Sonntag, 14. Februar 2016

Gekreuzigt – Der Kreuzestod als Basis christlichen Erlösungsglaubens

In dieser Fastenzeit möchte ich mit Hilfe verschiedener Texte, Bilder und Filme auf den Gekreuzigten schauen. In unserer Kulturgeschichte ist das Leiden und Sterben Jesu in verschiedenen Facetten nämlich immer wieder präsent – oder in Andeutungen und Anspielungen wenigstens zu ahnen.

Über lange Jahrhunderte war der ans Kreuz geschlagene Jesus Christus der Prototyp des Leidenden, an dem sich den Gläubigen trotz dieses Leidens zeigte, dass Leiden und Sterben vor Gott nicht sinnlos ist. Zu allen Zeiten vertrauten Menschen darauf, dass Jesu Leiden nicht nur passives Er-leiden, sondern eine stellvertretende Tat ist, die die Kraft hat, unser jeweils persönliches Leiden aufzunehmen und zu transformieren.

Das theologische Denken dahinter ist äußerst komplex und vielfach neu gedeutet worden. Ich versuche als Einstieg für mich wie folgt zu summieren.

Pinakothek der Moderne. München, 2015.
Als Mensch erleidet Jesus alles, was Menschen einander antun können. Mit Gewalt, Hass, Verrat, Verleumdung, Neid und Mord treffen ihn die Mächte der menschlichen Sünde, die er seinerseits nicht abweist, sondern annimmt und übernimmt. Er reagiert angesichts der Todesstrafe nicht zornig oder verbittert, sondern bleibt der Liebe treu, der er sein Leben verschrieben hatte, er sündigt selbst nicht, sondern hält die ihn treffende Sünde in Liebe aus. 
Der springende und entscheidende Punkt bei ihm ist im Gegenzug zu allen anderen Leidenden ist, dass er die Sünde, die ihn verletzt und zu Tode bringt, in seinem Tod mitsterben lässt. Das ist die Überwindung der Sünde durch sein Sterben.

So etwas aber kann kein Mensch aus sich heraus vollbringen, es ist eine Tat Gottes. Denn jeder Mensch hat genug zu tun mit seiner eigenen Schuldgeschichte, an der er genug zu tun hätte. Hier zeigt sich, dass zum Verständnis des erlösenden Leidens die dahinterstehende Glaubensüberzeugung nötig ist, dass Jesus der sündlose Christus ist, in dem Gottheit und Menschheit zusammenkommen.
Jesu Sterben ist darum zugleich Gottes barmherzige Hinwendung zu uns Menschen.

Denn, um oft gehörten Missverständnissen gleich zu entgegnen: Im Leben und Sterben Jesu wendet sich Gott schon liebevoll den Menschen zu, es ist nicht erst Jesu Sterben, das einen zornigen Gott besänftigen müsste. Vielmehr ist es ein Sterben, in dem ein exemplarischer Mensch Gott trotz allen Leidens vertrauensvoll zugewandt bleibt und sich damit stellvertretend für alle leidenden Menschen auf Gott ausrichtet – und zugleich ist es in diesem Sterben Gott selbst, der die menschlichen Sünden leibhaftig aushält, liebevoll auf sich nimmt und so sterben lässt.
Überwindung von Sünde und den Tod geschieht also durch die Liebe und nicht, wie manchmal behauptet, durch extraordinär schmerzhaftes Leiden.

Jesus steht damit doppelt auf beiden Seiten: einmal als Gott und als Mensch, das habe ich gerade nachzuzeichnen versucht.
Aber er steht auch auf der Opfer- und der Täterseite. Wie eben angedeutet, fällt er an der Seite aller Leidenden mit seinem freiwilligen Tod einerseits der Sünde und den Sündern zum Opfer, andererseits ist er als ganzer Mensch auch ganz auf seiten derer, die sündigen.

