Der Autor des „Kleinen Prinzen“ war
ein frommer Mann. In vielen seiner Werke setzte sich der Pilot und
Schriftsteller mit christlichen Motiven auseinander, auch sein
meistzitierter Satz vom Herzen, das allein einen guten Blick hat,
kann als Verfremdung und Weiterführung eines Bibelwortes über
Gottes Blick (vgl. 1Sam 16,7) gelesen werden.
Hier jedoch soll es um Gedanken zum
Gekreuzigten gehen, Gedanken die mit Themen wie Stellvertretung,
Hingabe, Liebe und Leiden mal mehr, mal weniger explizit im Werk
auftauchen – und auch der Blick des Herzens wird nicht zu kurz
kommen.
1
Zunächst ein Ausschnitt aus
„Südkurier“, dem tragisch endenden Liebes- und Pilotenroman, in
dem Saint-Exupéry seine erste Novelle von 1926 umarbeitete und 1929
neu als Roman arrangierte.
Der Flieger Jacques Bernis verfolgt in
Notre-Dame gerade die Predigt eines seltsam mit sich ringenden und
mit der Person Christi mehr und mehr sich identifizierenden
Predigers:
Bestrahltes. Alt-Buchhorst, 2016. |
„'O wüßtet ihr, wüßtet ihr,
wieviel an Liebe...' Er unterbrach sich und schöpfte Atem: die
Gefühle, die ihn bestürmten, waren zu reich, um ihn den rechten
Ausdruck finden zu lassen. Er begriff, dass auch die einfachsten, die
abgebrauchtesten Worte ihm jetzt allzu sinnbeschwert erschienen und
daß er sie nicht mehr von den anderen Worten scheiden konnte, von
denen, die den richtigen Klang hatten. … Er raffte sich steil
empor, die Hände noch immer aufgestützt, die Stirn hoch erhoben.
Und als seine Haltung sich weiter entspannte, ging eine Bewegung
durch die Menge, wie ein Wellenschlag.
Nun strömten ihm die Worte zu, und
er sprach. Sprach mit überraschender Sicherheit. … Gedanken flogen
ihm zu, die sich außerhalb seiner selbst schon formten, während er
einen Satz zu Ende sprach, als wären sie eine Bürde, die man ihm
reichte. Und im voraus fühlte er in seinem Geist das dunkle
Aufsteigen des Bildes, in das er alsbald den geformten Gedanken legen
würde …
'Ich bin die Quelle allen Lebens.
Ich bin die Flut, die in euch eindringt, um euch zu erwecken, und die
wieder zurückfließt. Ich bin das Leid, das in euch eingeht, um eure
Herzen zu zerreißen, und das wieder zurückströmt. Ich bin die
Liebe, die in eure Herzen einzieht, und die in alle Ewigkeit währt.
…
Ihr Gefangenen, versteht mich doch!
Ich mache euch frei von eurer Wissenschaft, von eurem Formelkram, von
euren Gesetzen, von der Sklaverei des Geistes, vom Determinismus, der
härter ist als das blinde Schicksal. Ich bin die verwundbarste
Stelle an eurer Rüstung: ich bin das Leben.
Ihr habt den Gang der Gestirne bis
ins letzte erforscht, als eine Generation von Helden des
Laboratoriums, aber ihr kennt das Gestirn nicht mehr. Es ist nur noch
ein Kapitel in euren Büchern, aber es ist für euch nicht mehr ein
Licht, denn ihr wißt weniger von ihm als ein kleines Kind. Ihr habt
alles entdeckt, bis zu den Gesetzen, die das Lieben des Menschen
beherrschen, aber dieses Lieben selbst können alle eure Zeichen
nicht einfangen: ihr wißt davon weniger als jedes junge Mädchen!
Nun denn, so kommt zu mir! Diesen milden Glanz des Lichts, dieses
Licht der Liebe, ich gebe es euch wieder. …
Kommt zu mir alle, denen die Tat,
die zu nichts führt, bitter geworden ist.
Kommt zu mir, ihr alle, denen der
Gedanke, der nur zu Gesetzen führt, bitter geworden ist.'
