In dieser Fastenzeit möchte ich mit
Hilfe verschiedener Texte, Bilder und Filme auf den Gekreuzigten
schauen. In unserer Kulturgeschichte ist das Leiden und Sterben Jesu
in verschiedenen Facetten nämlich immer wieder präsent – oder in
Andeutungen und Anspielungen wenigstens zu ahnen.
Über lange Jahrhunderte war der ans
Kreuz geschlagene Jesus Christus der Prototyp des Leidenden, an dem
sich den Gläubigen trotz dieses Leidens zeigte, dass Leiden und
Sterben vor Gott nicht sinnlos ist. Zu allen Zeiten vertrauten
Menschen darauf, dass Jesu Leiden nicht nur passives Er-leiden,
sondern eine stellvertretende Tat ist, die die Kraft hat,
unser jeweils persönliches Leiden aufzunehmen und zu transformieren.
Das theologische Denken dahinter ist
äußerst komplex und vielfach neu gedeutet worden. Ich versuche als Einstieg für
mich wie folgt zu summieren.
Pinakothek der Moderne. München, 2015. |
Als Mensch erleidet Jesus alles, was
Menschen einander antun können. Mit Gewalt, Hass, Verrat, Verleumdung, Neid und Mord treffen
ihn die Mächte der menschlichen Sünde, die er seinerseits nicht
abweist, sondern annimmt und übernimmt. Er reagiert angesichts der
Todesstrafe nicht zornig oder verbittert, sondern bleibt der Liebe
treu, der er sein Leben verschrieben hatte, er sündigt selbst nicht,
sondern hält die ihn treffende Sünde in Liebe aus.
Der springende
und entscheidende Punkt bei ihm ist im Gegenzug zu allen anderen
Leidenden ist, dass er die Sünde, die ihn verletzt und zu Tode
bringt, in seinem Tod mitsterben lässt. Das ist die Überwindung der Sünde
durch sein Sterben.
So etwas aber kann kein Mensch aus sich
heraus vollbringen, es ist eine Tat Gottes. Denn jeder Mensch hat
genug zu tun mit seiner eigenen Schuldgeschichte, an der er genug zu
tun hätte. Hier zeigt sich, dass zum Verständnis des erlösenden
Leidens die dahinterstehende Glaubensüberzeugung nötig ist, dass
Jesus der sündlose Christus ist, in dem Gottheit und Menschheit
zusammenkommen.
Jesu Sterben ist darum zugleich Gottes
barmherzige Hinwendung zu uns Menschen.
Denn, um oft gehörten
Missverständnissen gleich zu entgegnen: Im Leben und Sterben Jesu
wendet sich Gott schon liebevoll den Menschen zu, es ist nicht erst
Jesu Sterben, das einen zornigen Gott besänftigen müsste. Vielmehr
ist es ein Sterben, in dem ein exemplarischer Mensch Gott trotz allen
Leidens vertrauensvoll zugewandt bleibt und sich damit
stellvertretend für alle leidenden Menschen auf Gott ausrichtet –
und zugleich ist es in diesem Sterben Gott selbst, der die
menschlichen Sünden leibhaftig aushält, liebevoll auf sich nimmt
und so sterben lässt.
Überwindung von Sünde und den Tod
geschieht also durch die Liebe und nicht, wie manchmal behauptet,
durch extraordinär schmerzhaftes Leiden.
Jesus steht damit doppelt auf beiden
Seiten: einmal als Gott und als Mensch, das habe ich gerade
nachzuzeichnen versucht.
Aber er steht auch auf der Opfer- und
der Täterseite. Wie eben angedeutet, fällt er an der Seite aller
Leidenden mit seinem freiwilligen Tod einerseits der Sünde und den
Sündern zum Opfer, andererseits ist er als ganzer Mensch auch ganz
auf seiten derer, die sündigen.
