Mit den Evangelienlesungen der
Fastensonntage kommen momentan Texte zu Gehör, die Gottes
Barmherzigkeit ins Zentrum stellen. Die Ernsthaftigkeit der
menschlichen Sünde wird jedoch nicht unter den Tisch gekehrt. Sie
ist im Vergleich mit Gottes liebevoller Zuwendung allerdings
chancenlos.
Verschlossen und doch angestrahlt. Alt-Buchhorst, 2015. |
Letzten Sonntag (Lk 13,1-9) war zuerst
die Rede von unverschuldeten Unglücken, die Menschen zur Zeit Jesu,
aber auch heute immer wieder der Sündhaftigkeit der Verunglückten
zuschreiben. Unglück als Strafe – das ein doppeltes Leid für alle
Betroffenen. Jesus erwidert solchen Gedanken mit der rhetorischen
Frage: "Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen
hatten, alle anderen Einwohner von Jerusalem aber nicht?"(v4)
Auch der seit Jahren fruchtlose
Feigenbaum, der stets gut gepflegt war und doch nicht bringt, was er
nun eigentlich bringen müsste, müsste eigentlich umgehauen werden
(v6f).
Ebenso heute (Lk 15,11-32): Der jüngere
Sohn lässt sich seinen Erbteil auszahlen und die Familie im Stich;
er macht sich davon und verprasst alles, was er hat, bis er völlig
am Boden ist. Sein Fehlverhalten ist völlig klar und wiederum
scheint Leid zwangsläufige Folge der Sünde zu sein.
Jesus ist beim Evangelisten Lukas damit
ziemlich deutlich: menschliche Sünde ist eine Realität, die nicht
abgestritten werden kann.
Die Frage ist aber, wie damit umzugehen
ist. Das menschliche Gerechtigkeitsempfinden sucht eine Art der
Pädagogik oder eine Demütigung oder wenigstens eine dem Verhalten
angemessene Reaktion, die klar macht, wie böse und schlecht dieses
Verhalten war. Dafür steht der Besitzer des Feigenbaums, der diesen
umhauen lassen will (13,7); dafür steht der ältere Bruder, der sich
zurückgesetzt sieht (15,28ff).
Nicht so Gott – seine Barmherzigkeit
sucht trotz fehlender Vorleistungen weiterhin Wege zum Sünder und
Wege der Versöhnung. Auch dort, wo die lange Liebe eines Gärtners
keine Früchte zeigt; auch dort, wo lange Fürsorge eines Vaters nur
Egoismus hervorbringt; auch dort, wo ich immer wieder moralisch
versage trotz aller guten Möglichkeiten, die ich habe – auch dort
kommt Gott mir entgegen.
Wie im Gleichnis vom Weinbergsbesitzern
und den für unterschiedlichste Arbeitsdauer gleich hoch bezahlten
Arbeitern (Mt 20,1-16), so auch hier: Gott gibt nicht das Verdiente,
sondern das Nötige.
In irgendeiner Weise auf dem Weg zueinander. Berlin-Mitte, 2016. |
Der Gärtner erwidert dem Besitzer des
Baumes: "Vielleicht trägt er doch noch Früchte"
(13,9) und offenbart damit seine Hoffnung auf irgendeine Frucht trotz
konträrer Erfahrungen. Der Vater erwidert dem älteren Sohn nach
dessen Klage: "Jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest
feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und
ist wieder gefunden worden." (15,32) Gottes Freude ist so
groß, dass er feiern will, nicht pädagogisieren. Auch wenn Leid
Folge der Sünde sein kann, so will Gott doch nicht auch noch den
Finger in die Wunde stecken, sondern Freude und Versöhnung.
Ganz ähnlich spricht Papst Franziskus
in einem Gespräch über das Jahr der Barmherzigkeit sehr anschaulich
von Versuchen, "die Gott anstellt, um eine Bresche ins Herz
des Menschen zu schlagen, um jenen Türspalt zu finden, durch den
seine Gnade eindringen kann. Er will ja nicht, dass auch nur einer
verloren geht. ... Gott erwartet uns, er wartet darauf, dass wir
diesen winzigen Türspalt öffnen, damit er in uns wirken kann mit
seiner Vergebung, seiner Gnade. Nur wer sich berühren lässt,
anrühren lässt von der Zärtlichkeit der Barmherzigkeit, kennt
wahrhaft den Herrn. Daher habe ich wiederholt gesagt, dass der Ort,
an dem die Begegnung mit der Gnade Jesu erfolgt, meine Sünde ist.
Wenn man die Umarmung der Barmherzigkeit erlebt, wenn man sich
umfangen lässt, sich anrühren: erst dann kann das Leben sich
ändern, weil wir versuchen, auf dieses gewaltige und unerwartete
Geschenk zu antworten, das in den Augen der Menschen mitunter
'ungerecht' wirkt, weil es so überreichlich fließt. Wir finden uns
einem Gott gegenüber, der unsere Sünden kennt, unsere Betrügereien,
unser Verleugnen, unsere Nichtigkeit. Und doch ist er da und erwartet
uns, um sich uns ganz zu geben, um uns von Neuem aufzuhelfen."1
Denn konkret erfahrene Barmherzigkeit
ist eine Erfahrung unsere Gottes, dessen Wesen selbst Barmherzigkeit
ist. Wenn wir noch auf der Schwelle zu ihm stehen, ist er schon da.
P.S. Im gleichen Geist der
Barmherzigkeit und der Sensibilität für Umkehrwilligkeit spricht
der Papst an anderer Stelle auch über das Handeln der Kirche:
"Vergessen wir nie, dass unser
Gott sich mehr über den einen Sünder freut, der zur Herde
zurückkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die keine Umkehr
nötig haben. Wenn jemand gerade zu entdecken beginnt, dass seine
Seele krank ist, wenn der Heilige Geist – also die Gnade Gottes –
wirkt und das Herz hintreibt zu der ersten Erkenntnis unserer Sünde,
dann muss dieser Mensch offene Türen finden, keine geschlossenen. Er
muss Aufnahmebereitschaft finden, keine Verurteilung, kein Vorurteil
und keine Strafe. Ihm muss geholfen werden, statt ihn zurückzustoßen
oder an den Rand zu drängen. Manchmal besteht durchaus das Risiko,
dass die Christen mit ihrer Psychologie der Gesetzestreue das Feuer
löschen, das der Heilige Geist im Herzen eines Sünders entzündet
hat, eines Menschen, der an der Schwelle steht, der gerade anfängt,
wieder Sehnsucht nach Gott zu empfinden."2
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Nicht ganz (un)geöffnetes Fenster. Kleinbrembach, 2015. |
1 Papst
Franziskus, Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit
Andrea Tornelli. 3. Aufl. München 2016, 56f.