Der Prediger spannte die Arme aus:
'Denn ich bin es, der
euch aufnimmt. Ich habe die Sünden der Welt auf mich genommen. Ich
habe ihr Leid getragen. Ich habe eure Schmerzen getragen, die
Schmerzen von Tieren, die ihre Jungen verlieren müssen, habe eure
unheilbaren Krankheiten auf mich genommen, und ihr habt die
Erleichterung gefühlt. …
Ich bin, der die Bürden
der Welt auf sich nimmt. …
Ihr werdet die Kinder
sein, die bei mir spielen. Kommt zu mir, mit all den vergeblichen
Bemühungen, die euren Alltag erschöpfen: ich werde ihnen einen Sinn
geben, daß sie eure Herzen neu aufbauen, ich werde ihnen wieder
Menschlichkeit geben. …
Ich bin der einzige, der
den Menschen zu sich selbst zurückführen kann.'
Der Priester verstummte.
Erschöpft wandte er sich dem Hochaltar zu und betete zu Gott, zu dem
Gott, den er verkündet hatte. Er fühlte sich gedemütigt, als hätte
er alles gegeben, als wäre seine körperliche Ermattung ein
Gnadengeschenk.“1
Aus den Worten spricht Geist jener Zeit
zwischen den Kriegen – der Wunsch nach konkreten, unverbildeten,
authentischen Erfahrungen, der Wunsch nach der Hinwendung zum
Eigentlichen, der Wunsch nach dem wahrhaft Menschlichen.
Die Reduktion der Wirklichkeit auf
Formeln und Worte soll zurückgeführt werden zur echten, Licht
schenkenden Begegnung. Dann fließt diese innere Quelle des Lebens,
von der der Priester in den Worten des leidenden und alles Leid
übernehmenden Christus spricht, jene Quelle, die zum Leben erweckt.
2
Im Sonnenglanz. Schloß Rheinsberg, 2014. |
In „Flug nach Arras“, seinen
Erlebnissen von Kampfeinsätzen während des Zweiten Weltkrieges und
seinen philosophisch-theologischen Reflexionen darüber, wird
Saint-Exupéry noch deutlicher: "Jahrhundertelang hat meine
Kultur durch die Menschen hindurch Gott betrachtet. Der Mensch war
nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Man achtete Gott im Menschen.
Die Menschen waren Brüder in Gott. Dieser Abglanz verlieh jedem
Menschen eine unveräußerliche Würde. Die Beziehungen des Menschen
zu Gott begründeten ganz klar die Pflichten eines jeden gegenüber
sich selbst und dem Nächsten.“2
Dem gegenüber sieht er in seiner Zeit
einen Kult des Individuums, dem er sich entgegenstellen will.
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Werte der Französischen
Revolution, macht er sich zu eigen, aber er gründet sie neu in einem
metaphysisch-religiösen und sozialen Menschenbild, aus dem heraus er
für sich eine Legitimation findet, sein Leben im Flugzeug für ein
größeres Ganzes einzusetzen.
Eine paradoxe Erscheinung zunächst:
nüchterner Heroismus und vernunftgeleitete Religiösität verbinden
sich zu einer Opferbereitschaft, die mitten in diesem Krieg das große
Lied der Humanität singt:
„Ich verstehe die Bedeutung der
Pflichten der Nächstenliebe, die mir gepredigt wurden. Die
Nächstenliebe diente Gott durch das Individuum hindurch. Sie
gebührte Gott, wie gewöhnlich das Individuum auch war. Diese
Nächstenliebe erniedrigte den Emfänger nicht, band ihn auch nicht
durch die Fesseln der Dankbarkeit, da das Geschenk sich ja nicht an
ihn, sondern an Gott richtete. Die Betätigung dieser Nächstenliebe
war dagegen niemals eine Ehre, die der Gewöhnlichkeit, der Dummheit
oder der Unwissenheit erwiesen wurde. Der Arzt war es sich schuldig,
sein Leben in der Pflege des gemeinsten Pestkranken einzusetzen. Er
diente Gott. Er verlor nicht dadurch, daß er die Nacht wachend am
Lager eines Diebes verbrachte.“3
Wie schon in der eingangs zitierten
Predigt wendet sich der Autor gegen eine Denkweise, die den Menschen
um seinen eigentlichen Blick bringt. Sein Ansinnen ist es, das Ganze
der Welt, inklusive Gottes, wieder vor den Blick des Menschen zu
bringen und stellt dem die Haltung der Individuen gegenüber, die
durchaus auch im 21. Jahrhundert selbstkritisch gehört werden kann:
„Wir haben mit dem Schenken aufgehört. Wenn ich aber nur noch
mir selbst zu geben gewillt bin, empfange ich nichts; denn ich baue
nichts auf, an dem ich teilhaben will, und daher bin ich nichts.“4
Das Ziel seiner Ausführungen ist es
darum, einen geistigen Haltungswechsel zu bewirken, zunächst in sich
selbst, dann aber auch in anderen – einen Haltungswechsel, der
wieder zu Geschenk und Gabe führen kann, zu einer Haltung, die auch
bereit ist, sich selbst zur Gabe zu machen. Hier aber klingen die
Einlassungen von Saint-Exupéry nun fast messianisch, als sei sein
Pilotenschicksal ein Erlöserwerk:
Dahingegebene. Kleinbrembach, 2015. |
„Ich bin der Stärkere, weil der
Baum stärker ist als die Stoffe des Bodens. Er zieht sie an sich. Er
verwandelt sie in Baum. Der Dom ist strahlender als der Steinhaufen.