Pinakothek der Moderne. München, 2015. |
Hier kommt das Prinzip der
Stellvertretung ins Spiel: Für Menschen, die sündigen, gibt es
biblisch die Möglichkeit der Sühnezahlung. Nach dem Prinzip der
Gleichwertigkeit der Wiedergutmachung für eine Sünde müsste für
einen Tod ein gleichwertiger Tod stehen, wie es das Talionsprinzip,
"Leben um leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn" (Ex
21,23) formuliert.
Doch es gibt noch eine andere
Möglichkeit: nicht sie selbst müssen zwangsläufig in gleicher
Weise für den Schaden einstehen, sondern es ist möglich, eine Sühne
zu leisten. Beispielhaft führt dies das Buch Exodus aus, wenn es von
einem Rind schreibt, das einen Menschen so stößt, dass dieser
stirbt. Hier kann der Eigentümer nichts dafür und geht straffrei
aus. Allerdings gibt es auch die Möglichkeit der Mitschuld:
"Hat
das Rind aber schon früher gestoßen und hat der Eigentümer, obwohl
man ihn darauf aufmerksam gemacht hat, auf das Tier nicht aufgepasst,
sodass es einen Mann oder eine Frau getötet hat, dann soll man das
Rind steinigen und auch sein Eigentümer soll getötet werden. Will
man ihm aber eine Sühne auferlegen, soll er als Lösegeld für sein
Leben so viel geben, wie man von ihm fordert." (Ex 21,29f)
Klaus Mertes bemerkt in seinem Buch
"Sein Leben hingeben" hierzu: "Die Sühnezahlung
macht Ermessensspielräume und Nuancen im Versöhnungsprozess
möglich. Sie ermöglicht es dem Opfer oder dem Gericht, großzügig
zu sein."1
Jesus bietet sich, im Bild gesprochen,
als Sühnezahlung für alle Sünden der Menschen an, da Gottes
Spielraumerweiterung nicht verlangt, dass der Sünder selbst zur
Gänze für seine Schuld einstehen muss. Dazu ist zu bemerken, dass
Jesus kein Masochist ist, sondern zulässt, dass ihm das geschieht,
was eigentlich andere treffen müsste. Auch hier wieder: Liebe
versöhnt, nicht Leiden an sich.
Auf der Seite der Sünder zu stehen
bedeutet für Jesus also, für sie einzustehen und auch für sie (und
nicht nur für die Leidenden, die auf irgendeine Weise auch immer
Sünder sind) mitzuleiden.
An dieser Stelle ist das, was in der
theologischen Tradition "Opfer" heißt, im Sinne von
"Hingabe" des Lebens sicher besser wiedergegeben. Diese
Hingabe versöhnt, indem leidende Menschen sich daran als
vergebungsbereites Vorbild und Zukunft verheißende Perspektive
aufrichten können und indem Sünder darauf zählen können, dass sie
ihre Gerechtmachung nicht selbst leisten müssen, sondern sich nur
gläubig dem anvertrauen brauchen, der sich für sie hingegeben hat.
Pinakothek der Moderne. München, 2015. |
Andere
biblische Traditionen weisen in gleicher Intention auf Jesus als das
unschuldig geschlachtete Lamm hin (vgl. Off 5,6 mit Verweis auf Ex
12) oder auf den symbolischen Sündenbockritus, bei dem einem Bock am
Versöhnungstag die Hände des Hohenpriesters aufgelegt werden.
Dieser bekennt dann "alle Sünden der Israeliten, alle ihre
Frevel und alle ihre Fehler [...]. Nachdem er sie so auf den Kopf des
Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in
die Wüste treiben lassen und der Bock soll alle ihre Sünden mit
sich in die Einöde tragen." (Lev 16,21f)
Auf Jesus hin gedeutet wurde dies, dass
er als der, der (wie der Bock) ursprünglich nichts mit den Sünden
der Menschen zu tun hat, diese trotzdem "in die Wüste" des
Todes trägt, so dass die Menschen nun ohne Sünde sind.
