Mittwoch, 17. Februar 2016

Der Gekreuzigte 1 – Jesu Tod und Judas' Glaube in "Judas" von Amos Oz

Eine im letzten Jahr immer wieder genannte Darstellung der Kreuzigung und des Gekreuzigten ist im Buch "Judas" von Amos Oz zu finden.
Die Haupthandlung erzählt von Schmuel, der eine Abhandlung über Judas und seine Rolle in jüdischen Schriften verfassen will und sich nach dem Verrat seiner großen Liebe im Haus eines alten Mannes als Konversationspartner verdingt. Dabei gerät er in das komplexe Beziehungsspiel zwischen der ebenfalls im Hause wohnenden Atalja, ihren verstorbenen Mann und den Alten. Vielschichtiges Fragen nach Treue und Verrat durchziehen dementsprechend den Roman.
Das kann in einschlägigen Rezensionen nachverfolgt werden.

An dieser Stelle soll es allein um den Gekreuzigten gehen und die Weise, wie er in den Gedanken von Schmuel und Judas dargestellt wird. Dazu ist wichtig zu wissen, dass Oz den Judas als entscheidenden Strippenzieher im Hintergrund gezeichnet hat:

Wunderliches in der Höhe.
Hochschulgebäude, München, 2015.
"In Jerusalem, nach dem letzten Mahl, im Garten Gethsemane, betete Jesus zu Gott: 'Ist es möglich, so nimm diesen Kelch von mir.' Aber Judas ermutigte und stärkte ihn: Einem Menschen, der über das Wasser geschritten ist, der Wasser in Wein verwandelt, Aussätzige geheilt, Teufel ausgetrieben und Tote zum Leben erweckt hat, wird es doch nicht unmöglich sein, vom Kreuz zu steigen und dadurch die ganze Welt dazu zu bringen, seine Göttlichkeit anzuerkennen. Und weil Jesus nicht aufhörte, nachzudenken und zu zweifeln, übernahm es Judas Ischariot, die Kreuzigung zu organisieren."1

Diese lakonische Note taucht auch in anderen Passagen des Romans wieder auf. Die Deutung des Judas als eines besonders gläubigen Jüngers, der den finalen Machterweis seines Messias erzwingen will, ist zwar nicht neu, wird aber, vermittelt durch die Erwägungen des Protagonisten Schmuel, konsequent fortgesponnen und psychologisch gut vermittelt. Die dahinterstehende Christologie ist folgerichtig keine christliche, wie sich auch in der eben zitierten Passage andeutet.
Judas sieht sich als "der Erfinder, der Impresario, der Regisseur und der Produzent des Schauspiels der Kreuzigung." Jesus dagegen zweifelt noch in seinen letzten Minuten: "Bin ich wirklich der richtige Mensch?" Derjenige, der wirklich glaubt, ist Judas, "der einzige Christ."2

Dass dieser eigenwillige Stil nicht endgültig ins Groteske kippt, ist das Verdienst der hart und klar gestalteten Kreuzigungsszene am Ende des Buches, die in ihrem Realismus eine äußerst herausfordernde Lektüre ist.
Der Autor wirft ein gewaltiges Panorama auf: Zum einen Schmerzen, Verzweiflung, Hitze und Verlassenheit – menschliches Leiden in allen Schattierungen. Zum anderen verschiedenste Reaktionen auf dieses Leid – Gleichgültigkeit, Mitleid, Neugier, Schadenfreude, Angst und Verzweiflung.

"Neun Stunden hatte der Gekreuzigte nicht aufgehört zu schreien und zu stöhnen. Je länger sein Todeskampf gedauert hatte, umso lauter hatte er geweint und verzweifelt vor Schmerzen geschrien, wieder und wieder hatte er nach seiner Mutter gerufen, mit dünner, gebrochener Stimme, einer Stimme, die wie das Weinen eines Säuglings klang, der tödlich verletzt allein auf einem Feld zurückgelassen worden war, dem Verdursten ausgesetzt, um den Rest seines Blutes unter der glühenden Sonne zu vergießen. Es waren verzweifelte Schreie, die leiser und lauter wurden, und wieder lauter und leiser, Schreie, die einem das Herz erstarren ließen, Mutter, Mutter, dann kam ein qualvolles, gebrochenes Stöhnen und noch einmal Mutter. Und wieder durchdringende Schreie und danach ein dünnes anhaltendes Jammern, dünner und immer dünner, verzweifelte Klagelaute. [...]
Hängende Qual. Kleinbrembach, 2015.
Eine schwarze Wolke gieriger Fliegen umschwirrte die drei Gekreuzigten und klebte an ihrer Haut und stillte ihren Hunger am Blut, das aus den Nagelwunden floss. [...]
In den Mittagsstunden ergoss sich die Hitze wie flüssiges Blei über die Erde, die Gekreuzigten und die Zuschauermenge. Der niedrige Himmel war von Staub bedeckt, und hatte eine Farbe zwischen Braun und Grau. Der Platz war voller Menschen, Schulter an Schulter standen sie, Hüfte an Hüfte. Die Versammelten unterhielten sich miteinander, und manchmal erhoben sie ihre Stimmen und diskutierten laut mit anderen, die weiter von ihnen entfernt standen. Es gab unter ihnen welche, die Mitleid mit den Gekreuzigten hatten, manche auch nur mit einem oder zweien, andere zeigten offene Schadenfreude. Die Verwandten und Freunde der Sterbenden standen in kleinen Gruppen zusammen, stützten einer den anderen, umarmten sich, klagten und hofften doch auf ein Wunder. Da und dort trugen unter den Zuschauenden Straßenhändler Tabletts herum und boten laut Kuchen und Getränke an, getrocknete Feigen, Datteln, Obstsäfte. Neugierige drängten sich gewaltsam nach vorn, um die Gekreuzigten aus der Nähe zu begaffen und um die Todesschreie und Seufzer zu hören, um aus geringer Entfernung die verzerrten Gesichter zu sehen, die Augen, die ihnen fast aus den Höhlen traten, die blutenden Wunden, die blutgetränkten Tücher. Manche verglichen die verschiedenen Gekreuzigten. Im Gegensatz zu ihnen bahnten sich andere mit Ellenbogen den Weg nach hinten, weil sie genug gesehen hatten und es eilig hatten, nach Hause zu kommen, um das Fest vorzubereiten."3

Es folgen viele weitere Einzeldarstellungen von Gruppen, die lagern und essen, die verhöhnen, die warten. Fast wirkt die Beschreibung von Oz wie die Zusammenstellung eines ignatianischen Schauplatzes zu Beginn einer Gebetszeit, wenn eine betende Person den Ort der Kreuzigung vorstellt und sich selbst einen Platz sucht. Beim Lesen des Romans könnte sich jemand ertappt oder einfach nur zutreffend beschrieben fühlen.

Schließlich wieder der Blick aufs Kreuz:
"Während all dieser glühend heißen Stunden, während das Blut aus seinen Wunden lief, hatte der mittlere Gekreuzigte nach seiner Mutter gerufen. Vielleicht sahen seine brechenden Augen die schwarz gekleidete Frau am Fuß seines Kreuzes, die zwischen den klagenden Frauen stand und mit den Augen die seinen suchten. Aber vielleicht hatten sich seine Augen schon geschlossen, vielleicht blickte er nach innen und konnte sie nicht sehen, nicht sie, nicht die anderen Frauen, nicht die Menge. Kein einziges Mal in all diesen Stunden hatte er nach seinem Vater gerufen. Nur immer wieder Mutter, Mutter. Stundenlang hatte er nach ihr gerufen. Erst in der neunten Stunde, in seinen letzten Minuten, mit dem letzten Atemzug, schrie er plötzlich nach seinem Vater. Aber auch seinem letzten Moment nannte er ihn nicht Vater, sondern er rief: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Judas wusste, dass mit diesen Worten ihrer beider Leben ein Ende gefunden hatte."4

So folgt auf die Beschreibung des physischen Todeskampfes Jesu die Beschreibung des psychischen Todeskampfes Judas'. Während an der Jesusfigur nur von außen beobachtet werden kann, was sie bewegt, liefert Oz von Judas ein konkretes Innenbild. Aus dem "Regisseur" der Kreuzigung wird nun der Schuldige an der Kreuzigung. In einem inneren Monolog stellt Judas sich noch einmal die Zweifel Jesu an seiner Sendung vor Augen, die er stetig zu zerstreuen suchte. Seine Reue zeigt ihn als gläubig Handelnden, der nun die moralische Verantwortung für Jesu Tod auf sich nimmt.
Die Reue und die Scham gipfeln paradoxerweise in seinem Glaubensbekenntnis:
Weg zur Sonne. Kunitz, Jena, 2015.
"Ich habe ihn von ganzem Herzen geliebt und an ihn geglaubt. Es war nicht nur die Liebe eines älteren Bruders zum jüngeren, besseren, nicht nur die Liebe eines älteren, erfahreneren Mannes zu einem angenehmen Jüngling und nicht nur die Liebe eines Schülers zu seinem großen Lehrer, der jünger ist als er, und sogar nicht nur die Liebe eines Gläubigen an einen Wundertäter. Nein. Ich liebte ihn als Gott. Und eigentlich liebte ich ihn viel mehr, als ich Gott liebte. Eigentlich hatte ich Gott schon seit meiner Jugend nicht mehr geliebt. Ich war sogar vor ihm zurückgewichen. Ein eifersüchtiger Gott und Rächer, zornig, der die Missetaten der Väter an ihren Kindern bestraft, ein harter Gott, böse, verbittert, der Blut vergießt, kleinlich. Während der Sohn in meinen Augen ein Liebender und ein Erbarmender und Verzeihender und Barmherziger war, und wenn er wollte, auch scharfsinnig, warmherzig und sogar fröhlich. Er rückte in meinem Herzen an die Stelle Gottes. Ich glaubte, der Tod könnte ihm nichts anhaben. Ich war überzeugt, dass sich heute in Jerusalem das größte Wunder von allen ereignen würde. Das letzte Wunder, nach dem es auf der Welt keinen Tod mehr geben würde. Das Wunder, nach dem kein einziges Wunder mehr nötig wäre. Das Wunder, das das himmlische Königreich bringen würde, sodass es auf der Welt nur noch Liebe gäbe."5

Nichts davon ist eingetreten. Als kritische Botschaft von Amos Oz dahinter lese ich: Die Liebe des Judas machte Jesus zu Gott. So wie er werden Gläubige schuldig am Blut ihrer selbstgebastelten Erlöser.
Doch, auch wenn es vielerorts unter Christen existieren mag, das hinter den Aussagen des Judas stehende Gottesbild ist kein christliches. Die Verzweiflung an einem übermächtig zornigen Vatergott wäre nur folgerichtig – wenn es einen solchen denn gäbe.
Eine solche Verkettung von gläubiger Hassliebe, Import eigener Ideen in andere Menschen und ilusionäre Wundergläubigkeit hält der Realität nicht stand – der Tod existiert weiter und liebevolle Menschen müssen ihn sterben.

Aus christlicher Überzeugung lassen sich der Glaube an den Vater und der Glaube an Jesus den Christus nicht auseinander dividieren. Leider hat gerade das Kreuzigungsgeschehen und seine Deutung als Bußzahlung an den Vatergott dies immer wieder bewirkt.

Doch zustimmen kann ich der implizit revidierten Einsicht des Judas: Religiöse Liebe rechtfertigt nicht das Sterbenlassen Anderer oder gar das Überantworten in den Tod.
Liebe wächst durch Liebe, nicht durch den Tod. Und "das größte Wunder von allen" – ist ebenfalls die Liebe.


1   A. Oz, Judas. 6. Aufl. Berlin 2015, 168.
2   Ebd., 169.170.
3   Ebd., 286f.
4   Ebd., 289f.
5   Ebd., 295.