Ich bin der Stärkere, weil meine Kultur allein die verschiedenen
Eigenarten, ohne sie zu verkümmern, in ihrer Einheit
zusammenschließen vermag. Sie steigert die Quelle ihrer Kraft im
gleichen Maße, wie sie von ihr trinkt.
Beim Abflug hatte ich erst zu
empfangen und dann zu geben verlangt. Mein Verlangen war eitel. …
Du mußt geben, bevor du nimmst – und bauen, bevor du wohnst.
Ich habe die Liebe zu den Meinen
durch diese Hingabe des Blutes begründet, wie die Mutter ihre Liebe
mit dem Geschenk der Muttermilch nährt. Darin liegt das Geheimnis.
Du mußt mit dem Opfer beginnen, um die Liebe zu gründen.“5
Dies ist nun tatsächlich, christlich
gesprochen, die Perspektive Gottes, der aus seiner göttlichen Liebe
mit dem persönlichen Hingabe-Opfer beginnt, um auf diese Weise
menschliche Liebe zu säen. Saint-Exupéry lässt hier die Stelle
Gottes frei und beginnt gleich selbst und aus sich mit dem
Erlösungswerk, setzt sich damit sozusagen an Gottes Stelle.
Vielleicht war die Identifikation des Priesters mit Christus am
Anfang kein Zufall.
Das irritiert und stellt theologisch
einen Bruch dar zu dem, was er zuvor auführte über die
Herkunftskultur, aus der er nach eigenen Worten schöpft.
3
Dem wiederum möchte ich zuletzt eine
autobographische Leidensdarstellung Saint-Exupérys in „Wind, Sand
und Sterne“ beistellen, die die Erfahrung des Verdurstens
literarisch überformt in den Mittelpunkt rückt – und eine
Erlösung, die nicht durch diese Leidenserfahrung, sondern von außen
kommt.
Hintergrund ist das Erlebnis des
Absturzes mitten in der Wüste, eines Absturzes, der aus völliger
Orientierungslosigkeit in der Luft folgte und mit dem Aufprall auf
einen Hügel endete. Dem Wunder des Überlebens folgt die Qual des
Überlebens. Nach drei Tagen und Nächten zu zweit in der Wüste,
Tagen voller Halluzinationen und Hoffnungen, Nächten voller Märsche
und Verirrungen, sind die Abgestürzten am Ende. Es ist eine
Schilderung, die mich an den Gekreuzigten erinnert hat:
„Der Westwind weht, der den
Menschen in neunzehn Stunden ausdörrt. Noch ist mein Schlund offen,
aber schon hart und schmerzhaft. Ein leises Rasseln kann ich auch
schon vernehmen. Bald kommt der Husten, den man mir beschrieben hat
und auf den ich schon lange warte. Meine Zunge ist mir im Wege. Das
schlimmste aber ist, daß ich leuchtende Flecken sehe. Wenn diese zu
Flammen werden, stürze ich zusammen.
Wir gehen schnell, um die Kühle des
jungen Tages auszunutzen. Wir wissen wohl, dass wir an der hellen
Sonne nachher nicht mehr weiterkönnen. An der hellen Sonne...