Angemerkt sei, dass angesichts dieser
Deutungen die vielfach geäußerte Frage nicht mehr besteht, ob Gott
einen solchen Tod seines Sohnes (oder irgendeines anderen Menschen)
wollte oder brauchte oder ob er anders hätte retten können oder
durch Sühnenotwendigkeit gezwungen war oder dergleichen
Monstrositäten mehr. Gott liebt die Menschen so sehr, dass er ihre
Freiheit ernst nimmt und deshalb zugleich die Sünden und die Wunden,
die die Sünde schlägt, nicht übergeht.
Der Versöhnungsprozess zwischen Mensch
und Gott fußt auf der Liebe Gottes, durch die Menschen sich wieder
Gott zuwenden können. Der Mensch als Täter wird dazu einbezogen:
"Der Täter steht nicht als Nichts vor seinem Opfer – wenn
er auch anfangs von sich aus nichts tun
kann. .... Die sühnelose Verzeihung entspricht im Rahmen eines
Versöhnungsprozesses kaum dem Bedürfnis des Täters, selbst etwas
zu tun." Doch der "Täter steht vor dem Opfer mit
leeren Händen wie der Sünder vor Gott. Die Initiative zur
Versöhnung geht vom Opfer aus, nicht vom Täter. Das ist die eine
Seite. Die andere Seite aber ist, dass der Täter im
Versöhnungsprozess aufgerichtet wird, damit schließlich wieder eine
Begegnung auf Augenhöhe möglich wird."2
Ähnlich im Verhältnis zu Gott –
Gott will den reuigen Menschen aufrichten und ihm die Möglichkeit
geben, etwas als Sühne zu tun. Dies kann er, indem er sich an die
Liebe hält, die er erfährt und am Gekreuzigten sieht. Jesu Sühnetod war in diesem Sinne nicht notwendig für Gott, aber (wie ausgeführt) ein angemessenes Zeichen der göttlichen Liebe, und insofern den Menschen "notwendig". Darum wieder: Bei all dem geht es um
die erlösend-dienende Liebe Gottes (und nicht in erster Linie um das Leiden
Jesu), die die Menschen rettet. Unsere Liebe soll dies spiegeln,
denn daran sollen andere Menschen Christen erkennen können (vgl Joh
13,35).
Zu all dem wäre im Einzelnen noch viel
zu fragen und zu sagen. Ich möchte es einstweilen dabei belassen,
einzelne Aspekte kommen sukzessive hinzu und werden ausgedeutet.
Zur Vertiefung des eben Gesagten will
ich noch jene Worte aus dem Buch Jesaja anführen, die seit ältester
Zeit auf Jesu Sterben hin gedeutet werden. So versichert sich
christliche Theologie ihrer alttestamentlichen Grundlagen, denn das
Lied vom leidenden Gottesknecht führt vieles vom vorher Erwähnten
zusammen und bildet die altjüdischen Fundamente der christlichen
Überzeugung vom stellvertretenden Sühnetod Jesu:
Pinakothek der Moderne. München, 2015. |
"Viele haben sich über ihn
entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch ... Er
hatte keine schöne und edle Gestalt, so dass wir ihn anschauen
mochten. ... Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein
Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut ... Aber er hat unsere
Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich genommen. Wir
meinten, er sei von Gott geschlagen ... Doch er wurde durchbohrt
wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem
Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. ...
Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund
nicht auf ... Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den
Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat. Doch
der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen Knecht, er rettete
den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. ... Denn er trug die
Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein."
(Ausschnitte aus: Jes 52,14-53,12)
Die Autoren, Künstler, Filmemacher der
heutigen Zeit nehmen diese Motive, Theologeme oder
Glaubensüberzeugungen auf, transformieren sie, distanzieren sich
(partiell) und prägen sie neu, so dass sie möglicherweise auch
Nichtgläubigen etwas sagen können.
Die rettende Kraft Gottes allerdings,
sozusagen die österliche Auflösung der Leidens- und
Passionsgeschichte, bleibt dabei oft verborgen. Damit löst sich der
Gekreuzigte vom gläubigen Hintergrund der biblischen Schriften und
wird zum hoffnungslos leidenden Menschen ohne Zukunft.
Doch bisweilen scheint da auch mehr als
das zu sein. Wir werden sehen.