Donnerstag, 24. März 2016

Der Gekreuzigte 5 – Navid Kermani vor dem Kreuz

Die geplante Verleihung des Hessischen Kulturpreises an Vertreter der drei abahamitischen Religionen wurde 2009 zum Eklat, weil die christlichen Vertreter, darunter Karl Kardinal Lehmann, sich an einem Essay von Navid Kermani über eine Kreuzigungsdarstellung von Guido Reni störten.
Auf der Suche nach dem Text kann man im Internet auf den Seiten der Neuen Zürcher Zeitung fündig werden oder auch in der hochgelobten Essaysammlung "Ungläubiges Staunen. Über das Christentum".1 Kermani sucht sich darin – ganz im Sinne des Titels – auf den Spuren christlicher Kunstwerke, Riten und Zeugen seine Zugänge zu christlichen Glaubenswahrheiten.
Für verschiedene Deutungen offen.
Neues Museum, Berlin-Mitte, 2015.
Allerdings ist der anstößige Text nun in mehreren Essays verteilt zu finden – durchaus thematisch nachvollziehbar sind die dem muslimischen Autor nicht eingängigen und skandalösen Aspekte des Kreuzes (die wiederum zum Anstoß für K. Lehmann wurden) unter dem Titel "Kreuz" zu finden, während die Gedanken zu Renis Darstellung des Gekreuzigten in der römischen Kirche San Lorenzo in Lucina unter dem Titel "Verwandlung" leicht abgeändert in einen Dialog mit Hölderlins Schriften treten. Darüber hinaus widmet sich Kermani auch anderen Darstellungen des christlichen Leidens, zum Beispiel einer Geißelung Jesu oder einer Kreuzigung Petri.

Bevor ich drei Punkten dieser Darstellungen kurz nachgehe, will ich klarstellen, dass ich weder die ursprüngliche Fassung des Textes in der NZZ noch seine Auffächerung im Essayband respektlos oder gar blasphemisch finde – insofern man sich nicht an Reizworten stört. Denn dass einem Muslim der Gottessohn als Gekreuzigter wie eine "Gotteslästerung und Idolatrie"2 anmutet, ist aus seiner Sicht nur nachvollziehbar. Aber wenn man den Kontext und das Staunen, das Einfühlen und die Bewunderung wahrnimmt, mit denen Kermani auf die unterschiedlichen Ausdrücke des christlichen Glaubens schaut, zeigt sich jedermann, dass hier kein arroganter Verächter des Christentums schreibt, sondern eben ein ungläubig Staunender, der den interreligiösen Dialog ehrlich und ohne Vortäuschung falscher Toleranz sucht.

1
Der gekreuzigte Jesus, wie ihn Guido Reni gemalt hat und wie man ihn beispielsweise hier ansehen kann, ist kein Leidender, sondern ein Schwebender; einer, dessen Wunden man nur ahnen kann und der sich betend gen Himmel streckt. Kermani kommentiert seinerseits:
"Reni verklärt nicht den Schmerz, den er nicht zeigt. Ihm gelingt, was andere Kreuzigungsbilder behaupten: Er überführt das Leiden aus dem Körperlichen ins Metaphysische. Sein Jesus hat keine Wunden, keine Abzeichen der Striemen und Hiebe, ist schlank, jedoch nicht abgemagert. Selbst wo seine Hände und Füße ans Kreuz genagelt sind, fließt kaum Blut. Wären die Nägel nicht, es sähe aus, als breite er die Hände wie zu einer Demonstration aus. Er blickt in den Himmel, die Iris aus dem Weiß der Pupille beinah verschwunden: Schau her, scheint er zu rufen. Nicht nur: Schau auf mich, sondern: Schau auf die Erde, schau auf uns. Jesus leidet nicht, damit Gott, wie es die christliche Erlösungslehre nahelegt, zum Mitleidenden, damit selbst zum Opfer wird, Jesus klagt an: Nicht, warum hast du mich, nein, warum hast du uns verlassen?"3
Nur nebenbei sei die stilistische Änderung bemerkt, dass es in der Erstfassung noch die "christliche Ideologie" hieß, wo im Essayband nun die "christliche Erlösungslehre" steht. Doch das ist meiner Meinung nach eher eine Kleinigkeit, selbst wenn sie für eine neuere, positivere Sicht stehen mag.
Meine Frage ist dagegen, ob wir hier wirklich einen klagend Anklagenden sehen, eher habe ich den Eindruck einer Gebetshaltung, also nicht, dass Jesu Hände hier zu einer "Demonstration" erhoben sind, wie Kermani meint, sondern eher schon, dass Jesus, wie der Zeitungsartikel noch sagte, seine Hände "wie zum Gebet" erhebt. Aus der Sicht eines gläubigen Muslims kann Kermani den Gedanken eienr sühnend leidenden Gottessohnschaft Jesu auch nur ablehnen, das ist für mich legitim und nachvollziehbar. Allerdings wird diese Deutung für einen Christen nicht zwingend sein, gerade dann, wenn auch die Anklage Gottes eine verständliche Haltung angesichts des eigenen oder fremden Leides bleibt.

2
Menschliches Leiden und speziell das Leiden Jesu aber kann Kermani durchaus als offen für andere Deutungen würdigen. In einem Beitrag zu Caravaggios "Dornenkrönung Christi" von 1602/03 beschäftigt er sich mit der Erniedrigung Jesu durch die Henkersknechte und in den Vorstellungen hinter diesem Bild scheint auch der Muslim Kermani eine gewisse Tiefendimension erkennen zu können.
Die Verurteilung durch Pontius Pilatus vollzieht sich noch im Rahmen von Nützlichkeitserwägungen dieses pragmatischen Zynikers, die Kermani zu Recht nicht als tiefere Bosheit und direkte Demütigung Jesu deutet. 

Alt-Buchhorster Dornenkrönung. Grünheide, 2016.
"Dann aber wird Jesus den anonymen Kriegsknechten überantwortet, einfachen Handlangern, die seinem Volk nicht angehören, ihn nur dem Hörensagen nach kennen und keinerlei Gefühle, geschweige denn Ressentiments gegen ihn hegen. Sie nehmen ihn mit ins Richthaus, entziehen ihn somit den teilnehmenden Blicken, rufen noch ihre Genossen herbei, die ganze Schar, und machen sich einen Spaß, den womöglich nicht einmal das göttliche Urteil vorsah. Die Dornenkone etwa, die sie ihm auf den Kopf setzten, hat weder die Anklage gefordert noch Pilatus angeordnet, sondern ist genauso wie das Rohr, das sie Jesus in die rechte Hand geben, und der Purpurmantel, den sie ihm anziehen, ihr eigener Einfall, ein bloßer Zeitvertreib, beigen die Knie vor ihm wie in einem Schmierenstück, verspotten ihn und sprechen ihn an als einen König.
Und das dauert ... das geht nicht in ein paar Minuten, das ist ein ausgedehntes ... Spektakel, dem die Schar der Kriegsknechte grölend, applaudierend, anfeuernd zuschaut, eine Stunde vielleicht oder länger. Und Jesus hat mit ihnen nichts zu tun, das ist das Schlimmste, ist ihnen so fremd, so gleichgültig, wie ein Gegenstand, den sie auf der Straße aufgelesen, ein zufällig gefundenes oder vielmehr zugeworfenes Spielzeug."4

Alle anderen, vornehmlich das jüdische Establishment, die seinen Tod wirklich aus tiefster Seele wollten, machten sich schuldig, da sie nicht glauben konnten, wer Jesus eigentlich ist. Die Soldaten aber können es als bloß ausführende Organe, die allein vom brutalen Spaß am Schmerz des ihnen Ausgelieferten getrieben sind, gar nicht begreifen, was sie da wem antun. Kermani schreibt, gerade dadurch nehmen sie Jesus auch noch "den Trost des Auserwähltseins, indem sie seine Passion zu einem bloßen Zeitvertreib herabwürdigen."5

Auch christliche Frömmigkeit vollzieht diese totale Erniedrigung, die sogar das ureigene Sendungsbewusstsein des Gottessohnes Jesus Christus umgreift, nach, wenn sie in der Spur der Verse aus dem Philipperbrief geht: "Ausgeleert hat er sich selbst, Knechtsgestalt hat er genommen; in Menschengleichheit trat er auf und ard in der Art als Mensch erfunden. So hat er sich niedrig gemacht, ward gehorsam bis zum Tod – dem Tod am Kreuz" (Phil 2,7.8 in der Übersetzung von Fridolin Stier).
Vor der Kreuzigungsdarstellung. Grünheide, 2016.

Leiden und erniedrigt werden um eines höheren Sinnes willen mag schon schlimm sein, bestenfalls innerliche Genugtuung geben, aber Leiden ohne jeglichen Sinn, als Spielball den Bösen ausgeliefert zu sein ohne einen inneren Halt zu haben – das kann in die totale Entfernung und Entfremdung von einem Sinn schenkenden Gott führen.
Hat Jesus so gelitten, wie Kermani es hier beschreibt, dann trat er wirklich in allem ganz "in Menschengleichheit" auf.

