Ostern spricht vom neuen Leben nach dem
Tod. So verweisen auch die Taufen in der Osternacht auf das neue
Leben in Christus: Taufe ist Auferstehung in ein neues Leben schon
heute!
Aktuell wird das Motiv von neuem Leben
und Auferstehen auch in dem Kurzroman "Das Mädchen mit dem
Fingerhut" von Michael Köhlmeier literarisch entfaltet. Ich
möchte hier einen christlichen Kommentar dazu eingeben.
Wie neu darf es denn sein? Rüdersdorf, 2015. |
Aus der Perspektive eines sechsjährigen
Mädchens erzählt der Autor die Geschichte von Fremdheit in Europa,
von der Verlorenheit ohne eine gemeinsame Sprache mit der Umgebung,
vom Leben auf der Straße. Das Mädchen Yiza irrt zuerst allein
umher, kurzzeitig zieht sie mit zwei Jungen, später noch gemeinsam
mit einem der beiden, Arian, vor der Polizei fliehend durch die
Kälte. Die Verheißung eines warmen Hauses mit gefülltem
Kühlschrank, dessen Besitzer in die Wärme des Südens gereist sind,
erfüllt sich für die Kinder nicht.
Stattdessen wird Yiza in ihrem
Gartenhausversteck krank – und bekommt das neue Leben von der
Besitzerin des Grundstücks geschenkt. Denn diese entdeckt Yiza und
nimmt sie zu sich, während der verbliebene Freund Arian verjagt
wird. Passenderweise heißt die Frau Renate – und weist mit ihrem
Namen "die Wiedergeborene" auch auf ihre Rolle hin.
Doch welcher Art ist das neue Leben,
das Yiza erhält? Es ist zunächst die Lebensrettung für das
frierende, fiebernde, hungernde und halluzinierende Kind. Die Aufnahme der Armen in ihr Haus und
das Geschenk eines Lebens ohne materielle Not.
Aber es
zeigt sich, dass Renates Vorstellung vom neuen Leben für das
gebeutelte Kind keinen Freiheitsgewinn bedeutet.
"Yiza frühstückte im Bett.
Die Frau wollte es so. Sie wollte dabei zusehen. Das blasse
Gesichtchen wollte sie ansehen und die schwarzen Haare, die nun kurz
waren und glänzten wie Satin. Und das gestärkte weiße Hemdchen
wollte sie ansehen, die Ärmel und den kleinen Kragen mit den
gestickten Rändern und die Perlmuttknöpfe über der Brust."1
Dieses Puppenleben ist von mehr oder
weniger freundlicher Bevormundung und minutiöser Kontrolle bestimmt.
Abgeschlossene Räume, abgedunkelte Fenster, strenges Zeitreglement,
bis auf den Grund zurückgeschnittene Fingernägel, weiße Kleidung.
"Morgen ziehst du die neuen
Sachen an, sagte sie. Heute schläfst du. Dann essen wir gemeinsam.
Dann schläfst du. Dann ziehst du die neuen Sachen an. Dann lernen
wir. Dann lernst du meine Sprache. Dann leben wir zusammen. Du wirst
sehen."2
Welches Brot nährt zum neuen Leben? Grünheide, 2016. |
Damit entspricht das neue Leben in
keinster Weise Yiza, sondern nur den Wünschen der Frau. Ihre Sachen
– ihre Sprache – ihre Regeln. Natürlich, ließe sich einwenden,
konnte es für ein Kind auf der Straße nicht ohne größere Schäden
so weitergehen. Aber ein unpassendes Leben gegen ein anderes
unpassendes tauschen?
Ist das eine wünschenswerte Rettung?
Ich erlebe bisweilen, dass sich
Nichtchristen den Himmel so vorstellen wie die vereinnahmende Rettung
im Buch – und dann mit Ablehnung reagieren. "Der Himmel, das
wäre nichts für mich!", heißt es dann. Unendlich lange
Langeweile und eine Art aufgezwungenes und selbstentfremdendes Glück
erdenken sich manche.
Nichts wäre weiter entfernt vom
christlichen Denken als das. Gottes Sprache lernen, heißt die Liebe
zu lernen – denn "Gott ist die Liebe" (1Joh 3,15).
Und die ist für Menschen per se keine Fremdsprache. Dazu kommt:
Liebe setzt frei und nimmt nicht in Besitz.
Paulus nutzt auch die Bildwelt von
Samenkorn und Pflanze, wenn er vom neuen Leben spricht – bei Gott
wird das entfaltet, was sowieso schon in uns da ist.
"Was du säst, hat noch nicht
die Gestalt, die entstehen wird; es ist nur ein nacktes Samenkorn,
zum Beispiel ein Weizenkorn oder ein anderes." (1Kor 15,37)
Aber die Pointe des Paulus geht noch in
eine andere Richtung: das neue Leben ist zugleich ganz unvorstellbar
anders als alles, was wir auf Erden kennen. Die antike und
mittelalterliche Bildwelt, die auch die Vorstellungen Nichtgläubiger
vom Himmel heute noch weitgehend bestimmen, ist viel zu vorstellbar
und konkret für das Denken des Neuen Testaments und vor allem des
Paulus. Dessen Rede vom neuen Leben nach der Auferstehung ist zurückhaltend und fast schon puritanisch.
"Was gesät wird, ist verweslich, was auferweckt wird,
unverweslich. Was gesät wird, ist armselig, was auferweckt wird,
herrlich. Was gesät wird, ist schwach, was auferweckt wird, ist
stark. Gesät wird ein irdischer Leib, auferweckt ein überirdischer
Leib. Wenn es einen irdischen Leib gibt, gibt es auch einen
überirdischen." (1Kor 15,42ff)
Im Sinne des oben Angedeuteten: Es gibt
eine Kontinuität, also die "Frucht" unseres Lebens auf
Erden – aber eine noch viel größere Diskontinuität, also die
freie und kreative Tat Gottes, zwischen altem und neuem Leben. Viel
weiter geht Paulus nicht.
Und da Gott uns, ebenfalls nach Paulus,
zur Freiheit beruft (Gal 5,13), lässt sich einstweilen sagen, dass
das neue Leben, das Gott verspricht, Liebe, Freiheit und
Kontinuität-Diskontinuität bedeutet.
Die vereinnahmende Retterin Renate
allerdings wird am Ende des Buches niedergeschlagen – ihre
Beseitigung erst ist der Schritt in die wirkliche Freiheit und in das
wirklich neue Leben. Die Parallelen zum modernen Atheismus liegen nah
– aber zum Glück ist Gott ganz anders.
Befreiung und Bequemlichkeit. Matratzenrest. Rixdorf, Berlin, 2016. |
1 M.
Köhlmeier, Das Mädchen mit dem Fingerhut. München 2016, 124f.