehr in der Schuld sieht.
Darum nur mein Fazit: Mit dieser Schwungmasse entfaltet der Film eine wuchtige Dynamik und wird zur eindrücklichen Parabel über Schuld und Unschuld.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen