Eine im letzten Jahr immer wieder
genannte Darstellung der Kreuzigung und des Gekreuzigten ist im Buch
"Judas" von Amos Oz zu finden.
Die Haupthandlung erzählt von Schmuel,
der eine Abhandlung über Judas und seine Rolle in jüdischen
Schriften verfassen will und sich nach dem Verrat seiner großen
Liebe im Haus eines alten Mannes als Konversationspartner verdingt.
Dabei gerät er in das komplexe Beziehungsspiel zwischen der
ebenfalls im Hause wohnenden Atalja, ihren verstorbenen Mann und den
Alten. Vielschichtiges Fragen nach Treue und Verrat durchziehen
dementsprechend den Roman.
Das kann in einschlägigen Rezensionen
nachverfolgt werden.
An dieser Stelle soll es allein um den
Gekreuzigten gehen und die Weise, wie er in den Gedanken von Schmuel
und Judas dargestellt wird. Dazu ist wichtig zu wissen, dass Oz den
Judas als entscheidenden Strippenzieher im Hintergrund gezeichnet
hat:
Wunderliches in der Höhe. Hochschulgebäude, München, 2015. |
"In Jerusalem, nach dem letzten
Mahl, im Garten Gethsemane, betete Jesus zu Gott: 'Ist es möglich,
so nimm diesen Kelch von mir.' Aber Judas ermutigte und stärkte ihn:
Einem Menschen, der über das Wasser geschritten ist, der Wasser in
Wein verwandelt, Aussätzige geheilt, Teufel ausgetrieben und Tote
zum Leben erweckt hat, wird es doch nicht unmöglich sein, vom Kreuz
zu steigen und dadurch die ganze Welt dazu zu bringen, seine
Göttlichkeit anzuerkennen. Und weil Jesus nicht aufhörte,
nachzudenken und zu zweifeln, übernahm es Judas Ischariot, die
Kreuzigung zu organisieren."1
Diese lakonische Note taucht auch in
anderen Passagen des Romans wieder auf. Die Deutung des Judas als
eines besonders gläubigen Jüngers, der den finalen Machterweis
seines Messias erzwingen will, ist zwar nicht neu, wird aber,
vermittelt durch die Erwägungen des Protagonisten Schmuel,
konsequent fortgesponnen und psychologisch gut vermittelt. Die
dahinterstehende Christologie ist folgerichtig keine christliche, wie
sich auch in der eben zitierten Passage andeutet.
Judas sieht sich als "der
Erfinder, der Impresario, der Regisseur und der Produzent des
Schauspiels der Kreuzigung." Jesus dagegen zweifelt noch in
seinen letzten Minuten: "Bin ich wirklich der richtige
Mensch?" Derjenige, der wirklich glaubt, ist Judas, "der
einzige Christ."2
Dass dieser eigenwillige Stil nicht
endgültig ins Groteske kippt, ist das Verdienst der hart und klar
gestalteten Kreuzigungsszene am Ende des Buches, die in ihrem
Realismus eine äußerst herausfordernde Lektüre ist.
Der Autor wirft ein gewaltiges Panorama
auf: Zum einen Schmerzen, Verzweiflung, Hitze und Verlassenheit –
menschliches Leiden in allen Schattierungen. Zum anderen
verschiedenste Reaktionen auf dieses Leid – Gleichgültigkeit,
Mitleid, Neugier, Schadenfreude, Angst und Verzweiflung.
"Neun Stunden hatte der
Gekreuzigte nicht aufgehört zu schreien und zu stöhnen. Je länger
sein Todeskampf gedauert hatte, umso lauter hatte er geweint und
verzweifelt vor Schmerzen geschrien, wieder und wieder hatte er nach
seiner Mutter gerufen, mit dünner, gebrochener Stimme, einer Stimme,
die wie das Weinen eines Säuglings klang, der tödlich verletzt
allein auf einem Feld zurückgelassen worden war, dem Verdursten
ausgesetzt, um den Rest seines Blutes unter der glühenden Sonne zu
vergießen. Es waren verzweifelte Schreie, die leiser und lauter
wurden, und wieder lauter und leiser, Schreie, die einem das Herz
erstarren ließen, Mutter, Mutter, dann kam ein qualvolles,
gebrochenes Stöhnen und noch einmal Mutter. Und wieder
durchdringende Schreie und danach ein dünnes anhaltendes Jammern,
dünner und immer dünner, verzweifelte Klagelaute. [...]
