Freitag, 4. März 2016

Der Gekreuzigte 3 – Allmächtiger Durst und Quelle des Lebens bei Antoine de Saint-Exupéry

Der Autor des „Kleinen Prinzen“ war ein frommer Mann. In vielen seiner Werke setzte sich der Pilot und Schriftsteller mit christlichen Motiven auseinander, auch sein meistzitierter Satz vom Herzen, das allein einen guten Blick hat, kann als Verfremdung und Weiterführung eines Bibelwortes über Gottes Blick (vgl. 1Sam 16,7) gelesen werden.
Hier jedoch soll es um Gedanken zum Gekreuzigten gehen, Gedanken die mit Themen wie Stellvertretung, Hingabe, Liebe und Leiden mal mehr, mal weniger explizit im Werk auftauchen – und auch der Blick des Herzens wird nicht zu kurz kommen.

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Zunächst ein Ausschnitt aus „Südkurier“, dem tragisch endenden Liebes- und Pilotenroman, in dem Saint-Exupéry seine erste Novelle von 1926 umarbeitete und 1929 neu als Roman arrangierte.
Der Flieger Jacques Bernis verfolgt in Notre-Dame gerade die Predigt eines seltsam mit sich ringenden und mit der Person Christi mehr und mehr sich identifizierenden Predigers:

Bestrahltes. Alt-Buchhorst, 2016.
'O wüßtet ihr, wüßtet ihr, wieviel an Liebe...' Er unterbrach sich und schöpfte Atem: die Gefühle, die ihn bestürmten, waren zu reich, um ihn den rechten Ausdruck finden zu lassen. Er begriff, dass auch die einfachsten, die abgebrauchtesten Worte ihm jetzt allzu sinnbeschwert erschienen und daß er sie nicht mehr von den anderen Worten scheiden konnte, von denen, die den richtigen Klang hatten. … Er raffte sich steil empor, die Hände noch immer aufgestützt, die Stirn hoch erhoben. Und als seine Haltung sich weiter entspannte, ging eine Bewegung durch die Menge, wie ein Wellenschlag.
 Nun strömten ihm die Worte zu, und er sprach. Sprach mit überraschender Sicherheit. … Gedanken flogen ihm zu, die sich außerhalb seiner selbst schon formten, während er einen Satz zu Ende sprach, als wären sie eine Bürde, die man ihm reichte. Und im voraus fühlte er in seinem Geist das dunkle Aufsteigen des Bildes, in das er alsbald den geformten Gedanken legen würde …
'Ich bin die Quelle allen Lebens. Ich bin die Flut, die in euch eindringt, um euch zu erwecken, und die wieder zurückfließt. Ich bin das Leid, das in euch eingeht, um eure Herzen zu zerreißen, und das wieder zurückströmt. Ich bin die Liebe, die in eure Herzen einzieht, und die in alle Ewigkeit währt. …
Ihr Gefangenen, versteht mich doch! Ich mache euch frei von eurer Wissenschaft, von eurem Formelkram, von euren Gesetzen, von der Sklaverei des Geistes, vom Determinismus, der härter ist als das blinde Schicksal. Ich bin die verwundbarste Stelle an eurer Rüstung: ich bin das Leben.
Ihr habt den Gang der Gestirne bis ins letzte erforscht, als eine Generation von Helden des Laboratoriums, aber ihr kennt das Gestirn nicht mehr. Es ist nur noch ein Kapitel in euren Büchern, aber es ist für euch nicht mehr ein Licht, denn ihr wißt weniger von ihm als ein kleines Kind. Ihr habt alles entdeckt, bis zu den Gesetzen, die das Lieben des Menschen beherrschen, aber dieses Lieben selbst können alle eure Zeichen nicht einfangen: ihr wißt davon weniger als jedes junge Mädchen! Nun denn, so kommt zu mir! Diesen milden Glanz des Lichts, dieses Licht der Liebe, ich gebe es euch wieder. …
Kommt zu mir alle, denen die Tat, die zu nichts führt, bitter geworden ist.
Kommt zu mir, ihr alle, denen der Gedanke, der nur zu Gesetzen führt, bitter geworden ist.'
Der Prediger spannte die Arme aus:
'Denn ich bin es, der euch aufnimmt. Ich habe die Sünden der Welt auf mich genommen. Ich habe ihr Leid getragen. Ich habe eure Schmerzen getragen, die Schmerzen von Tieren, die ihre Jungen verlieren müssen, habe eure unheilbaren Krankheiten auf mich genommen, und ihr habt die Erleichterung gefühlt. …
Ich bin, der die Bürden der Welt auf sich nimmt. …
Ihr werdet die Kinder sein, die bei mir spielen. Kommt zu mir, mit all den vergeblichen Bemühungen, die euren Alltag erschöpfen: ich werde ihnen einen Sinn geben, daß sie eure Herzen neu aufbauen, ich werde ihnen wieder Menschlichkeit geben. …
Ich bin der einzige, der den Menschen zu sich selbst zurückführen kann.'
Der Priester verstummte. Erschöpft wandte er sich dem Hochaltar zu und betete zu Gott, zu dem Gott, den er verkündet hatte. Er fühlte sich gedemütigt, als hätte er alles gegeben, als wäre seine körperliche Ermattung ein Gnadengeschenk.“1

