Sonntag, 6. März 2016

"Und doch ist er da und erwartet uns" – Zwei Barmherzigkeitsevangelien

Mit den Evangelienlesungen der Fastensonntage kommen momentan Texte zu Gehör, die Gottes Barmherzigkeit ins Zentrum stellen. Die Ernsthaftigkeit der menschlichen Sünde wird jedoch nicht unter den Tisch gekehrt. Sie ist im Vergleich mit Gottes liebevoller Zuwendung allerdings chancenlos.

Verschlossen und doch angestrahlt.
Alt-Buchhorst, 2015.
Letzten Sonntag (Lk 13,1-9) war zuerst die Rede von unverschuldeten Unglücken, die Menschen zur Zeit Jesu, aber auch heute immer wieder der Sündhaftigkeit der Verunglückten zuschreiben. Unglück als Strafe – das ein doppeltes Leid für alle Betroffenen. Jesus erwidert solchen Gedanken mit der rhetorischen Frage: "Meint ihr, dass nur sie Schuld auf sich geladen hatten, alle anderen Einwohner von Jerusalem aber nicht?"(v4)
Auch der seit Jahren fruchtlose Feigenbaum, der stets gut gepflegt war und doch nicht bringt, was er nun eigentlich bringen müsste, müsste eigentlich umgehauen werden (v6f).
Ebenso heute (Lk 15,11-32): Der jüngere Sohn lässt sich seinen Erbteil auszahlen und die Familie im Stich; er macht sich davon und verprasst alles, was er hat, bis er völlig am Boden ist. Sein Fehlverhalten ist völlig klar und wiederum scheint Leid zwangsläufige Folge der Sünde zu sein.

Jesus ist beim Evangelisten Lukas damit ziemlich deutlich: menschliche Sünde ist eine Realität, die nicht abgestritten werden kann.
Die Frage ist aber, wie damit umzugehen ist. Das menschliche Gerechtigkeitsempfinden sucht eine Art der Pädagogik oder eine Demütigung oder wenigstens eine dem Verhalten angemessene Reaktion, die klar macht, wie böse und schlecht dieses Verhalten war. Dafür steht der Besitzer des Feigenbaums, der diesen umhauen lassen will (13,7); dafür steht der ältere Bruder, der sich zurückgesetzt sieht (15,28ff).

Nicht so Gott – seine Barmherzigkeit sucht trotz fehlender Vorleistungen weiterhin Wege zum Sünder und Wege der Versöhnung. Auch dort, wo die lange Liebe eines Gärtners keine Früchte zeigt; auch dort, wo lange Fürsorge eines Vaters nur Egoismus hervorbringt; auch dort, wo ich immer wieder moralisch versage trotz aller guten Möglichkeiten, die ich habe – auch dort kommt Gott mir entgegen.
Wie im Gleichnis vom Weinbergsbesitzern und den für unterschiedlichste Arbeitsdauer gleich hoch bezahlten Arbeitern (Mt 20,1-16), so auch hier: Gott gibt nicht das Verdiente, sondern das Nötige.

In irgendeiner Weise auf dem Weg zueinander. Berlin-Mitte, 2016.
Der Gärtner erwidert dem Besitzer des Baumes: "Vielleicht trägt er doch noch Früchte" (13,9) und offenbart damit seine Hoffnung auf irgendeine Frucht trotz konträrer Erfahrungen. Der Vater erwidert dem älteren Sohn nach dessen Klage: "Jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wieder gefunden worden." (15,32) Gottes Freude ist so groß, dass er feiern will, nicht pädagogisieren. Auch wenn Leid Folge der Sünde sein kann, so will Gott doch nicht auch noch den Finger in die Wunde stecken, sondern Freude und Versöhnung.

Ganz ähnlich spricht Papst Franziskus in einem Gespräch über das Jahr der Barmherzigkeit sehr anschaulich von Versuchen, "die Gott anstellt, um eine Bresche ins Herz des Menschen zu schlagen, um jenen Türspalt zu finden, durch den seine Gnade eindringen kann. Er will ja nicht, dass auch nur einer verloren geht. ... Gott erwartet uns, er wartet darauf, dass wir diesen winzigen Türspalt öffnen, damit er in uns wirken kann mit seiner Vergebung, seiner Gnade. Nur wer sich berühren lässt, anrühren lässt von der Zärtlichkeit der Barmherzigkeit, kennt wahrhaft den Herrn. Daher habe ich wiederholt gesagt, dass der Ort, an dem die Begegnung mit der Gnade Jesu erfolgt, meine Sünde ist. Wenn man die Umarmung der Barmherzigkeit erlebt, wenn man sich umfangen lässt, sich anrühren: erst dann kann das Leben sich ändern, weil wir versuchen, auf dieses gewaltige und unerwartete Geschenk zu antworten, das in den Augen der Menschen mitunter 'ungerecht' wirkt, weil es so überreichlich fließt. Wir finden uns einem Gott gegenüber, der unsere Sünden kennt, unsere Betrügereien, unser Verleugnen, unsere Nichtigkeit. Und doch ist er da und erwartet uns, um sich uns ganz zu geben, um uns von Neuem aufzuhelfen."1

Denn konkret erfahrene Barmherzigkeit ist eine Erfahrung unsere Gottes, dessen Wesen selbst Barmherzigkeit ist. Wenn wir noch auf der Schwelle zu ihm stehen, ist er schon da.


P.S. Im gleichen Geist der Barmherzigkeit und der Sensibilität für Umkehrwilligkeit spricht der Papst an anderer Stelle auch über das Handeln der Kirche:
"Vergessen wir nie, dass unser Gott sich mehr über den einen Sünder freut, der zur Herde zurückkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die keine Umkehr nötig haben. Wenn jemand gerade zu entdecken beginnt, dass seine Seele krank ist, wenn der Heilige Geist – also die Gnade Gottes – wirkt und das Herz hintreibt zu der ersten Erkenntnis unserer Sünde, dann muss dieser Mensch offene Türen finden, keine geschlossenen. Er muss Aufnahmebereitschaft finden, keine Verurteilung, kein Vorurteil und keine Strafe. Ihm muss geholfen werden, statt ihn zurückzustoßen oder an den Rand zu drängen. Manchmal besteht durchaus das Risiko, dass die Christen mit ihrer Psychologie der Gesetzestreue das Feuer löschen, das der Heilige Geist im Herzen eines Sünders entzündet hat, eines Menschen, der an der Schwelle steht, der gerade anfängt, wieder Sehnsucht nach Gott zu empfinden."2
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.

Nicht ganz (un)geöffnetes Fenster. Kleinbrembach, 2015.

1   Papst Franziskus, Der Name Gottes ist Barmherzigkeit. Ein Gespräch mit Andrea Tornelli. 3. Aufl. München 2016, 56f.


2   Ebd., 90f.