3
Trotz dieses intuitiven Einfühlens in Wesensbestandteile der christlichen Botschaft bleibt das Kreuz selbst dem Autor Anstoß und Ärgernis, ganz wie Paulus es schon für die Nichtchristen seiner Zeit vorausgesetzt hatte: "Wir ... verkünden Jesus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit" (1Kor 1,23).
Kermanis stärkste Kritik an diesem Leidenssymbol ist interessanterweise aus dem ursprünglichen Kontext des inkriminierten Aufsatzes heraus- und in eine Kreuzesbetrachtung eingewandert. In eine Kreuzesbetrachtung aber, die bei aller Ablehnung auch offen ist für weitergehende Deutungen der Kreuzesgestalt – nur eben ohne den Gekreuzigten. Da heißt es zunächst:
"Nicht, daß ich die Menschen, die zum Kreuz beten, weniger respektiere als andere betende Menschen. Es ist kein Vorwurf. Es ist eine Absage. Gerade weil ich ernst nehme, was es darstellt, lehne ich das Kreuz rundweg ab. Nebenbei finde ich die Hypostasierung des Schmerzes barbarisch, körperfeindlich, en Undank gegenüber der Schöpfung, über die wir uns freuen, die wir genießen sollen, auf daß wir den Schöpfer erkennen".6
In diesem Zusammenhang fallen auch die oben zitierten drastischen Worte, die im Kreuz eine Lästerung Gottes sehen.
Doch dann bekommt Kermani ein stählernes Kreuz des Bildhauers Karl Schlamminger, eine Abbildung findet sich auf dessen Internetpräsenz.
Kermani findet es "so berückend, so voller Segen, daß ich es am liebsten selbst ankaufen und für immer behalten würde, koste es, was es wolle. Erstmals denke ich: Ich – nicht nur: man – ich könnte an ein Kreuz glauben."7
Wie geht nun das zusammen? Die völlige theologische Ablehnung und dann eine Offenheit und gar Begeisterung, die nun wirklich verwundern muss.

Kermani beschreibt und deutet das Kreuz wie folgt:
"Die gesamte Form entsteht aus der Bewegung, in die das Material versetzt worden ist. Zuerst schneidet Karl den Stahlblock in unzählige hauchdünne Scheiben, durch die er eine Längsachse zieht, und zwar außerhalb der Mitte. Dann dreht er die Scheiben, allerdings nicht gleichförmig, vielmehr in Form einer Doppelhelix, eine Scheibe links, eine Scheibe rechts, eine links, eine rechts und so weiter. Gemäß der orientalischen muqarnas-Form, die auch dem Bau islamischer Kuppeln zugrunde liegt, mutiert das Quadrat durch die Öffnung von innen allmählich zur Rundung. Während byzantinische oder römische Kuppeln – oder Kuppeln, die mit moderner Technik heute weltweit für Moscheen gebaut werden – mehr oder weniger elegant auf dem Zwickel der Grundmauern aufliegen, ermöglicht es das Muqarnas, das Rechteck selbst vollkommen zu runden. Nichts wird hinzugefügt, nichts wird genommen. Es gibt keinen Abfall. ...
Indem es [das Kreuz] sich aus den versetzt aufeinanderliegenden, quadratischen Scheiben herausbildet, ja: herausdreht, hat es trotz der Wölbungen an jeder Stelle exakt so viel Volumen wie an jeder anderen. Ein Quader, der sich zu Kurven, zu Kreisen aufschwingt, damit die vier Arme zu dem werden, was göttlich ist: zu eins. Endlich verstehe ich ein Kreuz, ja, begreife es, fasse es mit den Händen an und fühle das Quadrat, wie es sich rundet, unter den Fingern. Das Muqarnas-Kreuz, das kein Abbild mehr ist, vielmehr eine Idee wie die ersten, ganz schemenhaften Kruzifixe und noch das griechische Tau (Τ), sieht in der Dreifaltigkeit den Monotheismus. Darin ist es dezidiert christlich und zugleich mehr als nur christlich, in seiner Ästhetik frühchristlich, damit orientalisch und zugleich von heute."8

Halbierte Kreuzigung.
Cmentarz Powazkowski, Warschau, 2015.
Das stellt eine für mich erstaunliche und ungewöhnliche Annäherung an ein Kreuz dar, die ich durchaus sympathisch und, wie vieles in dem Band, aufrichtig und wertschätzend finde. Eine solche Offenheit gegenüber einem friedlichen Islam ist gerade in Zeiten politischer Unruhen und abscheulicher Gewalt im Namen dieser Religion auch Christen nur zu wünschen.

Entscheidend aber bleibt für Christen: die Absage an die Abbildung der entscheidenden Person am Kreuz, die Tatsache, dass der Gekreuzigte Jesus nicht das Zentrum einer Kreuzesbetrachtung darstellt, entkernt sie vom Wesentlichen. Der christliche Monotheismus umfasst als ureigenen Bestandteil den christlichen Dreifaltigkeitsglauben und in diesem den Glauben an die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus. 

Ich habe großen Respekt vor der Stärke des Monotheimus im Islam und wünsche mir von Zeit zu Zeit selbst diese Eindeutigkeit im Glauben. Zugleich aber bin ich überzeugt: alle Gedanken, die vom stellvertretenden Liebesleiden des Gottmenschen Jesus Christus fortführen, sind eventuell für andere Religionen anschlussfähig und eingängig, stellen aber kein christliches Proprium dar.
Dieses Proprium jedoch steht im Zentrum der heiligen Tage von Leiden, Tod und Auferstehung.



1   N. Kermani, Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. 8., durchgesehene Auflage, München 2016.
2
   Ebd., 50.
3
   Ebd., 66.
4   Ebd., 39ff.
5   Ebd., 42.
6   Ebd., 50.
7   Ebd., 51.
8   Ebd., 51f.