Wir dürfen nicht mehr schwitzen,
wir dürfen keine Zeit verlieren. Denn selbst diese Kühle hat nur
achtzehn Prozent Luftfeuchtigkeit; der Wind mit seiner verlogenene
Liebkosung kommt aus der Wüste. Unser Blut verdunstet!
Wüstes. Ulica Prosta, Warschau, 2015. |
Ich fühle keinen Hunger, nur Durst.
Dabei hatte ich so gut wie nichts zu essen gehabt, am ersten Tag
einige Trauben, seitdem eine halbe Apfelsine und etwas Kuchen. Für
mehr Nahrung hatten wir keinen Speichel gehabt. Der Durst aber ist
allmächtig, eher noch die Folgen des Durstes: die harte Kehle, die
Zunge aus Gips, das Rasseln im Schlund und ein ekliger Geschmack im
Mund. Das sind mir neue Empfindungen, und zunächst bringe ich sie in
keine Verbindung mit dem Wasser, das sie heilen könnte. Der Durst
wird immer mehr zu einer Krankheit, und immer weniger ist er ein
natürliches Verlangen.
Schon will mir scheinen, daß der
Gedanke an Früchte und Quellen weniger herzzerreißend ist. Ich habe
schon fast vergessen, wie freundlich die Apfelsine leuchtete. Ich
habe alle Sehnsucht vergessen. Ich vergesse vielleicht alles. …
Jetzt müssen wir schon alle
zweihundert Meter rasten. Aber wir wollen weiter, zumindest bis zu
den Büschen. Die sollten die letzte Grenze sein, machten wir aus. …
Gestern träumte ich von
paradiesischen Apfelsinenwäldern, heute kenne ich kein Paradies
mehr. Ich glaube nicht mehr an Apfelsinen.
Nichts mehr fühle ich in mir als
Dürre des Herzens. Ich werde fallen und keine Verzweiflung spüren,
nicht einmal Kummer. Das kränkt mich, denn die Fähigkeit, Kummer zu
fühlen, wäre mir eine Wohltat wie Wasser. Ich bemitleide mich und
bedaure mich wie ein Freund. Aber ich habe keinen Freund mehr auf der
Welt. …
Ich bin schon eins mit der Wüste.
Ich bringe keinen Speichel mehr hervor und auch keine Bilder, nach
denen ich mich sehnen könnte. Die Sonne hat den Quell der Tränen
ausgetrocknet.“6
An diesem tiefsten Punkt der
Verzweiflung, geistig schon im Tode und ohne jede Zukunft – finden sie
Spuren und entdecken nach einer Weile in der Ferne einen Beduinen.
Doch die Kräfte reichen nicht mehr, um zu rennen oder zu schreien
und der Mann bemerkt sie nicht.
„... der Beduine schaut immer nach
rechts.
Jetzt aber, ganz langsam, macht er
eine Viertelwendung links. Sobald er das Gesicht uns zugewendet hat,
ist es auch schon geschehen: Durst, Tod und Luftspiegelungen sind
verwischt in dem Augenblick, in dem er uns erblickt. Eine kleine
Viertelwendung verwandelt unsere Welt. Eine Bewegung des Körpers,
ein rascher Blick schafft Leben, und er scheint mir nicht von dieser
Welt.
Ein Wunder! Ein Wunder! Er kommt auf
uns zu wie ein Gott über das Meer!
Er hat uns ins Gesicht gesehen, hat
uns die Hände auf die Schultern gelegt, und wir haben ihm gehorcht
und uns hingelegt. Hier gibt es keine Rasse, keine Sprache, keine
Partei. Ein armer Wanderhirte hat Engelshände auf unsere Schultern
gelegt.“7
Die Änderung eines Blickwinkels und
die Berührung mit der Hand erlöst diese Menschen. Ihre Herzen
erkennen dies als Wunder. Und der Durst ist nicht mehr alles – denn
die Vertrockneten werden getränkt.
Wunderbarer Sonnenblick. Rostock, 2015. |
1 A.
de Saint-Exupéry, Südkurier. In: Ders., Romane. Dokumente.
Düsseldorf 1966, 5-125; hier: 73-77.
2 Ders.,
Flug nach Arras. In: Ebd., 325-503; hier: 485.
3 Ebd.,
487f.
4 Ebd.,
495.
5 Ebd.,
498f.
6 Ders.,
Wind, Sand und Sterne. In: Ebd., 127-324; hier: 292-295.
7 Ebd.,
297.