Hängende Qual. Kleinbrembach, 2015. |
Eine schwarze Wolke
gieriger Fliegen umschwirrte die drei Gekreuzigten und klebte an
ihrer Haut und stillte ihren Hunger am Blut, das aus den Nagelwunden
floss. [...]
In den Mittagsstunden
ergoss sich die Hitze wie flüssiges Blei über die Erde, die
Gekreuzigten und die Zuschauermenge. Der niedrige Himmel war von
Staub bedeckt, und hatte eine Farbe zwischen Braun und Grau. Der
Platz war voller Menschen, Schulter an Schulter standen sie, Hüfte
an Hüfte. Die Versammelten unterhielten sich miteinander, und
manchmal erhoben sie ihre Stimmen und diskutierten laut mit anderen,
die weiter von ihnen entfernt standen. Es gab unter ihnen welche, die
Mitleid mit den Gekreuzigten hatten, manche auch nur mit einem oder
zweien, andere zeigten offene Schadenfreude. Die Verwandten und
Freunde der Sterbenden standen in kleinen Gruppen zusammen, stützten
einer den anderen, umarmten sich, klagten und hofften doch auf ein
Wunder. Da und dort trugen unter den Zuschauenden Straßenhändler
Tabletts herum und boten laut Kuchen und Getränke an, getrocknete
Feigen, Datteln, Obstsäfte. Neugierige drängten sich gewaltsam nach
vorn, um die Gekreuzigten aus der Nähe zu begaffen und um die
Todesschreie und Seufzer zu hören, um aus geringer Entfernung die
verzerrten Gesichter zu sehen, die Augen, die ihnen fast aus den
Höhlen traten, die blutenden Wunden, die blutgetränkten Tücher.
Manche verglichen die verschiedenen Gekreuzigten. Im Gegensatz zu
ihnen bahnten sich andere mit Ellenbogen den Weg nach hinten, weil
sie genug gesehen hatten und es eilig hatten, nach Hause zu kommen,
um das Fest vorzubereiten."3
Es folgen viele weitere
Einzeldarstellungen von Gruppen, die lagern und essen, die verhöhnen,
die warten. Fast wirkt die Beschreibung von Oz wie die
Zusammenstellung eines ignatianischen Schauplatzes zu Beginn einer
Gebetszeit, wenn eine betende Person den Ort der Kreuzigung vorstellt
und sich selbst einen Platz sucht. Beim Lesen des Romans könnte sich
jemand ertappt oder einfach nur zutreffend beschrieben fühlen.
Schließlich wieder der
Blick aufs Kreuz:
"Während all dieser
glühend heißen Stunden, während das Blut aus seinen Wunden lief,
hatte der mittlere Gekreuzigte nach seiner Mutter gerufen. Vielleicht
sahen seine brechenden Augen die schwarz gekleidete Frau am Fuß
seines Kreuzes, die zwischen den klagenden Frauen stand und mit den
Augen die seinen suchten. Aber vielleicht hatten sich seine Augen
schon geschlossen, vielleicht blickte er nach innen und konnte sie
nicht sehen, nicht sie, nicht die anderen Frauen, nicht die Menge.
Kein einziges Mal in all diesen Stunden hatte er nach seinem Vater
gerufen. Nur immer wieder Mutter, Mutter. Stundenlang hatte er nach
ihr gerufen. Erst in der neunten Stunde, in seinen letzten Minuten,
mit dem letzten Atemzug, schrie er plötzlich nach seinem Vater. Aber
auch seinem letzten Moment nannte er ihn nicht Vater, sondern er
rief: Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Judas wusste,
dass mit diesen Worten ihrer beider Leben ein Ende gefunden hatte."4
So folgt auf die
Beschreibung des physischen Todeskampfes Jesu die Beschreibung des
psychischen Todeskampfes Judas'. Während an der Jesusfigur nur von
außen beobachtet werden kann, was sie bewegt, liefert Oz von Judas
ein konkretes Innenbild. Aus dem "Regisseur" der
Kreuzigung wird nun der Schuldige an der Kreuzigung. In einem inneren
Monolog stellt Judas sich noch einmal die Zweifel Jesu an seiner
Sendung vor Augen, die er stetig zu zerstreuen suchte. Seine Reue
zeigt ihn als gläubig Handelnden, der nun die moralische
Verantwortung für Jesu Tod auf sich nimmt.