Pinakothek der Moderne. München, 2015.
Hier kommt das Prinzip der Stellvertretung ins Spiel: Für Menschen, die sündigen, gibt es biblisch die Möglichkeit der Sühnezahlung. Nach dem Prinzip der Gleichwertigkeit der Wiedergutmachung für eine Sünde müsste für einen Tod ein gleichwertiger Tod stehen, wie es das Talionsprinzip, "Leben um leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn" (Ex 21,23) formuliert.

Doch es gibt noch eine andere Möglichkeit: nicht sie selbst müssen zwangsläufig in gleicher Weise für den Schaden einstehen, sondern es ist möglich, eine Sühne zu leisten. Beispielhaft führt dies das Buch Exodus aus, wenn es von einem Rind schreibt, das einen Menschen so stößt, dass dieser stirbt. Hier kann der Eigentümer nichts dafür und geht straffrei aus. Allerdings gibt es auch die Möglichkeit der Mitschuld:
"Hat das Rind aber schon früher gestoßen und hat der Eigentümer, obwohl man ihn darauf aufmerksam gemacht hat, auf das Tier nicht aufgepasst, sodass es einen Mann oder eine Frau getötet hat, dann soll man das Rind steinigen und auch sein Eigentümer soll getötet werden. Will man ihm aber eine Sühne auferlegen, soll er als Lösegeld für sein Leben so viel geben, wie man von ihm fordert." (Ex 21,29f)
Klaus Mertes bemerkt in seinem Buch "Sein Leben hingeben" hierzu: "Die Sühnezahlung macht Ermessensspielräume und Nuancen im Versöhnungsprozess möglich. Sie ermöglicht es dem Opfer oder dem Gericht, großzügig zu sein."1

Jesus bietet sich, im Bild gesprochen, als Sühnezahlung für alle Sünden der Menschen an, da Gottes Spielraumerweiterung nicht verlangt, dass der Sünder selbst zur Gänze für seine Schuld einstehen muss. Dazu ist zu bemerken, dass Jesus kein Masochist ist, sondern zulässt, dass ihm das geschieht, was eigentlich andere treffen müsste. Auch hier wieder: Liebe versöhnt, nicht Leiden an sich.
Auf der Seite der Sünder zu stehen bedeutet für Jesus also, für sie einzustehen und auch für sie (und nicht nur für die Leidenden, die auf irgendeine Weise auch immer Sünder sind) mitzuleiden.

An dieser Stelle ist das, was in der theologischen Tradition "Opfer" heißt, im Sinne von "Hingabe" des Lebens sicher besser wiedergegeben. Diese Hingabe versöhnt, indem leidende Menschen sich daran als vergebungsbereites Vorbild und Zukunft verheißende Perspektive aufrichten können und indem Sünder darauf zählen können, dass sie ihre Gerechtmachung nicht selbst leisten müssen, sondern sich nur gläubig dem anvertrauen brauchen, der sich für sie hingegeben hat.

Pinakothek der Moderne. München, 2015.
Andere biblische Traditionen weisen in gleicher Intention auf Jesus als das unschuldig geschlachtete Lamm hin (vgl. Off 5,6 mit Verweis auf Ex 12) oder auf den symbolischen Sündenbockritus, bei dem einem Bock am Versöhnungstag die Hände des Hohenpriesters aufgelegt werden. Dieser bekennt dann "alle Sünden der Israeliten, alle ihre Frevel und alle ihre Fehler [...]. Nachdem er sie so auf den Kopf des Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste treiben lassen und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen." (Lev 16,21f)
Auf Jesus hin gedeutet wurde dies, dass er als der, der (wie der Bock) ursprünglich nichts mit den Sünden der Menschen zu tun hat, diese trotzdem "in die Wüste" des Todes trägt, so dass die Menschen nun ohne Sünde sind.