Aus den Worten spricht Geist jener Zeit zwischen den Kriegen – der Wunsch nach konkreten, unverbildeten, authentischen Erfahrungen, der Wunsch nach der Hinwendung zum Eigentlichen, der Wunsch nach dem wahrhaft Menschlichen.
Die Reduktion der Wirklichkeit auf Formeln und Worte soll zurückgeführt werden zur echten, Licht schenkenden Begegnung. Dann fließt diese innere Quelle des Lebens, von der der Priester in den Worten des leidenden und alles Leid übernehmenden Christus spricht, jene Quelle, die zum Leben erweckt.

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Im Sonnenglanz. Schloß Rheinsberg, 2014.
In „Flug nach Arras“, seinen Erlebnissen von Kampfeinsätzen während des Zweiten Weltkrieges und seinen philosophisch-theologischen Reflexionen darüber, wird Saint-Exupéry noch deutlicher: "Jahrhundertelang hat meine Kultur durch die Menschen hindurch Gott betrachtet. Der Mensch war nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Man achtete Gott im Menschen. Die Menschen waren Brüder in Gott. Dieser Abglanz verlieh jedem Menschen eine unveräußerliche Würde. Die Beziehungen des Menschen zu Gott begründeten ganz klar die Pflichten eines jeden gegenüber sich selbst und dem Nächsten.2

Dem gegenüber sieht er in seiner Zeit einen Kult des Individuums, dem er sich entgegenstellen will. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die Werte der Französischen Revolution, macht er sich zu eigen, aber er gründet sie neu in einem metaphysisch-religiösen und sozialen Menschenbild, aus dem heraus er für sich eine Legitimation findet, sein Leben im Flugzeug für ein größeres Ganzes einzusetzen.
Eine paradoxe Erscheinung zunächst: nüchterner Heroismus und vernunftgeleitete Religiösität verbinden sich zu einer Opferbereitschaft, die mitten in diesem Krieg das große Lied der Humanität singt:
Ich verstehe die Bedeutung der Pflichten der Nächstenliebe, die mir gepredigt wurden. Die Nächstenliebe diente Gott durch das Individuum hindurch. Sie gebührte Gott, wie gewöhnlich das Individuum auch war. Diese Nächstenliebe erniedrigte den Emfänger nicht, band ihn auch nicht durch die Fesseln der Dankbarkeit, da das Geschenk sich ja nicht an ihn, sondern an Gott richtete. Die Betätigung dieser Nächstenliebe war dagegen niemals eine Ehre, die der Gewöhnlichkeit, der Dummheit oder der Unwissenheit erwiesen wurde. Der Arzt war es sich schuldig, sein Leben in der Pflege des gemeinsten Pestkranken einzusetzen. Er diente Gott. Er verlor nicht dadurch, daß er die Nacht wachend am Lager eines Diebes verbrachte.“3

