Freitag, 26. Februar 2016

Zeit für Frühling - Ein Gedicht von Avraham Ben Yitzhak

Der galizische Jude Avraham Ben Yitzhak scheint ein aufmerksamer Mensch gewesen zu sein; die Stimmung, die ihn umgab, und die Sprache, die ihn die Stimmung formulieren ließ, leuchten aus seinem Gedicht, das er 1912 in Przemyśl, an der heutigen Ostgrenze Polens zur Ukraine gelegen, schrieb.

Blick über den Peetzsee, Brandenburg, 2016.
Über den Büchern saß ich
ein Einziger, horchend auf ihre Weise
und es erhoben sich meines Herzens Kräfte
fern meinem Leben, verstoßen, bin ich.
Und als die Frühe aufflammte und blau war
im Wachsen des Lichts am ersten Frühlingstag
Licht, staunend in Leere und Weite der Welt
und hatte meine Kerze ausgelöscht.
Es entfernten sich die Dinge des Hauses um mich
in sanfte Finsternis, als der Tag kam
meine Hände verblassten
blutverlassen schwer auf dem Tisch
im taghellen Licht im taghellen Licht.
Und da – ein Vogelschrei erschreckte mich
Vogelschrei Vogelschrei.
Was ist die Welt was ist die Welt
die Welt ist vergessen und leer
vor der Ankunft des Frühlings
vor der Ankunft des Frühlings.1


Ich selbst sitze nicht nächtelang studierend und lese weniger als ich will – doch das paradoxe Erhoben- und zugleich Verlassensein beim Eintauchen in eine Lektüre ist mir wohlbekannt. Und das innere Zurückkehren in die eigenen nüchternen vier Wände in neuem Licht – da ist etwas wie das Harren auf neu aufbrechendes Leben.
Im Winterlichen unserer letzten Februartage lässt sich ahnen, wie der Frühling schmecken kann. Ohne ihn bliebe die Welt ewig fraglich, in der Schwebe, harrend.

Es wird Zeit, dass Leben einkehrt in unsere Blutverlassenheit; Zeit, dass Leben ausbricht aus dem Dämmer.
Zeit, dass das Licht eintritt mit dem Weckruf, einen neuen Tag zu beginnen.


1   Avraham Ben Yitzhak, Es entfernten sich die Dinge. Gedichte und Fragmente. München / Wien 1994, 36.