Angemerkt sei, dass angesichts dieser Deutungen die vielfach geäußerte Frage nicht mehr besteht, ob Gott einen solchen Tod seines Sohnes (oder irgendeines anderen Menschen) wollte oder brauchte oder ob er anders hätte retten können oder durch Sühnenotwendigkeit gezwungen war oder dergleichen Monstrositäten mehr. Gott liebt die Menschen so sehr, dass er ihre Freiheit ernst nimmt und deshalb zugleich die Sünden und die Wunden, die die Sünde schlägt, nicht übergeht.
Der Versöhnungsprozess zwischen Mensch und Gott fußt auf der Liebe Gottes, durch die Menschen sich wieder Gott zuwenden können. Der Mensch als Täter wird dazu einbezogen: "Der Täter steht nicht als Nichts vor seinem Opfer – wenn er auch anfangs von sich aus nichts tun kann. .... Die sühnelose Verzeihung entspricht im Rahmen eines Versöhnungsprozesses kaum dem Bedürfnis des Täters, selbst etwas zu tun." Doch der "Täter steht vor dem Opfer mit leeren Händen wie der Sünder vor Gott. Die Initiative zur Versöhnung geht vom Opfer aus, nicht vom Täter. Das ist die eine Seite. Die andere Seite aber ist, dass der Täter im Versöhnungsprozess aufgerichtet wird, damit schließlich wieder eine Begegnung auf Augenhöhe möglich wird."2

Ähnlich im Verhältnis zu Gott – Gott will den reuigen Menschen aufrichten und ihm die Möglichkeit geben, etwas als Sühne zu tun. Dies kann er, indem er sich an die Liebe hält, die er erfährt und am Gekreuzigten sieht. Jesu Sühnetod war in diesem Sinne nicht notwendig für Gott, aber (wie ausgeführt) ein angemessenes Zeichen der göttlichen Liebe, und insofern den Menschen "notwendig". Darum wieder: Bei all dem geht es um die erlösend-dienende Liebe Gottes (und nicht in erster Linie um das Leiden Jesu), die die Menschen rettet. Unsere Liebe soll dies spiegeln, denn daran sollen andere Menschen Christen erkennen können (vgl Joh 13,35).

Zu all dem wäre im Einzelnen noch viel zu fragen und zu sagen. Ich möchte es einstweilen dabei belassen, einzelne Aspekte kommen sukzessive hinzu und werden ausgedeutet.
Zur Vertiefung des eben Gesagten will ich noch jene Worte aus dem Buch Jesaja anführen, die seit ältester Zeit auf Jesu Sterben hin gedeutet werden. So versichert sich christliche Theologie ihrer alttestamentlichen Grundlagen, denn das Lied vom leidenden Gottesknecht führt vieles vom vorher Erwähnten zusammen und bildet die altjüdischen Fundamente der christlichen Überzeugung vom stellvertretenden Sühnetod Jesu:

Pinakothek der Moderne. München, 2015.
"Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch ... Er hatte keine schöne und edle Gestalt, so dass wir ihn anschauen mochten. ... Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut ... Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich genommen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen ... Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. ... Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf ... Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat. Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen Knecht, er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. ... Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein."

(Ausschnitte aus: Jes 52,14-53,12)

Die Autoren, Künstler, Filmemacher der heutigen Zeit nehmen diese Motive, Theologeme oder Glaubensüberzeugungen auf, transformieren sie, distanzieren sich (partiell) und prägen sie neu, so dass sie möglicherweise auch Nichtgläubigen etwas sagen können.
Die rettende Kraft Gottes allerdings, sozusagen die österliche Auflösung der Leidens- und Passionsgeschichte, bleibt dabei oft verborgen. Damit löst sich der Gekreuzigte vom gläubigen Hintergrund der biblischen Schriften und wird zum hoffnungslos leidenden Menschen ohne Zukunft.
Doch bisweilen scheint da auch mehr als das zu sein. Wir werden sehen.


1   K. Mertes, Sein Leben hingeben. Suizid, Martyrium und der Tod Jesu. Würzburg 2010, 45.
2
   Ebd., 47.