Die Reue und die Scham gipfeln paradoxerweise in seinem
Glaubensbekenntnis:
Weg zur Sonne. Kunitz, Jena, 2015. |
"Ich habe ihn von
ganzem Herzen geliebt und an ihn geglaubt. Es war nicht nur die Liebe
eines älteren Bruders zum jüngeren, besseren, nicht nur die Liebe
eines älteren, erfahreneren Mannes zu einem angenehmen Jüngling und
nicht nur die Liebe eines Schülers zu seinem großen Lehrer, der
jünger ist als er, und sogar nicht nur die Liebe eines Gläubigen an
einen Wundertäter. Nein. Ich liebte ihn als Gott. Und eigentlich
liebte ich ihn viel mehr, als ich Gott liebte. Eigentlich hatte ich
Gott schon seit meiner Jugend nicht mehr geliebt. Ich war sogar vor
ihm zurückgewichen. Ein eifersüchtiger Gott und Rächer, zornig,
der die Missetaten der Väter an ihren Kindern bestraft, ein harter
Gott, böse, verbittert, der Blut vergießt, kleinlich. Während der
Sohn in meinen Augen ein Liebender und ein Erbarmender und
Verzeihender und Barmherziger war, und wenn er wollte, auch
scharfsinnig, warmherzig und sogar fröhlich. Er rückte in meinem
Herzen an die Stelle Gottes. Ich glaubte, der Tod könnte ihm nichts
anhaben. Ich war überzeugt, dass sich heute in Jerusalem das größte
Wunder von allen ereignen würde. Das letzte Wunder, nach dem es auf
der Welt keinen Tod mehr geben würde. Das Wunder, nach dem kein
einziges Wunder mehr nötig wäre. Das Wunder, das das himmlische
Königreich bringen würde, sodass es auf der Welt nur noch Liebe
gäbe."5
Nichts davon ist eingetreten. Als kritische Botschaft von
Amos Oz dahinter lese ich: Die Liebe des Judas machte Jesus zu Gott.
So wie er werden Gläubige schuldig am Blut ihrer selbstgebastelten
Erlöser.
Doch, auch wenn es
vielerorts unter Christen existieren mag, das hinter den Aussagen des
Judas stehende Gottesbild ist kein christliches. Die Verzweiflung an
einem übermächtig zornigen Vatergott wäre nur folgerichtig –
wenn es einen solchen denn gäbe.
Eine solche Verkettung von
gläubiger Hassliebe, Import eigener Ideen in andere Menschen und
ilusionäre Wundergläubigkeit hält der Realität nicht stand – der Tod
existiert weiter und liebevolle Menschen müssen ihn sterben.
Aus christlicher Überzeugung
lassen sich der Glaube an den Vater und der Glaube an Jesus den
Christus nicht auseinander dividieren. Leider hat gerade das
Kreuzigungsgeschehen und seine Deutung als Bußzahlung an den
Vatergott dies immer wieder bewirkt.
Doch zustimmen kann ich der
implizit revidierten Einsicht des Judas: Religiöse Liebe
rechtfertigt nicht das Sterbenlassen Anderer oder gar das
Überantworten in den Tod.
Liebe wächst durch Liebe,
nicht durch den Tod. Und "das größte Wunder von allen"
– ist ebenfalls die Liebe.
1 A.
Oz, Judas. 6. Aufl. Berlin 2015, 168.
2 Ebd.,
169.170.
3 Ebd.,
286f.
4 Ebd.,
289f.
5 Ebd.,
295.