Wie schon in der eingangs zitierten Predigt wendet sich der Autor gegen eine Denkweise, die den Menschen um seinen eigentlichen Blick bringt. Sein Ansinnen ist es, das Ganze der Welt, inklusive Gottes, wieder vor den Blick des Menschen zu bringen und stellt dem die Haltung der Individuen gegenüber, die durchaus auch im 21. Jahrhundert selbstkritisch gehört werden kann: „Wir haben mit dem Schenken aufgehört. Wenn ich aber nur noch mir selbst zu geben gewillt bin, empfange ich nichts; denn ich baue nichts auf, an dem ich teilhaben will, und daher bin ich nichts.“4

Das Ziel seiner Ausführungen ist es darum, einen geistigen Haltungswechsel zu bewirken, zunächst in sich selbst, dann aber auch in anderen – einen Haltungswechsel, der wieder zu Geschenk und Gabe führen kann, zu einer Haltung, die auch bereit ist, sich selbst zur Gabe zu machen. Hier aber klingen die Einlassungen von Saint-Exupéry nun fast messianisch, als sei sein Pilotenschicksal ein Erlöserwerk:

Dahingegebene. Kleinbrembach, 2015.
Ich bin der Stärkere, weil der Baum stärker ist als die Stoffe des Bodens. Er zieht sie an sich. Er verwandelt sie in Baum. Der Dom ist strahlender als der Steinhaufen. Ich bin der Stärkere, weil meine Kultur allein die verschiedenen Eigenarten, ohne sie zu verkümmern, in ihrer Einheit zusammenschließen vermag. Sie steigert die Quelle ihrer Kraft im gleichen Maße, wie sie von ihr trinkt.
Beim Abflug hatte ich erst zu empfangen und dann zu geben verlangt. Mein Verlangen war eitel. … Du mußt geben, bevor du nimmst – und bauen, bevor du wohnst.
Ich habe die Liebe zu den Meinen durch diese Hingabe des Blutes begründet, wie die Mutter ihre Liebe mit dem Geschenk der Muttermilch nährt. Darin liegt das Geheimnis. Du mußt mit dem Opfer beginnen, um die Liebe zu gründen.5

Dies ist nun tatsächlich, christlich gesprochen, die Perspektive Gottes, der aus seiner göttlichen Liebe mit dem persönlichen Hingabe-Opfer beginnt, um auf diese Weise menschliche Liebe zu säen. Saint-Exupéry lässt hier die Stelle Gottes frei und beginnt gleich selbst und aus sich mit dem Erlösungswerk, setzt sich damit sozusagen an Gottes Stelle. Vielleicht war die Identifikation des Priesters mit Christus am Anfang kein Zufall.
Das irritiert und stellt theologisch einen Bruch dar zu dem, was er zuvor auführte über die Herkunftskultur, aus der er nach eigenen Worten schöpft.

3
Dem wiederum möchte ich zuletzt eine autobographische Leidensdarstellung Saint-Exupérys in „Wind, Sand und Sterne“ beistellen, die die Erfahrung des Verdurstens literarisch überformt in den Mittelpunkt rückt – und eine Erlösung, die nicht durch diese Leidenserfahrung, sondern von außen kommt.
Hintergrund ist das Erlebnis des Absturzes mitten in der Wüste, eines Absturzes, der aus völliger Orientierungslosigkeit in der Luft folgte und mit dem Aufprall auf einen Hügel endete. Dem Wunder des Überlebens folgt die Qual des Überlebens. Nach drei Tagen und Nächten zu zweit in der Wüste, Tagen voller Halluzinationen und Hoffnungen, Nächten voller Märsche und Verirrungen, sind die Abgestürzten am Ende. Es ist eine Schilderung, die mich an den Gekreuzigten erinnert hat:

Der Westwind weht, der den Menschen in neunzehn Stunden ausdörrt. Noch ist mein Schlund offen, aber schon hart und schmerzhaft. Ein leises Rasseln kann ich auch schon vernehmen. Bald kommt der Husten, den man mir beschrieben hat und auf den ich schon lange warte. Meine Zunge ist mir im Wege. Das schlimmste aber ist, daß ich leuchtende Flecken sehe. Wenn diese zu Flammen werden, stürze ich zusammen.
Wir gehen schnell, um die Kühle des jungen Tages auszunutzen. Wir wissen wohl, dass wir an der hellen Sonne nachher nicht mehr weiterkönnen. An der hellen Sonne...
Wir dürfen nicht mehr schwitzen, wir dürfen keine Zeit verlieren. Denn selbst diese Kühle hat nur achtzehn Prozent Luftfeuchtigkeit; der Wind mit seiner verlogenene Liebkosung kommt aus der Wüste. Unser Blut verdunstet!
Wüstes. Ulica Prosta, Warschau, 2015.
Ich fühle keinen Hunger, nur Durst. Dabei hatte ich so gut wie nichts zu essen gehabt, am ersten Tag einige Trauben, seitdem eine halbe Apfelsine und etwas Kuchen. Für mehr Nahrung hatten wir keinen Speichel gehabt. Der Durst aber ist allmächtig, eher noch die Folgen des Durstes: die harte Kehle, die Zunge aus Gips, das Rasseln im Schlund und ein ekliger Geschmack im Mund. Das sind mir neue Empfindungen, und zunächst bringe ich sie in keine Verbindung mit dem Wasser, das sie heilen könnte. Der Durst wird immer mehr zu einer Krankheit, und immer weniger ist er ein natürliches Verlangen.
Schon will mir scheinen, daß der Gedanke an Früchte und Quellen weniger herzzerreißend ist. Ich habe schon fast vergessen, wie freundlich die Apfelsine leuchtete. Ich habe alle Sehnsucht vergessen. Ich vergesse vielleicht alles. …
Jetzt müssen wir schon alle zweihundert Meter rasten. Aber wir wollen weiter, zumindest bis zu den Büschen. Die sollten die letzte Grenze sein, machten wir aus. …
Gestern träumte ich von paradiesischen Apfelsinenwäldern, heute kenne ich kein Paradies mehr. Ich glaube nicht mehr an Apfelsinen.
Nichts mehr fühle ich in mir als Dürre des Herzens. Ich werde fallen und keine Verzweiflung spüren, nicht einmal Kummer. Das kränkt mich, denn die Fähigkeit, Kummer zu fühlen, wäre mir eine Wohltat wie Wasser. Ich bemitleide mich und bedaure mich wie ein Freund. Aber ich habe keinen Freund mehr auf der Welt. …
Ich bin schon eins mit der Wüste. Ich bringe keinen Speichel mehr hervor und auch keine Bilder, nach denen ich mich sehnen könnte. Die Sonne hat den Quell der Tränen ausgetrocknet.6

An diesem tiefsten Punkt der Verzweiflung, geistig schon im Tode und ohne jede Zukunft – finden sie Spuren und entdecken nach einer Weile in der Ferne einen Beduinen. Doch die Kräfte reichen nicht mehr, um zu rennen oder zu schreien und der Mann bemerkt sie nicht.
... der Beduine schaut immer nach rechts.
Jetzt aber, ganz langsam, macht er eine Viertelwendung links. Sobald er das Gesicht uns zugewendet hat, ist es auch schon geschehen: Durst, Tod und Luftspiegelungen sind verwischt in dem Augenblick, in dem er uns erblickt. Eine kleine Viertelwendung verwandelt unsere Welt. Eine Bewegung des Körpers, ein rascher Blick schafft Leben, und er scheint mir nicht von dieser Welt.
Ein Wunder! Ein Wunder! Er kommt auf uns zu wie ein Gott über das Meer!
Er hat uns ins Gesicht gesehen, hat uns die Hände auf die Schultern gelegt, und wir haben ihm gehorcht und uns hingelegt. Hier gibt es keine Rasse, keine Sprache, keine Partei. Ein armer Wanderhirte hat Engelshände auf unsere Schultern gelegt.7

Die Änderung eines Blickwinkels und die Berührung mit der Hand erlöst diese Menschen. Ihre Herzen erkennen dies als Wunder. Und der Durst ist nicht mehr alles – denn die Vertrockneten werden getränkt. 

Wunderbarer Sonnenblick. Rostock, 2015.

1   A. de Saint-Exupéry, Südkurier. In: Ders., Romane. Dokumente. Düsseldorf 1966, 5-125; hier: 73-77.
2   Ders., Flug nach Arras. In: Ebd., 325-503; hier: 485.
3   Ebd., 487f.
4   Ebd., 495.
5   Ebd., 498f.
6   Ders., Wind, Sand und Sterne. In: Ebd., 127-324; hier: 292-295.
7   Ebd., 297.